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Ganz du selbst

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19.06.2002
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Ganz du selbst

„Du bist ein blödes Schwein“, sagte er.
Der Andere schaute ihn ungerührt an. „Ich weiß“, erwiderte er lakonisch, „und das weißt du.“
„Ja“, antwortete er und ließ seinen Kopf resigniert sinken.

„Worüber regst du dich auf?“ fragte der Andere.
Er überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete: „Vielleicht habe ich nicht erwartet, dich zu treffen.“
Der Andere lachte laut auf. „Du hast es nicht erwartet? Vergiss es! Du hast es erwartet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir aufeinander treffen.“
Er blickte noch immer zu Boden. Versonnen. Abwesend. „Vermutlich. Aber ich hätte nicht erwartet, dass du...“
„Was?“ unterbrach Der Andere forsch. „Dass ich meinen Lebensunterhalt auf diese Weise bestreite? Dass ich diese Klamotten trage? Dass ich so rede, wie ich rede? Was?“
Er dachte angestrengt nach. Schließlich antwortete er zögerlich: „Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es“, sagte der Andere bestimmt.

Er stand auf.
„Du musst pinkeln“, stellte Der Andere nüchtern fest.
Er verkniff sich jeden Kommentar. Der Andere hatte Recht. Wieder einmal. Er ging zur Toilette und verrichtete sein Geschäft. Der Andere plapperte derweil munter weiter.
„Du musst immer pinkeln, wenn du Bier säufst. Hey, wir kennen das doch, nicht wahr?“
„Leck mich am Arsch!“
„Nein. Dein Arsch ist schmutzig.“
Er stürmte aus der Toilette. „Nun mach aber mal einen Punkt!“ schrie er.
„Weswegen?“ antwortete Der Andere gelassen. „Ist es nicht so?“
„Verdammt, nein!“ brüllte er mit hochrotem Kopf zurück.
Zum ersten Mal an diesem Abend wirkte der Andere verwirrt. „Merkwürdig. Eigentlich sollte dein Arsch schmutzig sein. Du bist faul. Zu faul, dir die Ritze sauber auszuwischen.“
Ein Hauch des Triumphs überzog sein Gesicht. „Falsch gedacht, mein Lieber“, hauchte er, „in diesem Punkt unterscheiden wir uns.“
Der Andere streifte lässig die Asche seiner Zigarette am Aschenbecher ab. Dann ließ Der Andere ein süffisantes Grinsen aufblitzen. „Nein“, meinte Der Andere spöttisch, „in diesem Punkt unterscheiden wir uns eben nicht. Du hast eben nur noch nicht die schmutzige Seite an dir entdeckt. Aber das kommt noch.“

Seine Geduld war erschöpft.
Aus.
Vorbei.
Er brüllte: „Es reicht! Verpiss dich hier, sonst hau ich dir dermaßen eine auf die Fresse...“
Der Andere blieb gelassen. „Was hast du ausprobiert?“ fragte er. „Kickboxen? Karate? Tae Kwon Do? Kenjukate? Judo? Scheiße, Mann! Vergiss es einfach. Meine Reaktion ist ebenso gut wie deine. Und was diese ganze Kampf-Scheiße angeht: Ich kenne mich damit aus. Eigentlich dürfte es deiner Natur entsprechen, in Deckung zu bleiben und auf einen guten Konter zu hoffen. Ich hingegen habe insbesondere die Angriffstechniken trainiert. Ich würde dich plattmachen, bevor du auch nur die Hand heben könntest. Und – lass mich raten – du würdest den Kampf mit irgendeiner idiotisch hohen Beintechnik beginnen, um mich möglichst schnell auszuschalten.“
Er stutzte. „Vielleicht“, meinte er. „Vielleicht würde ich auch eine andere Taktik anwenden.“
Der Andere grinste breit. „Meinst du wirklich, du könntest mir ein Ding verpassen? Meinst du nicht, ich würde ahnen, was du planst?“
Er wandte sich ab. „Natürlich würdest du es ahnen“, räumte er ein.

Der Andere richtete sich auf und blickte ihn verstohlen an. „Ich habe jemanden gekillt.“
Er starrte Den Anderen fassungslos an. „Kein Scheiß?“
„Kein Scheiß.“
„Wie? Warum?“
Nun starrte Der Andere ins Leere. „Er war mir zu ähnlich. Ich hab ihn abgeknallt. Bumm! Einfach so. Das mache ich immer so.“
Er starrte Den Anderen fassungslos an. „Das kann nicht sein! Ich würde niemals jemanden erschießen. Aus welchem Grund auch immer“, rief er aus.
„Oh doch, das würdest du“, antwortete Der Andere ungerührt. „Wenn du nur im richtigen Umfeld aufgewachsen wärst, dann würdest du das tun.“
Er war perplex.
Ratlos.
„Das... das ist unmöglich...“ stotterte er. „Das ist...“ Er verstummte und ließ sich schwer in seinen Lieblingssessel fallen. Wenigstens diesen hatte ihm Der Andere gelassen.
„Hör zu“, forderte Der Andere, „ich muss für eine Weile untertauchen. Die Bullen würden mich an meiner Tätowierung erkennen. Kann ich heute Nacht hierbleiben?“
Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Sie werden dich zuallererst hier suchen.“
„Das glaube ich nicht. Es wäre zu... zu naheliegend“, antwortete Der Andere. „Außerdem lasse ich dir keine andere Wahl.“
Der Andere griff in die Tasche seiner Bomberjacke und zog eine gefährlich aussehende Pistole hervor.
„Glock 17“, erklärte er. „Neun Millimeter. Geiles Gerät.“
Er blickte erschrocken von der Pistole zu Dem Anderen und wieder zurück. „Das würdest du nicht...“
„Ich würde“, entgegnete Der Andere. „Du weißt, dass ich es tun würde. Es würde sogar ins Bild passen. Kann ich nun hier pennen oder nicht?“

Etwas später lag er in der Dunkelheit neben Dem Anderen. An Schlaf war nicht zu denken. Er lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit.
„Fass mich an“, sagte Der Andere plötzlich.
„Was?“ entgegnete er konsterniert.
„Na, fass mich an. So, wie du es magst.“
Er rollte blitzartig auf die Seite. „Spinnst du?“ fragte er fassungslos.
„Nein“, antwortete Der Andere entnervt. „Mach schon. Du weißt doch, wie es geil ist. Alla hopp, fass mich an.“
Er sprang hektisch aus dem Bett. „Auf keinen Fall“, rief er aus.
Der Andere wälzte sich langsam herum. „Was ist los mit dir? Sei doch einfach du selbst.“
Er taumelte zurück, bis er die Kante des Couchtisches an seinen Beinen spürte. Dann tastete er in der Dunkelheit auf dem Tisch umher, bis seine Fingerspitzen das kalte Metall der Pistole berührten, die Der Andere auf dem Couchtisch abgelegt hatte. Er riss die Waffe an sich, wich noch ein Stück zurück und betätigte den Lichtschalter.
Dann richtete er die Waffe auf Den Anderen.
Der Andere schien nicht überrascht.
„Aha, es ist soweit“, meinte er lässig. „Dann mal los. Du oder ich.“
Er zielte angestrengt. Gedanken schossen durch seinen Kopf. War die Waffe durchgeladen? War sie entsichert? Er kannte sich mit diesen Dingen nicht aus.
„Fertiggeladen und entsichtert“, sagte Der Andere in diesem Moment. „Du musst nur noch den Abzug durchziehen. Aber feste, denn das Ding hat vier Kilo Abzugsdruck.“

Er starrte Den Anderen über Kimme und Korn hinweg an. Und er erkannte das Potential, das in ihm ruhte. Die Gefühle, die er so lange unterdrückt hatte. Die Lüste, die so lange unentdeckt in ihm schlummerte.
Er wusste, was er zu tun hatte.
Er musste einfach nur er selbst sein, bevor er sich in das Ebenbild Des Anderen verwandelte.
Er drückte die Mündung der Pistole mit einer entschlossenen Bewegung an seine Schläfe.
Er und Der Andere... für einen Augenblick lächelten sie sich an.
Dann krümmte er seinen Zeigefinger ab, bis der Schuss brach.

Der Knall war ohrenbetäubend. Der Andere verzog schmerzhaft das Gesicht. Glücklicherweise waren seine Trommelfelle aber intakt geblieben.
Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hatte erhob sich Der Andere und stapfte zur Garderobe. Dort zog er ein Notizbuch aus seiner Jacke und blätterte es auf.
Das Notizbuch enthielt eine Liste von Namen. Alle waren durchgestrichen, bis auf einen. Der Andere fingerte aus einer Jacke einen Kugelschreiber hervor und strich damit auch den letzten Namen aus. Dann verstaute er die Utensilien wieder in seiner Jacke.
„Das war’s“, murmelte er, als er wieder zum Bett ging, „endlich wieder alleine. Oder vielleicht auch nicht.“
Er ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken.
„Papa wird mir morgen verraten, ob es noch weitere Klone gibt. Oder Mama. Ich werde euch einmal besuchen...“

 

Moin Käptn,

Auch diese deine Geschichte hat mir gefallen. Eine sehr gute Grundidee, die du hervorragend umgesetzt hast. Hat mich ein wenig an Fight Club erinnert - besonders die Stelle, an der Er sich erschießt.
Ein fast reiner Dialog, in dem du beiden Protagonisten keine Namen oder sonstige besondere Eigenschaften gegeben hast (so was mag ich ;)). Das macht es dem Leser möglich, sich hundertprozentig in die beiden hineinzuversetzen. So eine Sache könnte wirklich theoretisch jedem passieren. Die Pointe mit dem Schlußsatz setzt dem die Krone auf. "Mal schauen, ob es noch weitere Klone gibt - ich werde euch mal besuchen..."
Dadurch erreichst du, daß der Leser in die Geschichte involviert wird. Was, wenn er selber auch so einen Klon hätte?

Handwerklich gesehen ist die Geschichte auch gelungen. Fehler hab ich beim Lesen keine gefunden und man kann dem Dialog sehr gut folgen. Er ist plausibel und man weiß immer, wer gerade spricht. Dazu trägt auch und vor allem der recht vulgäre Ausdrucksstil des Anderen bei, der hier wirklich passend ist.

Ich habe nur nicht wirklich verstanden, warum Er sich letztlich umgebracht hat. Du sprichst an dieser Stelle von unterdrückten Gefühlen. Also sehnt er sich, tot zu sein? Warum? Da würde ich mir noch eine etwas klarere Intention im Text wünschen.

Aber insgesamt eine wirklich gelungene Geschichte.

 

Hallo gnoebel,

vielen Dank für Lob & Anregung. Blöderweise komme ich erst heute dazu, auf dein Posting zu antworten.

Deinen Tipp habe ich in Gedanken einmal abgewogen und musste feststellen, dass du Recht hast: Es kam tatsächlich nicht klar heraus, weswegen Der Eine die Waffe gegen sich selbst richtet. Ich dachte: 'Ist doch klar: Er will nicht so werden wie sein Klon.'
Gut gedacht, aber dummerweise nicht geschrieben... :rolleyes:

Tja, und das habe ich nun nachgeholt. Vielleicht kommt es nun etwas besser rüber.

Noch mal thx für die Anmerkungen, und schön, dass dir die Story gefällt (war übrigens ein echter Schnellschuss).

 

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