Gang ohne Ausgang
Ich gehe, und gehe weiter. Schon einhundertsiebenundsechzigtausendzweihundertfünfundzwanzig Stunden Türen, und kein Ende in Sicht. Eine reiht sich an die Nächste, die ihrerseits wieder eine Nachfolgetür hat. Wohin ich auch schaue. Überall nichts als Türen. Links und rechts und oben und unten und vorne und hinten und über die dritte Dimension hinaus. Stehe ich auf dem Kopf, oder laufe ich den Wänden entlang? Ich weiss es nicht. Die Gesetze der Schwerkraft haben hier keine Bedeutung. Ich schwebe, offensichtlich schwerelos, in einer Seifenblase, welche zugleich Schutzhülle und Gefängnis ist.
So unschuldig schaut es aus. So leicht scheint es. So schwer ist es. Das künstliche Licht, die Haltlosigkeit, die Tatsache, dass meine Schritte keine Geräusche machen, keine Spuren hinterlassen, ich keinen Hunger und keine Müdigkeit fühle.
Ich sehne mich nach Honigbroten, und dem frischen und süssen Luftduft nach einem Sommergewitter. Ich möchte im Tram sitzen, und zuhören, wie die Leute sich nichts zu sagen haben. Überhaupt möchte ich mich einfach mal wieder setzen, und fühlen, wie das Leben an mir vorüberzieht, anstatt nur selbst am Leben vorüberzuziehen.
Und ich laufe weiter.
Und all das sind bloss Erinnerungen, die, je weiter ich laufe, immer blasser werden, und schliesslich allesamt verschwinden, im Nichts, das sie erschuf, in das sie wieder absinken werden, für die Ewigkeit, und selbst wenn ich wollte, wäre ich machtlos dagegen. Vergangene Zeiten. Was ist schon Zeit? Zeit spielt keine Rolle mehr. Die Zeit steht still, und ich gehe trotzdem weiter. Linker Fuss, rechter Fuss, linker Fuss, rechter Fuss, wie eine Maschine. Mein Körper führt aus. Und ich weiss nicht wer befiehlt.
Im Gang der abertausend Türen. Allein durch ihre Präsenz wirken sie erschlagend. In der Ferne werden sie immer kleiner und kleiner und kleiner, bis sie am Horizont im Fluchtpunkt miteinander verschmelzen, und wieder in der unkenntlichen Unendlichkeit untergehen, aus der sie gekommen sind.
Und ich gehe, und gehe weiter. Komme mir vor wie im Zug. Wie ein Passagier. Die Türen sind scheinbar in Bewegung, dabei bin ich es, der geht. Sie sind mit Bleistift gezeichnet. Alles hier ist mit Bleistift gezeichnet. Ausser ich. Erst waren es lustige Türen. Jede sah anders aus. Hatte einen eigenen Charakter. Weckte meine Neugier. Doch jetzt werden sie immer einheitlicher. Und sind bald bloss noch dünne, gerade und vor allem klare Linien.
Dahinter ist es laut. Der Lärm kommt nirgendwo her, und ist überall, windet sich durch meine Gehörgänge, wird in meinem Gehirn in seine Grundelemente zerlegt, ausgewertet, und schliesslich durch meine Vorstellungskraft auf ein Bild reduziert, welches ich konsumiere.
Das Bild ist zunächst noch verschwommen, gewinnt aber rasch an Schärfe, und zeigt schliesslich eine breite Strasse. Sie zieht sich kilometerweit durch gigantische Häuserschluchten, die so hoch aufgetürmt sind, dass man den Himmel kaum mehr erkennen kann, und immer wieder wird sie von diagonal zu ihr liegenden Seitenstrassen geschnitten, welche sich nicht von der Ersten unterscheiden lassen. Das Ganze wirkt so bedrohlich, dass sogar die gelblichen Fussgängerstreifen und die nach einem streng geregelten, städteplanerisch und mathematisch gut durchdachten Ablauf die Farbe wechselnden Ampeln,. fröhlich erscheinen.
Die Strasse ist von einer immerwährenden Blechlawine verstopft. Autos aller Klassen, Stossstange an Stossstange, bis zum Horizont - wo sicher auch sie im Fluchtpunkt miteinander verschmelzen - von Menschen erfunden, die nach grenzenloser Freiheit strebten, und nun im Stau stehen.
Ich sehe sie vor mir, diese Tyrannen, Könige der Strassen, von Gott im Himmel dazu auserkoren, den Fahrradfahrern das Leben zur Hölle zu machen. Glückliche Hausmänner und ehrgeizige Karrierefrauen, die ihr nettes Rund-um-die-Uhr-Lächeln zu einer hässlich grinsenden Fratze verziehen, sobald sie sich hinter das Steuer setzen, und sich zu Sklaven der Mobilität machen.
Die Motoren summen gleichmässig, unschuldig, und ich werde schläfrig, lächle, und gehe weiter und weiter und weiter, ohne Erinnerung an einen Eingang, und ohne Hoffnung auf einen Ausgang.
Die kreischende Stimme eines Verkehrspolizisten lässt mich plötzlich zusammenzucken. Mit einem Mal scheint er hinter jeder einzelnen Tür zu stehen. Schreckliche Erinnerungen werden wachgerufen: Verkehrspolizisten! Sie haben es genauso wie die Automobilisten auf die Fahrradfahrer abgesehen. In ihrer grauen Uniform stehen sie an irgendeiner grauen Hauswand, gehen darin unter, liegen auf der Lauer, bis du mit dem Fahrrad vorbeiflüchtest, von den Autos zum ganz normalen Wahnsinn gebracht, ein Rotlicht ignorierst, damit gegen Verkehrsregeln und Strassengesetzbuch verstösst, und treten dann aus ihrem Versteck heraus, heben vorwurfsvoll den Mahnfinger, blicken fast väterlich auf dich herab, labbern irgendetwas von Vorschriften, bis dir fast schwindlig wird, zücken genussvoll ihren Stift, kritzeln in unleserlicher Schrift einige Sätze auf einen weiss leuchtenden Strafzettel, auf dem das selbe Logo prangt wie auf der rechten Brusttasche ihrer grauen Jacken, halten dir schliesslich das Papier vor die Augen, warten bis du checkst was vor sich geht, und streichen ein paar Geldscheine ein, bevor sie sich wieder in die Anonymität der nächsten Hauswand zurückziehen, um auf ihr nächstes Opfer zu warten.
Doch uns trennt eine Tür. Uns trennen alle Türen. Heute bin nicht ich sein Opfer. Mitleidig und schadenfreudig denke ich an den armen Radfahrer, der vor dem Ordnungshüter steht, wie der Atheist vor dem Priester, dessen Moralpredigt über sich ergehen lässt, und sich dabei in Selbstmitleid badet, um sich reinzuwaschen.
Oder bin vielleicht doch ich sein Opfer, auf noch viel hinterhältigere und subtilere Art und Weise?
Ich versuche, die Stimme des Verkehrspolizisten zu ignorieren, doch sie ist laut und schrill, und ist überall. Ich versuche zu entkommen und gehe schneller. Endlich höre ich bloss noch ein gleichmässiges Pfeifen. Schrecklich genug.
Und noch immer reiht sich eine Tür an die Nächste. Und noch immer ist kein Ende in Sicht. Doch die Türen verändern sich. Langsam aber stetig. Sie werden schwerer, sind mit mehreren Schlössern gesichert. Ausserdem haben sie ein kleines Schiebefenster.
Das Pfeifen geht schliesslich im Geschrei einer aufgebrachten Meute junger Aktivisten mit hehren Idealen unter. Sie haben gemerkt, dass irgendetwas falsch läuft - wahrscheinlich, dass es zu viele Autos und zu viele Verkehrspolizisten gibt - und gehen deshalb auf die Strasse, mit verfilzten Haaren, zerschlissenen Kleidern, schwarzen Masken, oder ganz einfach mit bunten Transparenten.
Zuerst schreien sie alle durcheinander, rotten sich dann aber zusammen, wählen einen Wortführer, welcher die Parolen auf ein paar Schlagwörter reduziert. Im Chor brüllen sie diese dann immer wieder und wieder, bis sie sie selbst nicht mehr hören können, vom Staat, vom System, aber noch immer nicht erhört worden sind, suchen verzweifelt nach noch schlagkräftigeren Argumenten, und beginnen Multinationlefastfood-kettenfensterscheiben einzuschlagen, und Autos in Brand zu stecken.
Die Automobillobby, das System, will diesen Tumult natürlich nicht dulden, bedient sich der Verkehrspolizisten, rüstet sie mit Plexiglasschildern, Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Gaspistolen aus, und weist sie an die Demonstranten zu stoppen.
Die Verkehrspolizisten, die sich nun Sondereinheiten nennen, sind überfordert, und schlagen wahllos auf Linksanarchisten, Punks, Kommunisten, Rebellen, Pazifisten, Missionare, Krawalltouristen, Hippies, Mütter und Söhne ein, stürmen das Pressezentrum der Bewegung, verhaften einige Journalisten, beschlagnahmen Filmmaterial, zerstören die Einrichtungen, und alles im Namen von Freiheit und Demokratie, für Recht und Gesetz, dass sie durch ihr Vorgehen übergehen, und gleich selbst ausser Kraft setzen, dann nicht mehr wissen, wie sie ihre Tat rechtfertigen sollen, sehen nur noch einen Ausweg, um ihre Position halten zu können, klopfen beim Weltpolizisten an, bitten ihn um Unterstützung, und bilden einen Schnüffelstaat, nachher einen Polizeistaat.
Wutschreie, werden zu Angstschreien, werden zu Schmerzensschreien. Dann wird es plötzlich ruhig, zu ruhig.
Und einmal mehr hat die Polizei ihre eigentliche Aufgabe wahrgenommen und hat die armen, schwachen Reichen verteidigt. Die armen, schwachen Reichen verteidigt. Die armen, schwachen Reichen verteidigt.
Nun bin ich froh, dass ich von meiner Seifenblase geschützt werde. Ich bekomme Angst, und beginne zu laufen.
Meine Beine schmerzen. Jeder Schritt ist Qual, und doch darf ich, kann ich, will ich nicht stehen bleiben. Was soll das Ganze? Wo bin ich? Was tue ich hier? Warum gibt es immer neue Türen? Bin ich Opfer meiner Phantasie? Bin ich? Spinn ich? Leb ich meine Träume? Meine Alpträume? Oder bin ich endlich aufgewacht? Ist das die Wirklichkeit? Bin ich Gefangener der Gegenwart?
Fast so viele Fragen, wie Türen. Alle verschlossen.
Die Ungewissheit macht mir zu schaffen. Denn Kerkertürenabschnitt habe ich scheinbar hinter mir gelassen und sehe mich nun von schlichten Holztüren umgeben. Sie stehen sehr nahe beisammen. Falls dahinter Zimmer liegen sollten, müssen sie wirklich schmal sein. Schlauchzimmer. Diese Türen erinnern mich an Bürotüren. Es ist kühler hier. Ich fröstle.
Und es bleibt ruhig. Ich höre nur das nervöse Kritzeln von Bleistiften. Ununterbrochen. Das ist alles. Doch es ist überall. Und noch dominanter als die Stimme des Verkehrspolizisten. Ein Flüstern. Eine Verschwörung. Hinter jeder Tür. Im ganzen Gang. Schleicht mir unter die Haut. Ich friere nun. Mein Kopf beginnt sich langsam zu drehen. Mein Verstand wird aus den Angeln gehoben. Ich werde wahnsinnig. Dieses ewige Gekritzel. Es wird geschrieben, entschuldigt, revidiert, und wieder neu geschrieben!
Weihnachtskarten, Briefe, Rundschreiben, Rechnungen, Mahnungen, Ankündigungen, Informationen, Zensuren, Falschmeldungen, Propaganda, Notverordnungen, Verordnungen, Gesetze! Damit könnte man problemlos jeden Tag eine Papierstrasse von hier nach Nowosibirsk bauen, oder die ganze Weltbevölkerung mit Toilettenpapier eindecken.
Eine Administration! Das Herz des Staates. Gross, behäbig und undurchsichtig.
Tausende von Schreiberlingen müssen hier arbeiten. Ich versuche sie mir vorzustellen. Beamte, die ohne Ambitionen jeden Tag in ihr schmales Büro kriechen. Mit Kündigungsschutz, lebenslänglich. Sassen schon da bevor man sie in irgendeiner Statistik erfasst hat, und gehören ebenso zum Erscheinungsbild des Landes, wie Fremdarbeiter, Uhren, Schokolade, heile Welt und schmutziges Geld.
Braune Krawatte mit einem viel zu kleinen Knopf. Rechter Scheitel. Zuhause eine Frau. Sie kocht gut und bügelt exakt. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Beide über fünfundzwanzig, leben aber noch immer zuhause. Strafregistereintragung haben sie keine, selbstverständlich. Drogen konsumieren sie nur auswärts. Der Hund fehlt natürlich auch nicht. Ein kleiner Dackel, der laut bellen kann. Perfekte kleine Welt im Einwegeinfamilienhaus an der General-Guisan-Strasse. Mit beikrautbefreitem Garten und einer Garage. Darin stehen das Fahrrad vom Vater, sowie die beiden Kleinwagen der Kinder.
Eine Bilderbuchfamilie. Paradebeispiel der Vorstadtgartenhochkulturgesellschaft des Landes.
Scheinbar harmlos gehen sie jeden Tag zur Arbeit. Setzen sie sich hinter ihren Schreibtisch. Verschanzen sich hinter Papierbergen. Nehmen den Bleistift zur Hand. Und werden zu erbarmungslosen Papiertigern. Zu Monstern. Sie sind noch schrecklicher als Durchschnittsbürger hinter dem Lenkrad, oder zu Sondereinheiten aufgerüstet Verkehrspolizisten.
Und sie schreiben. Ich halte mir die Ohren zu. Es hilft nicht. Nichts hilft. Ich kann nicht entkommen. Mir ist als würden sie mir ihre Texte direkt ins Gehirn einritzen. Gesetze werden umgeschrieben. Das Vorgehen der Polizei wird gerechtfertigt. Sie erhält Immunität. Man ist schliesslich unter Beamten. Da hilft man sich. Man nimmt Abschied vom freiheitlichen Sozialstaat. Weniger Staatsektor. Mehr Polizei. Mehr Repression. Mehr Automobillobby. Mehr Freiheit.
Und von mir aus könnten sie tun was sie wollten, wenn sie bloss mit diesem Gekritzel aufhören würden!
Weit hinten im Gang werden die Türen nun pompöser und eleganter. Sie stehen weit auseinander. Haben zwei grosse Flügel. Sind reich verziert. Doch eigentlich sind sie gar nicht da. Ich erahne sie bloss. Und sie werden immer grösser. Und ich werde immer kleiner.
Es ist nun still. Absolut still. Ich müsste meinen Atem. Ich höre nichts.
Die Stille wird immer lauter. Keine Motorengeräusche. Kein Verkehrspolizist. Keine Schreie. Kein Gekritzel. Kein Ton. Kein Lebenszeichen. Kein Leben. Nur Gespenster. Adam Smiths „Goldene Hand“. Unsichtbar. Und doch klar zu erkennen. Kalt. Allgegenwärtig. Kein Entkommen. Lockrufe. Liebkosungen. Versprechungen. Gleichgewicht des Marktes. Diktatur des Kapitals. Das Recht des Stärkeren. Die Vernunft der Automobillobby. New Economy. Rechtsanarchie.
Ich schreie. Und ich höre nichts. Die Kälte schnürt mir langsam die Kehle zu. Und die Stille wird noch lauter.
Panik. Ich renne. Türen ohne Ende. Immer noch grösser. Ich immer noch kleiner. Wo bin ich? Verloren. Hab mich verloren. Nebelschwadenbilderkopf. Und mein Kopf dreht sich noch immer und immer schneller. Schraubt sich langsam aus meinem Körper heraus. Fieberwahn. Und diese Kälte. Ist das die Hölle? Das ist die Hölle. Die Hölle! Der Gang ist tot. Leblos. Nur mein Kopf dreht sich weiter. Und mein Körper löst sich. Und sackt in sich zusammen. Und löst sich auf. Und verschwindet.
Die Seifenblase zerplatzt. Doch der Kopf dreht weiter und dreht und fällt. Tiefer. Schneller. Tiefer. Schneller. Tiefer. Schneller. Dem Fluchtpunkt entgegen. Ins Nichts.
Und ich wache auf.
Und ich wache auf. Und es ist alles so wie immer, und nichts wie bisher. Und ich weiss, es wird nie mehr so sein.
Und ich suche nach einem Ausgang. Einer offenen Türe. Einer Antwort. Im Gang ohne Ausgang.
November 2001