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Gang in der Dunkelheit

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10.11.2001
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Gang in der Dunkelheit

Gang in der Dunkelheit


Tock,tock,tock. Der lange, weisse Stock sprang in schnellen Sprüngen von links nach rechts und zeigte der zierlichen Frau, die ihn locker in der Hand hielt, vorhandene Hindernisse an. Ping! Der Stock war gegen etwas Metallenes gestossen. Langsam, mit weit von sich gestreckten Händen ging die junge Frau langsam auf den Gegenstand zu und fing an, ihn mit routinierten, feingliedrigen Fingern abzutasten. Ein Lächeln, das ihre strahlend weissen Zähne zum Vorschein brachte, zeigte, dass sie die Parkuhr als eine solche erkannt hatte. Mit einer geübten Bewegung nahm sie den dünnen Stock, welcher an ihrem rechten Bein gelehnt war, wieder auf und marschierte mit raschen, aber wachsamen Schritten weiter - der glatten Hauswand entlang. An deren Ende bog sie, den Stock schnell am Boden vor sich her schlagend, um die Ecke. Poing! „Aua, was ist denn das?“

Mit der rechten Hand die schmerzende Stelle reibend, mit der linken die Ursache des Schmerzes suchend, stand die hübsche Frau vor einer Baustelle und befühlte ein tiefhängendes Warnschild .“Tja, wenn es hier nicht weitergeht, werde ich mir halt einen anderen Weg zum Bahnhof suchen müssen“, sagte sie leise zu sich und tastete sich langsam die Absperrung entlang. Doch als diese plötzlich zu Ende war, stand die nun doch etwas verunsicherte Frau orientierungslos, nur mit ihrem immer noch stark ausschlagenden Stock inmitten einer Senke, die links und rechts von brüllenden Baggern umgeben war, deren spitze Zähne sich immer wieder fest in den Erdboden krallten und ihn erbarmungslos, ohne auf sein Stöhnen und Ächzen zu achten, aufrissen und die überflüssigen Teile achtlos auf einen grossen Haufen warfen. Sie wusste weder vor noch zurück und durch den tosenden Lärm , den die Maschinen verursachten, waren keine anderen Geräusche von ihr zur Neuorientierung auszumachen. Behutsam und mit ängstlichen Schritten wagte sich die junge Frau einige Schritte weiter nach vor, als sie plötzlich über etwas Hartes stolperte und zu Boden fiel. Sie spürte einen pochenden Schmerz in ihrem rechten Handgelenk und obwohl sie sich zurückhalten wollte, strömten ihr heisse Tränen über das reine Gesicht.
Langsam und leise schluchzend zog sie ihre Knie an die Brust, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und sass so nun in Embryostellung - lautlos weinend - sich selbst hin und her wiegend auf der staubigen Erde und versuchte, sich an einen glücklichen Moment in ihrem Leben zu erinnern, um die grosse Angst, die sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte, zu verdrängen. Doch halt! Kamen da nicht Schritte auf sie zu? Hoffnungsvoll hob sie ihren Kopf und drehte ihn in die Richtung, aus der die vermeindlichen Geräusche zu kommen schienen.

„Verzeihung, ich bin gestürzt ,wären sie wohl so nett und würden mir den Weg zur anderen Strassenseite zeigen?“, fragte sie mit zitternden Stimme in die Dunkelheit. „Was? Warum denn? Du passt doch sehr gut auf den Boden. Dreck zu Dreck. Wie es sich gehört!“, sagte eine tiefe, raue Stimme und das Einzige, was von ihm bei ihr blieb, war der scharfe, beissende Geruch nach Schweiss und eingefettetem Leder.

Geschockt und völlig verschüchtert versuchte die Frau, deren einst so glattes Gesicht nun zu einer ängstlichen Grimasse verzogen war, sich alleine aufzurichten. Doch als sie sich gerade aus der Hocke erheben wollte, verlor sie das Gleichgewicht und taumelte nach hinten. Ihr linker Fuss trat ins Lehre und als sich ihr Mund gerade zu einem lauten Schrei öffnete, packte sie eine starke Hand an ihrem Unterarm und zog sie sachte nach vorne. “Schon gut. Ich hab‘ sie, keine Angst, ich bring‘ sie sicher aus dieser Baustelle raus.“ Die weiche, melodisch klingende Stimme gehörte einem grossen, schwarzen Mann, der die kalte Hand der noch immer schluchzenden Frau behutsam in seine angenehm warme Hand nahm und sie so auf die andere Strassenseite brachte.

Dort angekommen, bedankte sich die junge Frau, deren Stimme nun wieder etwas fester und gefasster klang, für seine spontane Hilfe, doch das Einzige, was ihr Retter sagte war: “Wir müssen doch zusammenhalten Schwester.“

Damit war das Thema für ihn erledigt, und nachdem er ihr den Weg zum Bahnhof erklärt hatte, verabschiedete er sich mit einer sanften Umarmung und ging mit grossen, leicht federnden Schritten in die andere Richtung davon.

Eine Weile stand sie noch an der selben Stelle, bevor sie sich stark genug fühlte, um weiterzugehen.
Allerdings war sie kaum 10 Minuten unterwegs, als sie eilige, immer näher auf sie zukommende Schritte, hörte. Auf einmal packte sie eine eisig starre Hand an ihrem Ellenbogen und zwang sie, stehenzubleiben. “Verzeihen Sie, junge Dame, ich habe sie vorher von meiner Wohnung aus auf der Baustelle herumirren sehen , aber als ich ihnen zu Hilfe eilen wollte, hatte sie schon dieser dicke Neger am Arm gepackt und hinausgeführt. Ich habe nun ein sehr schlechtes Gewissen, da ich ihnen zuerst zugesehen habe und erst realisierte , dass sie Hilfe brauchen, als sie schon fast in der Grube lagen. Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee oder Tee einladen? Als Wiedergutmachung sozusagen.“ Von dem Wortschwall, der auf sie einstürzte, völlig erschlagen, brachte die Frau im ersten Moment kein Wort über die Lippen. Aber da ihr die schmierige Stimme bekannt vorkam, fragte sie den reumütigen Unbekannten neugierig, ob sie sich nicht schon einmal begegnet seien. Worauf er rasch verneinte und sie eilig aufforderte, ihm zu folgen, er kenne da nämlich ein Café, welches die besten Capucchinos der Welt zubereite.

Als sie nun, eingehakt bei ihm, dicht neben ihm herging und er unablässig, mit einem hochmütigem Klang in der Stimme, von sich erzählte, wurde der zierlichen Frau schlagartig bewusst, woher sie diese ölige , harte Stimme und den beissenden Geruch von Leder und Schweiss , der von seiner Jacke ausging, kannte. Und als die enge Gasse, in die er sie geführt hatte, immer dunkler wurde und die Reflexion der Sonnenstrahlen auf seinen schweren Springerstiefeln langsam nachliess, wurde das Dröhnen in ihren Ohren immer lauter, doch bevor der langsam in ihr aufsteigende, laute , angstvolle Schrei den Weg nach draussen fand, kam schon eine Gruppe kahlrasierter Männer aus der Dunkelheit auf sie zu.

[Beitrag editiert von: Anna am 16.11.2001 um 21:19]

 

Sehr schöne Gesellschaftskritisierende Geschichte. :thumbsup:

Da sieht man mal wieder, wie schwer es Blinde haben.
Ist schon traurig, aber trotzdem super geschrieben!

 

Mit deiner Geschichte schneidest du ein Thema an, was in der heutigen Welt sehr dominant ist. Die Geschichte ist sehr gut geschrieben, und auch die Metaphorik ist gut gelungen!
mach weiter so

steffi

PS: merci für dini kritik bi miner gschicht!

 

Ich find die Geschichte einfach nur gut. 2 Themen sind in ihr vorhanden, erstens: Rassismus, zweitens: Wie schwer es Behinderte in der heutigen Welt haben.
Beide Themen sind sehr aktuell.

Eine Frage ist da noch: Gibt es eine Geschichte, die auch so einen ähnlicher Anfang hat, in der ein Schwarzer einer blinden schwarzen Frau hilft. Auch der Satz "Wir müssen doch zusammenhalten Schwester." kommt mir einfach bekannt vor, entweder spinn ich, oder ich habe schon mal eine ähnliche Geschichte gelesen.

 

Dankesehr Herr Patriarch

Also ich kenne keine Geschichte, die dich an meine erinnern könnte.
Vielleicht teilen wir die selben Gehirnstränge und du hast meine Gedanken beim Schreiben mitverfolgt.. :D

Der Satz mit der Schwester ist aber in der Tat eine sehr oft gebrauchte Vorgehensweise um die Verbundenheit der Schwarzen untereinander darzustellen.

Das ist aber auch das Einzige, was ich mir erlaubt habe zu "stehlen" :)

 

Hallo Paul
Deine Geschichte finde ich super geschrieben. Du konntest deine Gedanken gut in Worte fassen!!! Auch deine Metaphern waren gut! Vorallem wie du damit die verschiedenen Personen beschrieben hast!
Ehrlich gesagt, ich bin fasziniert von dieser Geschichte, denn dieses Thema beschäftigt viele Menschen.
Also, mach weiter so und du wirst mal ein bedeutender Autor!!!
Dana

 

ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen.
Eine wirklich sehr bewegende und gelungene Geschichte. Allerdings habe ich noch drei Fragen:
1. Warum stösst die Frau im ersten Teil deiner Geschichte ausgerechnet gegen eine Parkuhr?
2. Warum möchte sie zum Bahnhof?
3. Haben diese Begebenheiten keine Bedeutung
in deiner Geschichte und neige ich zur Überinterpretation?
P.S: vielen Dank für deine Kritik zum Nasenbohrer (keine war bis jetzt, vielleicht auch unbeabsichtigt, so zutreffend wie deine). Ich hoffe das Nachdenken hat dich zu einem Ergebnis gebracht und was ist eigentlich ein 'Grüsel'???????????

 

Hallo Paul

Du hast eine perfekte Geschichte geschrieben. Wie all deine anderen Texte, die ich bis jetzt hörte, war die Geschichte spannend und einfach gut.
Du hast über ein schwieriges Thema geschrieben und dies gemeistert.
Ich finde nichts schlechtes an deiner Geschichte.

Gruss Steffi

 

An Asparagus

Zu 1. Eine Parkuhr ist für mich sehr spannendes und aussagekräftig. Man verbindet mit ihr Zeit,Kälte(Eisen),Aerger und Abhängigkeit. All diese Assoziationen wollte ich in meine Geschichte einbringen und miteinander ein gesellschaftliches Problem darstellen.

Zu 2. Ein Blinder Mensch hat so seine Route, die er kennt und auch problemlos ohne Hilfe bewältigen kann.Also ist es nicht möglich das meine Protagonistin in ihrer gewohnten Umgebung ist, da sie ja sonnst die riesige Baustelle, die nicht plötzlich über nacht auftauchen kann, bemerkt hätte und sich einen anderen Weg zugelegt hätte.
==>Sie muss in einer fremden Stadt sein, Vielleicht hat sie eine Freundin besucht oder einen anderen Termin wargenommen.
Ich weiss es nicht und finde das die Tatsache, dass sie in einer fremden Umgebung ist auch ausreicht um die Geschichte zu verstehen.

Ein Grüsel ist übrignes ein Schweinchen oder ein liebgemeinter Ekel (ist Schweizerdeutsch)

 

Respekt!
Deine Geschichte finde ich wirklch stark!!Wie du die zwei sehr alltäglichen und zu wenig erwähnten Themen gemischt, aufgebaut und beschriben hast ist beinahe 1.klassig. Besonders gut finde ich auch die Personenbeschreibung: Der hilfsbereite schwarze Mann hat warme und der Rassist kalte Hände!!
Gefällt mir wirklich!! Und danke noch für deine Kritik! Mein Problem ist, dass ich 90% meiner Überlegungen dem Titel und nur 10% beim schreiben der Geschichte widme. Bei dir ist das umgekehrt!! mach weiter so!

 

sali Paul

Ich find die Geschichte sehr gut,sie ist spannend und regt am Schluss zum nachdenken an.
Auch Methaphorik könnte nicht besser sein.

MACH WEITER SO !!!

Gruessli
vo dr Irina und deren Besitzer
:)

 

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