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Gamma

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02.08.2016
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Gamma

Ich greife in meine Gesäßtasche, ziehe meine Geldbörse heraus und öffne sie mit beiden Händen. Vorsichtig, Verletzlichkeit von Schmetterlingsflügeln, die mikroskopisch kleine Schuppensammlung, hungrig, gierig den Betrachter zu entzücken. Mein Passbild grinst mich an. Ich bin nicht zufrieden. Diese andere Person, so fremd, so schön gescheitert in seiner Existenz. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. „Die Freudentränen des gescheiterten Ichs“. Zu pathetisch? Vielleicht.

In jeder Situation, die eine Authentifizierung durch dieses Stück Papier, eingeschweißt in Hartfolie, benötigt, treffen mich die Blicke und Fragezeichen des Prüfenden. Die erste Runde geht an mich. Geübte Abläufe, Arme nach oben, die Frage aus dem Raum dreschen. Doch es ist zwecklos. Wieder und wieder schießt das Ungewisse auf mich ein. Ein Bumerang mit unnachgiebiger Präzession und ungebändigtem Willen. Der Verteidigung müde, nehme ich eine weitere bluttropfende Nase in Kauf.

„Sie sind Frau Anne-Marie Kovac?“. Gelangweilter, routinierter Blick, kaum imstande die Oberfläche auch nur zu kaschieren.
Lieber hinweg oder hindurch. „Ja. Das bin ich.“. Ein Grunzen. „Sie sehen aber auf ihrem Bild anders aus. Ham se wat machen lassen?“. Mein Amygdala wärmt sich auf. Endlich wieder Auslauf. Ich höre die schwachgliedrigen Ketten rasseln, zu oft gespannt worden, zu oft der Raserei Stand gehalten. The Final Countdown. Ich schließe meine Augen, die Äpfel zucken unter den Lidern. Agil, hektisch wie geölte Kugellager auf Talfahrt, hektische Haarnadelkurven und steile Geraden. Der Mund öffnet sich, ich atme aus. Langsam, öffne die Augen.
„Ach, das wäre mir jetzt so nicht aufgefallen. Wie kommen Sie denn darauf?“. Der Mann am Schalter hebt eine Augenbraue. Zumindest denke ich, dass sie das ist. Zieht sie sich doch wie ein Fellwurm von Haaransatz zu Haaransatz. Ein enorm hässlicher Mann, aber in dieser Situation am längeren Hebel. Wie das des Öfteren so ist. Seine Lippen gleiten auseinander. Ein gutturales Wimmern leitet den nächsten Akt ein. Ich kann dem Impuls gerade noch widerstehen mich zu verbeugen.

„Sie sin‘ ne janz lustige, wah? Da.“ Er streckt einen Finger aus seinem fleischigen Fausthandschuh und drückt ihn, Fettflecken hinterlassend, auf meinen Personalausweiß. „Sie ham da noch Bart, meene Jute. Sie können allet versuchen, aber vereiern könnse den Piefke weiter rechts, ja?“.
Ich gucke nach rechts. Dort ist niemand.
„Ich bewundere Ihre Auffassungsgabe. Haben Sie das studiert?“. Erneuertes Gegrunze, gepaart mit dem Wiehern eines dem Tode geweihten Pferdes. Das sollte wohl Lachen sein. Mir wird schlecht.
„Nee, die Studierten, da jibt et jene und solche. Aber ick bin Handarbeiter. Ein Mann der Tat. Studieren tun doch eh nur die Dummen.“. Er streichelt unbewusst seinen Oberarm und seine Zungenspitze benetzt seine Lippen. Ich unterdrücke den Brechreiz, mein Zwerchfell rebelliert und mir entflieht ein galantes Hüsteln.
„Ach. Ja, wenn Sie das sagen. Könnte ich meinen Personalausweiß wieder haben?“. Seine Schweinsaugen hüpfen unruhig in den Höhlen und er schiebt mir mit neutraler, etwas dümmlicher Miene das Dokument herüber. „Passen se auf sich auf. Dit issn jefährliches Pflaster für Leute wie Sie.“
Ich bin schon umgekehrt und laufe dem Ausgang des Flughafens entgegen. Draußen angekommen greife ich in meine rechte Manteltasche, ziehe die filterlosen Zigaretten, die Papa immer rauchte, heraus und zünde sie an. Das Nikotin legt sich wie eine von Morpheus gewobene Decke über mich und meine Augen werden schwer, während ich da so stehe und dem nahenden Sonnenuntergang entgegenblicke. Eine kleine, verletzte Maus kriecht an meinem Schuh entlang, legt eine kurze Rast ein, bevor sie sich unter sichtlichen Qualen weiterzieht. Ich werfe die Zigarette auf den Boden.
Zwei schnelle Schritte. Ein gefährlicher Ort für Leute wie dich. Denke ich, erlöse das arme Tier von seinem Leid und mache mich auf den Weg in die Arbeit.

 

Hallo mikkel,
ein schöner, raffinierter Kurztext, wie ich finde. Geschickt in der Schwebe gehaltene Grundefrage, schön getroffen im ironischen Ton und sprachlich überraschend und originell in den Körperbildern. Zwei, drei Sachen irritieren mich vielleicht. Warum Papa auftauchen muss am Ende. Gut, sie ist jetzt Papas Liebling, als Er war er es möglicherweise nicht, oder er fühlte sich einfach nicht so. Und nun kann sie als Tochter ihm die Hommage erweisen und seine Marke paffen. Die Maus tut mir Leid, wenngleich es ein gelungenes Abschlussbild ist. Die leidende Maus, die möglicherweise sie als ehemaligen Ihn darstellt. Allerdings hat sie nicht die Chance auf ein zweites Leben nach einer Metamorphose. Den Beginn mit der Gesäßtasche fand ich ausgesprochen unangenehm kleidungstechnisch. Im Gesamten ist er aber verständlich, weil sich da schon die Ironie ausdrückt.
Schöner Anfang mit dem gelungenen Bild der Schmetterlingsflügel. Auch in der Syntax passend.
Präzision?

unnachgiebiger Präzession
Meine
Mein Amygdala
Tolles Bild:
wie geölte Kugellager auf Talfahrt
Ist mir unklar.
Fausthandschuh
Herzliche Grüße
rieger

 

Hi mikkel,

ja was soll ich sagen, gefällt mir. :)
Ich hab auch noch ein paar Anmerkungen für dich:

Ich greife in meine Gesäßtasche

Im Gegensatz zu rieger würde ich im allerersten Satz vom 'Gesäß' abraten. Später sehr gerne. Aber ganz am Anfang des Textes, wo ich noch nicht ahne, wie es weitergeht, kann jedes Wort, das irgendwie strange ist, bei mir zum Wegklicken führen.

Diese andere Person, so fremd, so schön gescheitert in seiner Existenz.

Die Person ist grammatikalisch femininum. Daher: "ihrer Existenz".

Der Verteidigung müde, nehme ich eine weitere bluttropfende Nase in Kauf.

Üblicherweise würde man eher "blutige Nase" sagen, oder?

Mein Amygdala wärmt sich auf.

Meine Amygdala, weil grammatikalisch femininum. Der Mandelkern wäre männlich, aber das steht da ja nicht. Ist jetzt aber Zufall, dass ich ständig am grammatikalischen Geschlecht rummeckere, oder vielleicht doch nicht? :D

Ich kann dem Impuls gerade noch widerstehen mich zu verbeugen.

Komma nach 'widerstehen'.

„Sie sin‘ ne janz lustige, wah? Da.“

Lustige würd ich groß schreiben. Ein substantiviertes Adjektiv.

Personalausweiß

Der schreibt sich am Ende mit S, kommt zweimal vor.

Eine kleine, verletzte Maus kriecht an meinem Schuh entlang

Schönes Bild.

Ein gefährlicher Ort für Leute wie dich. Denke ich, erlöse das arme Tier von seinem Leid und mache mich auf den Weg in die Arbeit.

Nach 'dich' würd ich mit Komma weitermachen. "Weg zur Arbeit", würde ich sagen.

Ich weiß nicht, ob der Beamte sooo berlinern muss. Dadurch wird er ins Lächerliche gezogen, das lenkt ab, darum geht es in dem Text ja gar nicht. Dasselbe Problem wird die Protagonistin auch mit Leuten habe, die Hochdeusch sprechen, wenn du verstehst, was ich meine.

Danke fürs Hochladen!
LG, Anne

 

Hallo Mikkel,

auch mir hat dein Text gut gefallen.
Aufgefallen ist mir:

Agil, hektisch wie geölte Kugellager auf Talfahrt, hektische Haarnadelkurven und steile Geraden. Der Mund öffnet sich, ich atme aus. Langsam, öffne die Augen.
Die Wortwiederholung "hektisch".

Das Nikotin legt sich wie eine von Morpheus gewobene Decke über mich und meine Augen werden schwer, während ich da so stehe und dem nahenden Sonnenuntergang entgegenblicke.

Du verwendest viele Metaphern, da wird es mir persönlich dann doch zu viel.

Der Rest wurde schon angesprochen. Eine schöne Geschichte über Intoleranz und "anders" sein.

Liebe Grüße Sabine

 

Also ich hab diesen Text zweimal gelesen. Da will ich mir jetzt auch noch mal die Mühe machen und einen kurzen Kommentar schreiben.

Ich greife in meine Gesäßtasche, ziehe meine Geldbörse heraus und öffne sie mit beiden Händen. Vorsichtig, Verletzlichkeit von Schmetterlingsflügeln, die mikroskopisch kleine Schuppensammlung, hungrig, gierig den Betrachter zu entzücken.

Das sind hier die ersten beiden Sätze. Da sollte man den Leser einfangen. Der zweite Satz stimmt so einfach nicht. "Verletzlichkeit von Schmetterlingsflügeln", das passt da nicht hin. Also grammatikalisch passt es einfach nicht hin.

Dann noch die Maus am Ende:

Zwei schnelle Schritte. Ein gefährlicher Ort für Leute wie dich. Denke ich, erlöse das arme Tier von seinem Leid und mache mich auf den Weg in die Arbeit.

Wie erlöst sie denn die Maus? Mit dem Schuh? Wahrscheinlich schon, wegen dem, was du davor gesagt hast. Aber streng genommen wird es hier nicht erwähnt. Das wär mir noch zu allgemein.

Und der Titel "Gamma" sagt mir wieder nichts, wobei das nichts heißen muss;).

 

Gude mikkel,

du hast dir ein sehr interessantes Thema gewählt, dafür verdienst du schon einmal Pluspunkte. Zu den (ich glaube eher wenigen) Tipp-, Rechtschreibungsfehlern etc. haben sich bereits schon eine Vorkommentierer geäußert.
Ich würde insgesamt sagen, dass es eher eine kurze Episode ist, die du uns präsentierst. Man erfährt wenig über das Drumherum, noch gibt es einen Spannungsbogen o.Ä.
Das funktioniert meines Erachtens, weil das Thema Gender, Geschlechtsumwandlung etc. noch relativ neu ist. Auf der anderen Seite gibt es denen wenig, die sich damit schon einmal auseinandergesetzt haben.
Ich mag deinen Stil, auch wenn Formulierungen wie "von Morpheus gewobene Decke" selbst für mich als Metaphern-Junkie etwas an der Grenze sind.

Eine Logikfrage verbleibt mir aber: wenn der Personalausweis schon dahingehend verändert wurde, dass der neue Name drinsteht, warum ist das alte Profilbild beibehalten worden? Also ich nehme das hin, weil diese interessante Episode sonst nicht funktioniert, aber wundern tut es mich.
Und zuletzt: Der Titel lautet "Gamma". Da bisher keiner gefragt hat, fürchte ich, auf dem Schlauch zu stehen, aber ... warum heißt die Geschichte so?


Liebe Grüße,
Vulkangestein

 

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