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Gamma
Ich greife in meine Gesäßtasche, ziehe meine Geldbörse heraus und öffne sie mit beiden Händen. Vorsichtig, Verletzlichkeit von Schmetterlingsflügeln, die mikroskopisch kleine Schuppensammlung, hungrig, gierig den Betrachter zu entzücken. Mein Passbild grinst mich an. Ich bin nicht zufrieden. Diese andere Person, so fremd, so schön gescheitert in seiner Existenz. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. „Die Freudentränen des gescheiterten Ichs“. Zu pathetisch? Vielleicht.
In jeder Situation, die eine Authentifizierung durch dieses Stück Papier, eingeschweißt in Hartfolie, benötigt, treffen mich die Blicke und Fragezeichen des Prüfenden. Die erste Runde geht an mich. Geübte Abläufe, Arme nach oben, die Frage aus dem Raum dreschen. Doch es ist zwecklos. Wieder und wieder schießt das Ungewisse auf mich ein. Ein Bumerang mit unnachgiebiger Präzession und ungebändigtem Willen. Der Verteidigung müde, nehme ich eine weitere bluttropfende Nase in Kauf.
„Sie sind Frau Anne-Marie Kovac?“. Gelangweilter, routinierter Blick, kaum imstande die Oberfläche auch nur zu kaschieren.
Lieber hinweg oder hindurch. „Ja. Das bin ich.“. Ein Grunzen. „Sie sehen aber auf ihrem Bild anders aus. Ham se wat machen lassen?“. Mein Amygdala wärmt sich auf. Endlich wieder Auslauf. Ich höre die schwachgliedrigen Ketten rasseln, zu oft gespannt worden, zu oft der Raserei Stand gehalten. The Final Countdown. Ich schließe meine Augen, die Äpfel zucken unter den Lidern. Agil, hektisch wie geölte Kugellager auf Talfahrt, hektische Haarnadelkurven und steile Geraden. Der Mund öffnet sich, ich atme aus. Langsam, öffne die Augen.
„Ach, das wäre mir jetzt so nicht aufgefallen. Wie kommen Sie denn darauf?“. Der Mann am Schalter hebt eine Augenbraue. Zumindest denke ich, dass sie das ist. Zieht sie sich doch wie ein Fellwurm von Haaransatz zu Haaransatz. Ein enorm hässlicher Mann, aber in dieser Situation am längeren Hebel. Wie das des Öfteren so ist. Seine Lippen gleiten auseinander. Ein gutturales Wimmern leitet den nächsten Akt ein. Ich kann dem Impuls gerade noch widerstehen mich zu verbeugen.
„Sie sin‘ ne janz lustige, wah? Da.“ Er streckt einen Finger aus seinem fleischigen Fausthandschuh und drückt ihn, Fettflecken hinterlassend, auf meinen Personalausweiß. „Sie ham da noch Bart, meene Jute. Sie können allet versuchen, aber vereiern könnse den Piefke weiter rechts, ja?“.
Ich gucke nach rechts. Dort ist niemand.
„Ich bewundere Ihre Auffassungsgabe. Haben Sie das studiert?“. Erneuertes Gegrunze, gepaart mit dem Wiehern eines dem Tode geweihten Pferdes. Das sollte wohl Lachen sein. Mir wird schlecht.
„Nee, die Studierten, da jibt et jene und solche. Aber ick bin Handarbeiter. Ein Mann der Tat. Studieren tun doch eh nur die Dummen.“. Er streichelt unbewusst seinen Oberarm und seine Zungenspitze benetzt seine Lippen. Ich unterdrücke den Brechreiz, mein Zwerchfell rebelliert und mir entflieht ein galantes Hüsteln.
„Ach. Ja, wenn Sie das sagen. Könnte ich meinen Personalausweiß wieder haben?“. Seine Schweinsaugen hüpfen unruhig in den Höhlen und er schiebt mir mit neutraler, etwas dümmlicher Miene das Dokument herüber. „Passen se auf sich auf. Dit issn jefährliches Pflaster für Leute wie Sie.“
Ich bin schon umgekehrt und laufe dem Ausgang des Flughafens entgegen. Draußen angekommen greife ich in meine rechte Manteltasche, ziehe die filterlosen Zigaretten, die Papa immer rauchte, heraus und zünde sie an. Das Nikotin legt sich wie eine von Morpheus gewobene Decke über mich und meine Augen werden schwer, während ich da so stehe und dem nahenden Sonnenuntergang entgegenblicke. Eine kleine, verletzte Maus kriecht an meinem Schuh entlang, legt eine kurze Rast ein, bevor sie sich unter sichtlichen Qualen weiterzieht. Ich werfe die Zigarette auf den Boden.
Zwei schnelle Schritte. Ein gefährlicher Ort für Leute wie dich. Denke ich, erlöse das arme Tier von seinem Leid und mache mich auf den Weg in die Arbeit.