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Galaktika III - Der Traum ist aus
(Es folgt ein Kapitel aus dem Kurzgeschichtenroman „Galaktika“. Der folgende Absatz gehört zur Rahmenhandlung, anschließend beginnt die Kurzgeschichte, die einen Ausschnitt aus der Jugend der Protagonisten Kalle Bass und Don Jon darstellt. Viel Freude beim Lesen wünscht Lord Schadt.)
Das Feuer knisterte, und Kalle nippte am Whisky. „Der nächste Track ist unser erster gemeinsamer Urlaub. Ohne dich wäre ich vermutlich nie in den Urlaub gefahren und erst recht nicht zum Castortransport. Du hattest schon immer ein Gespür für außergewöhnliche Partys und ich bin dir immer gerne gefolgt. Besonders dankbar bin ich dir, dass du mich beim Kampf gegen Dragon unterstützt hast; ohne dich hätte ich vielleicht verloren, ohne dich wäre ich vielleicht in der Psychiatrie gelandet. Ich weiß, du hältst Dragon für eine Ausgeburt meines Kopfes, aber glaube mir: Dragon lebt. Seitdem ich Galaktika getroffen habe, weiß ich, dass er lebt. Sollte ich Tod sein, wenn er zurückkehrt, dann kümmere du dich um ihn! Ich weiß, du bist ein Pazifist, aber dein Berufsoptimismus ist die beste Waffe im Kampf gegen ihn. Wie damals beim Castor. Komm, pack deinen Rucksack, schnall dich an und lass uns in Gedanken zurück zu unserem ersten gemeinsamen Urlaub reisen!“
aber ich werde alles geben,
dass er Wirklichkeit wird.
Marianna Rosenberg
Das auswärtige Amt warnt vor Urlaub in Krisenregionen, damit unschuldige Urlauber während eines Strand- und Badeurlaubs nicht in Bürgerkriegen landen. Das Ministerium des Inneren hatte Kalle und Don leider nicht gewarnt und deshalb begaben sie sich beschwingt in den schwersten Bürgerkrieg der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte.
Sie hatten gerade ihre Abiturarbeiten geschrieben und ihre Schulzeit näherte sich dem Ende. Viele Schüler nutzten die freie Zeit, um in den Urlaub zu fahren, um den Stress des Abiturs gegen Strand und Rausch einzutauschen, um die freie Zeit auszukosten und ihre Jugend in einer sich selbst verzehrenden Feier aufflammen zu lassen. Kalle und Don blieben hingegen zu Hause und fragten sich, was sie mit der freien Zeit anfangen sollten.
„Meine Band ist gerade mit Rainbowtours in Lorette de Mar und säuft sich das mühsam angelernte Wissen der letzten Monate aus dem Hirn, und ich bin zu pleite um mitzufahren. Mein Vater kauft sich ein neues Auto, mein Bruder bekommt ein neues Saxofon, meine Schwester kauft sich jeden Monat neue Klamotten, aber für mich ist kein Geld übrig.“
„Du kannst doch einfach in den Wald gehen und einen Survivalurlaub machen!“
„Klasse Don. Nur blöde Manager kommen auf die Idee, sich ohne Wasser, Brot und Dope mit einem Messer bewaffnet durch einen Urwald zu schlagen, um kurzzeitig zivilisationsunabhängig zu sein. Du weißt doch, dass ich ein Bekenner der frischen Morgendusche, des leckeren Mikowellennasigorengs und des Dosenbiers bin.“
„Wie ist es mit Balkonien?“
„Sobald die ersten Sonnenstrahlen hervorkommen, schnappen sich meine Eltern mindestens fünf Decken und besetzen dieses Land.“
„Hm, und für den Prinzenpark ist es noch zu kalt.“
„Und außerdem ist der Prinzenpark unser zu Hause, und zu Hause können wir keinen Urlaub machen.“
„Lass uns mit deinem Amiga 500 spielen!“
Also spielten sie mit dem Amiga 500, erschossen unzählige Bösewichte, rauchten heimlich in der verrümpelten Dachkammer einen Joint und schauten zur Abwechslung das Fernsehprogramm. In den Action-News kam ein Bericht über den geplanten Castortransport: 30 Tausend Demonstranten wurden erwartet und ebenso viele Polizisten. Kalles Augen funkelten auf: „Don, da will ich hin. 30 Tausend Animateure in grünen Kostümen, das ist Spiel, Spaß und Überraschung nach meinem Geschmack!“
„Und Tausende von jungen Mädchen mit Dreadlocks in Che-Guevara-T-Shirts. Wow!“ Dons Augen funkelten nun auch. Er schnappte sich das Telefon, wählte und Linda war an der Strippe: „Hi Linda, du bist doch bei der sozialistischen Jugend... Hmm… Ja…. Weißt du, der Castor kommt bald, und ich möchte gerne mit Kalle demonstrieren. Ist ja Bullshit die ganze Geschichte, alles verstrahlen und so... Ihr fahrt dann nächste Woche mit dem Bulli dahin. Habt ihr zwei Plätze frei, dann sind wir auch dabei?“ Dons Reim war unfreiwillig, aber Kalle fand ihn komisch und lachte. Don verabschiedete sich mit einem „Na dann, Ahoi und Freundschaft“ und dann gaben sie sich fünf. „Winter, Bullen, Castorschein, was kann schöner sein?“ sang Kalle, um einen alten Punkklassiker zu zitieren. Don konterte sofort mit „Wenn bei Gusborn der rote Castor im Meer versinkt“. Nicht ganz so gelungen, aber spontan. Sie kalauerten ein paar Stunden, schließlich radelte Don grinsend nach Hause. Seine Kreativität hatte seine Armut besiegt.
Eine Woche später trafen sie sich im „Café Che“ der Sozialistischen Jugend Deutschlands - den Falken. Don hatte hier schon einige Nächte auf einer versifften Coach unter Plakaten von Che Guevara, Frank Zappatista und Willy Brandt geschlafen. Sie stiegen mit Linda, Anna, und fünf Sozialisten in einen VW-Bus. Anna hatte einen dicken Koffer mitgebracht, der eher für eine Überseereise als für eine Überlandfahrt konstruiert war.
„Mensch Anna“, sagte Kalle, „hast du vor zum Mond zu reisen? In deinen Koffer passt mehr rein, als wir alle zusammen mitgebracht haben.“
Anna schaute ein wenig beschämt, ein wenig listig: „Es ging nicht anders, ich musste meinem Vater erzählen, dass ich mit den Cheerleadern zum Training fahre, zum Castor hätte er mich auf keinen Fall fahren lassen, also habe ich meine komplette Cheerleaderausrüstung zur Tarnung dabei.“
Kalle prustete: „Super, dann kannst du die Demonstranten anfeuern. Das stell ich mir faszinierend vor: Ein Cheerleader steht vor tausend Demonstranten und feuert sie mit ‚Haut die Bullen platt wie Stullen’ an.“
Don zeigte Linda seinen Rucksack: „Das ist unsere Survivalausrüstung: eine Flasche Vodka und ein paar Dosenbier. Und dies ist mein Erste-Hilfe-Koffer mit meinem Personalausweis und drei Zehnpfennigstücken. Wenn ich verhaftet werde, kann ich damit meinen Vater oder die Bürgerinitiative kontaktieren.“
Linda warf misstrauisch ein: „Ich hoffe, du hast keine illegalen Drogen dabei. Die Polizisten kontrollieren sehr gerne bei Demos. Drogen sind eine Möglichkeit, Demonstranten schnell weg zu buchten.“
„Nein“, antwortete Don, „wir machen eine ganz legale Vodka-Bier-Kur.“
Der Bus, ein Fahrzeug der Firma Volkswagen, war das ideale Reisegefährt: Auf der Seite waren rote Sterne aufgemalt und vorne stand in Spiegelschrift „Aus dem Weg Kapitalisten“, damit langsam fahrende Autos sofort Platz für den Kampf um eine bessere Welt machten. Die Höchstgeschwindigkeit dieses Gefährts betrug allerdings nur 80 Km/h, und so kam kaum ein Autofahrer in den Genuss, ihm auszuweichen. Unterwegs zum Castor sangen sie sozialistische Klassiker, weil das Tapedeck pädagogisch wertvoll, also kaputt war. „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen den Castortransport im Land. Haltet fest zusammen, haltet fest zusahahamen.“ Kalle und Don drückten sich daraufhin die Hände, bis Don laut schrie, weil Kalle seine Hand zu fest zusammendrückte. Nach anderthalb Stunden konnten sie sogar die Internationale mitbrüllen, wobei sie bei der dritten Strophe immer noch hakten, aber bei „Die Internationahale erkämpft das Menschenrecht!“ eroberten sie sich einen Spitzenplatz im Chor.
Der Weg zum Castorcamp war komplizierter als erwartet. Viele Zufahrtslandstraßen waren schon von Polizisten eingenommen, und weil trotz aller Beteuerungen keiner der Kontrollposten glaubte, dass neun langhaarige Verrückte ihre sterbenskranke Wendlandomi besuchen wollten, mussten sie mehrmals umdrehen. Doch dann fand der Fahrer einen Feldweg, der sie direkt in ihr Feriendomizil führte: das mit drei roten Sternen ausgezeichnete Camp Klein-Gusborn.
Als sie ankamen war es schon dunkel, aber Polizeihubschrauber bestrahlten mit riesigen Scheinwerfern das Camp. Don und Kalle beschlossen, dass es zu düster und kalt war, um Zelte aufzubauen, und weil Don und Kalle keine Lust hatten, im Dunkeln in irgendein Gemeinschaftszelt zu tapern und pflichtbewusste Demonstranten aufzuwecken, gingen sie wieder in den Bulli zurück. Anna und Linda hingegen waren wach und nüchtern genug, um ihr Zelt aufzubauen. Kalle und Don stachen auf die Schnelle jeweils zwei Bier, um sich von der Kälte abzulenken, und wurden selig. Das Einschlafen gelang ihnen jedoch nicht recht, denn es war eiskalt und beiden gefror der Atem. Darum glühte Kalle vor und stellte den Motor des Bullis an, um in den Genuss der Heizung zu kommen. Wolle, der ökologisch korrekte Busfahrer, der auch im Bus schlafen wollte, stellte ihn sofort wieder aus. „Ey, spinnste? Kannst doch nicht die Umwelt für so’nen bißchen Wärme verpesten.“ Er unterstrich seine Forderung, indem er den Schlüssel in seine Tasche steckte. „Ich könnte schon, wenn du mich ließest“, antwortete Kalle und hatte fortan einen Freund weniger. Das Schlafen fiel Don schwer, weil durchgängig Hubschrauber über dem Camp kreisten. Selbst hart gesottenen Demonstranten fällt das Schlafen schwer, wenn Polizisten mit 10 000 Watt Glühbirnen direkt auf Zelte leuchten, um keinen Demonstranten in Frieden schlafen zu lassen. Wer selbst keine große Leuchte ist, spielt gerne mit derselben, dachte Don. Er erinnerte sich an ein Buch aus dem Deutschunterricht: Es kann der Frömmste nicht in Frieden demonstrieren, wenn es den bösen Bullen nicht gefällt. Der Bulli war gegen einen solchen Angriff der Lichtwerfer nicht gewappnet, deswegen wachte Don alle halbe Stunde wieder auf, wenn ein Hubschrauber seine Schicht herumflog. Er hauchte gegen die Scheibe, damit sein Atem kondensierte und das Licht ein wenig freundlicher strahlte. Als er hinblickte, war er für einen Augenblick der Meinung, in den gebrochenen Strahlen der Scheinwerfer Regenbögen zu erkennen.
Um halb acht ging der Winterzeit entsprechend die Sonne auf, und die meisten Demonstranten kamen langsam aus ihren Zelten getorkelt. Aufstehen und Bewegung war das beste Mittel gegen die Kälte, die besiegt werden musste, um nicht zu erstarren. Auch Anna gehörte zu den Untoten: „Morgen Don. Gut geschlafen?“
„Frag lieber nicht. War einfach, zweifach und dreifach zu kalt.“
„Ging mir genauso. Ich bin Mitten in der Nacht in ein großes Zelt umgezogen; dort gab es sogar einen Kohleofen, und es war fast gemütlich. Don, wo sind hier eigentlich die Duschen?“ Anna hielt einen Fön wie eine Pistole in ihrer Hand. Sie sah außergewöhnlich aus; sie war keine reiche Zicke mehr, sondern zerbrechlich.
„Da vorne sind zwei Wasserhähne, dort kann man sich die Zähne putzen. Ansonsten gibt es hier eine Dusche, die sich Wolke nennt, eine Sauna namens Kohleofen und eine Cocktailbar, die sich Volxküche nennt. Dort gibt es den Yogitee deluxe, den Yogitee on the Rocks und den Yogitee spezial.“
Der Beginn eines prachtvollen norddeutschen Wintertages. Don beobachtete mit seinen verschlafenen Augen und wunderte sich, warum fast alle schwarz gekleidet waren und nicht halb so fröhlich aussahen, wie er sich das vorgestellt hatte, und niemand die strahlende Morgensonne bemerkte. „Autonomes Gesocks“, murmelte Kalle, der gerade mit einem Volxküchenkaffee ankam.
„Wie? Und wo sind die Feen?“
„Ein Trupp ist da vorne, aber nur wenige. Wir sind im falschen Camp gelandet. Hier sind sich nur Antifas und Emanzen.“ Es war noch zu früh für eine solche Enttäuschung.
Anna beschwerte sich: „Sag jetzt nichts gegen Feministinnen, ich bin auch eine.“
Kalles Tag war noch zu sehr im Gleichgewicht, um Anna zu provozieren, also versuchte er es anders: „Also Feministinnen und Frauenrechtlerinnen sind akzeptabel, aber das hier sind Emanzen und Männerhasserinnen. Emanzen sind eigentlich schon schlimm genug, aber Antifas sind sogar für mein pessimistisches Weltbild zu negativ und humorlos. Genau betrachtet sind sie sogar humorloser als der Mittelstädter Karneval.“
„Noch humorloser als der Mittelstädter Karneval?“ fragte Anna verwundert.
„Du hast recht, genauso schlimm. Aber die Ähnlichkeit ist verblüffend. Der Mittelstädter Karneval zeichnet sich im Gegensatz zu allen anderen Karnevals auf der Welt und im Universum durch das gänzliche Fehlen sexueller Exzesse und einem unglaublichem Mangel an Spontaneität aus. Letztere Attribute treffen auch auf die Antifas zu, nur dass diese keine roten Nasen tragen. Außer heute.“
Don schaute sich um. Am Rande des Camps hingen einige große bunte Ballons in der Luft. „Schau mal, Kalle, wie auf der Loveparade.“
„Bullshit, die halten nur die Hubschrauber davon ab, in Haaresbreiten über den Zelten hinweg zu düsen.“ Er hatte Recht. Selbst schöne Ballons hatten eine Funktion in diesem Camp.
Eine Stunde später standen Don und Kalle an einem Hauptschauplatz des Kampfes um den Castor. Neben dem Camp Klein Gusborn war ein großer Acker, der direkt an eine der vermuteten Castorstrecken grenzte. Rund fünfhundert Demonstranten standen auf diesem Feld und beschäftigten ebenso viele Polizisten, indem sie alles versuchten, um zur Straße zu gelangen und diese zu besetzen. Das Ganze ähnelte einem Demonstrant-und-Gendarmspiel mit einfachen Regeln: Beide Parteien standen sich an der umkämpften Castorstrecke gegenüber; das Ziel der Schwarzen war es, die Strecke zu erreichen, die Grünen hingegen versuchten sie davon abzuhalten. Beide Parteien waren unterschiedlich bewaffnet: Die schwarzen Eroberer benutzten psychologische Kriegsführung, Überraschungsaktionen bei Nacht und Nebel, Tripods, Schaufeln und Spitzhacken; die grünen Verteidiger hingegen hatten Schlagstöcke, Wasserwerfer, Hunde, Hubschrauber, Funkgeräte und psychologische Kriegsführung.
Don und Kalle stellten sich an den Rand des Schauplatzes, tranken Vodka und kommentierten das Spiel. „Schau mal, Don, jetzt zünden sie Autoreifen an, um mit dem Rauch die Polizisten zu vertreiben. Dieser Punkt geht an die Schwarzen.“
„Dann steht es jetzt vier zu drei für die Schwarzen.“
Kalle unterbrach und sang: „Hermann Löns, es brennt die Heide, Hermann Löns, die Heide brennt. Hermann Löns, es brennt die Heide, Hermann Löns, die Heide brennt. Löschen!“ und trank.
Don fuhr fort: „Und dort laufen die Grünen mit Schlagstöcken auf die Schwarzen zu, und sie laufen schneller weg als die Polizei erlaubt. Das ist ein Punkt für die Grünen, weil die Schwarzen feige sind. Also steht es vier zu vier. Kalle, für welche Partei bist du eigentlich?“
Kalle trank noch einen Schluck Vodka. „Eigentlich ist mir egal, wer gewinnt. Realistisch betrachtet ist der Castortransport sicher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Castorbehälter aus dreißig Metern Höhe herunterfällt, gleichzeitig von einem Eurofighter und einer Atombombe getroffen wird, anschließend länger als eine halbe Stunde bei mehr als Tausend Grad Celsius brennt und dadurch undicht wird. Die wirkliche Gefahr ist also gering. Ob deswegen Atomkraft das Nonplusultra ist, kann ich nicht beurteilen. Mein Physiklehrer sagt ja, mein Mathelehrer nein, und mir ist es egal, solange ich mein Bier trinken kann. Was die beiden Parteien hier betrifft, mag ich beide nicht. Die Grünen sind dumm, die Schwarzen sind blöd; am Liebsten wäre es mir, wenn sich beide gegenseitig abschlachten und wenn dabei viel Blut, Gehirn und Gedärm fließt.“
„Ich persönlich fände es schön, wenn der Castortransport gestoppt wird. Das zeigt, dass ziviler Ungehorsam etwas bewirken kann.“
„Das hier sind aber keine Zivilisten, sondern asoziale Antifas, und asozialer Ungehorsam ist meines Erachtens kein ziviler.“
„Vielleicht sind die Antifas gar nicht asozial, schließlich wollen sie eine schönere Welt ohne Unterdrückung schaffen.“
„Und unterdrücken dabei alle, die nicht zu ihnen gehören. Das Problem ist einfach: Es gibt die kommunistischen Stalinisten, es gibt die stalinistischen Kommunisten und es gibt die revolutionär kontrarevolütionöre stali-leninistische procubanische Aktion rote Sternschnuppe. Jede Gruppe hat den einzig wahren Weg zur Revolution, und deswegen mögen sie sich untereinander nicht und schauen sich so grimmig an.“
Kalles Meinung wurde kurz darauf bestätigt. Ein schwarz gekleideter Antifa kam auf die beiden zu und wies sie zurecht: „Hey, ihr könnt doch keinen Vodka trinken? Wir demonstrieren hier! Feiern könnt ihr auch zu haus. Scheiß Lumpenpack und Saufproletarier. Asis wie ihr zerstören die gesamte Bewegung!“ Der Antifa schaute so grimmig aus, als hätte er diesen Gesichtsausdruck ein Leben lang erlernt. „Semantisch korrekt wäre: Dieser Vodka zerstört nicht die gesamte Bewegung, sondern nur unsere Motorik“, sagte Kalle. Darauf schnappte sich der Antifa die fast leere Vodkaflasche und schenkte den letzten Rest den Göttern, indem er den Vodka auf den kalten Boden schüttete. Dann verschwand er wortlos und nahm die Flasche mit, um sie ökologisch korrekt zu entsorgen.
„Don, hast du gesehen: So sind sie! Sobald man sich vergnügt und Spaß am Leben hat, mögen sie einen nicht mehr. Ich denke, das gibt eindeutig einen Strafpunkt für die Schwarzen.“
„Zwei Strafpunkte. Das war unser letzter Vodka, der war mindestens zwei Strafpunkte wert.“
„Schimanski, das stimmt. Dann steht es jetzt vier zu zwei für die Grünen.“
Sie rauchten und betrachteten wieder das Schlachtfeld. Eine Gruppe Demonstranten lief im Block formiert auf die Straße zu, um eine Bresche in die Polizeischlange zu schlagen. Zur gleichen Zeit fuhr die grüne Partei zwei Wasserwerfer auf, um die Demonstranten von ihrem Vorhaben abzuhalten.
„Don, schau mal, da vorne im Mob ist deine kleine Linda.“
„Stimmt, die einzige die nicht schwarz gekleidet ist. Schau mal, ist das Tränengas, was da aus den Wasserwerfern kommt?“
„Es sieht so aus. Die Schwarzen ziehen sich zurück und halten ihre Palitücher vor den Mund, das deutet auf Tränengas hin. Ach, es ist doch zum Heulen hier.“
„Und jetzt steht Linda alleine vor den beiden Wasserwerfern.“
Don und Kalle betrachteten Linda, wie sie vor den beiden Wasserwerfern stand. Sie hatte sich einen bunten Schal vor den Mund gespannt. Dann hob sie ihre beiden Fäuste in Richtung der beiden Wasserwerfer und streckte langsam ihre beiden Mittelfinger aus.
„Das nenne ich mutig“, bemerkte Kalle.
Don beobachtete, wie beide Wasserwerfer ihre Düsen langsam auf Linda richteten.
„Meine kleine Heldin“, bemerkte Don. Linda rannte schnell zurück, und nur ein kleiner Wasserstrahl traf ihre Unterschenkel; das Wasser klebte wie das Blut eines besiegten Drachens an ihrer Hose.
„Schöne Aktion. Eine mutige Idee, sorgfältig ohne Verluste ausgeführt, das gibt zwei Punkte für die Schwarzen, oder?“ fragte Kalle.
„Dann steht es wieder vier zu vier. Unentschieden.“
Am Abend setzten sich Kalle und Don zu Linda und Anna an ein Lagerfeuer. Die Wärme des Feuers schuf eine kleine Zelle der Zivilisation. Nur die frierenden Rücken erinnerten daran, dass außerhalb der kleinen Reservate der Menschen immer noch das kalte Ungeheuer der Natur herrschte. Don kuschelte ein wenig mit Linda, um sie von innen zu wärmen.
„Um zwölf gehen wir mit dem Camp zur Strecke. Seid ihr dabei?“ fragte Linda.
„Wobei?“ fragte Kalle.
„Wir blockieren den Castor. Das ganze Camp geht durch einen Waldweg zur Straße, dann blockieren wir sie. Ein paar Demonstranten werden die Straße aufhacken und zerstören, und dann warten wir ab, was passiert.“
Kalle war gut gelaunt: „Na gut, dann freuen wir uns jetzt auf unsere Nachtwanderung!“
Die Zeit verrann und Kalle spielte auf einer Wandergitarre ein paar Rockklassiker. Um zwölf ging es los. Rund fünfhundert schwarz vermummte Demonstranten schlichen sich aus dem Camp in Richtung eines Waldweges.
„Wie lautet unser Codewort, wenn wir uns verlieren?“ fragte Anna.
„Ruf einfach Kafka!“ schlug Don vor.
„Warum Kafka?“ fragte Linda.
„Kafka war ein Freund des Unheimlichen und des Unergründlichen. Diese Aktion verstehe ich nicht; sie ist mir mehr als unheimlich.“
Kalle schüttelte sich: „Mir auch. Meine Mutter hat mich immer davor gewarnt, nachts alleine durch den Wald zu gehen, weil dort der schwarze Mann wohne. Und nun gehe ich mit 500 schwarzen Männern durch den düstren Wald, um ein paar arme Polizisten zu verkloppen.“
Der Trupp setzte sich in Bewegung. Der Waldweg war schmal, deswegen bildeten die Schwarzen eine lange Kette. Als ein Polizeihubschrauber über den Waldweg streifte, rannten alle Demonstranten ungeordnet rechts- und linksseitig in den Wald hinein, um nicht entdeckt zu werden. „Ein bisschen wie Flucht aus Alcatraz“, sagte Kalle. „Oder wie die dreibeinigen Herrscher.“ Don erinnerte sich an seine Lieblingskinderserie.
Plötzlich begann die gesamte Gruppe laut schreiend in Richtung Castorstrecke zu stürmen. Es ertönten Schlachtrufe. Linda drückte fest Dons Hand, und beide wussten nicht, was geschah. Wo war Anna? Wo war Kalle? Sie riefen „Kafka! Kafka!“ aber Gebrüll und laute Sirenen machten eine Verständigung unmöglich. Der Nebel des Waldes wurde von Leuchtspurmunition in allen Farben des Regenbogens erleuchtet. „Lass uns hier schnell abhauen. Anna und Kalle werden schon einen Weg zurück finden“, schlug Linda vor.
Sie liefen durch den dunklen Wald zurück ins Camp. Linda schrammte sich ihr Gesicht an einem Ast. Die Schreie der Schwarzen tauchten unter im Hubschrauberlärm, das Laufen in die Dunkelheit des Waldes beruhigte. Don fühlte sich wie im Märchen, ein Geschwisterpaar ausgesetzt im finstren Wald auf dem Weg zum Happy End.
Im Camp angekommen gingen sie zielstrebig zurück zum Lagerfeuer, um sich aufzuwärmen. Ein Becher Yogitee wurde herumgereicht. Beide starrten immer noch Händchen haltend ins Lagerfeuer.
„Romantisch hier“, sagte Don nach einer Weile.
„Ja, sehr romantisch“, antwortete Linda.
Don klapperte mit den Zähnen; auch Linda bibberte.
„Genau so habe ich mir mein erstes Mal Castor vorgestellt. Nur das Wetter könnte etwas wärmer sein“, bemerkte Don. „Wenn ich hier noch länger sitze, bekomme ich Frostbeulen. Es ist wirklich kalt hier.“ Linda streichelte seinen Nacken. Er redete Belanglosigkeiten. Er wusste, dass sie wusste, dass es kalt war; ihre Hände zitterten sogar in Handschuhen. Er verspürte Sehnsucht nach Nähe und Angst vorm Verlassenwerden. Sie wusste alles, und sie ließ es ihn spüren. Und es war Winter.
„Mein Don Jon, wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Wir können uns alleine in unsere Schlafsäcke zurückziehen, können wegen unserer Frostbeulen nicht schlafen und holen uns eine Lungenentzündung, oder wir teilen uns meinen Schlafsack.“
„Die Idee ist gut, aber ich bin ein Mann und neben einer so schönen Heldin wie dir komme ich sicherlich nicht zum schlafen.“
„Mir geht es nicht anders. Ich bin eine Frau, und ich finde dich süß.“
„Du möchtest mich also heute Nacht verzaubern?“
„Nur wenn du deinen Zauberstab dabei hast.“
„Warte Mal.“
„Wir haben hier keinen Pfarrer zum heiraten. Wir verbringen einfach eine schöne Nacht miteinander, und morgen früh ist der Zauber verflogen. Diese Gelegenheit hast du nur einmal.“
Im Zelt küssten sie sich ausgiebig, um ihre Gesichter zu wärmen. Es war zu kalt, um nackt in den Schlafsack zu steigen, also zog sich Don seine Hose aus, den Pullover und seine Strümpfe behielt er wegen der Kälte an, und stieg als erster in den Schlafsack. Linda nestelte kurz an ihrem Rucksack und kam nach. Ihre sonnenverwöhnten Beine waren kurz im Scheinwerferlicht eines Hubschraubers sichtbar, während sie einen Weg in den Schlafsack fanden. Linda lag nun mit ausgestreckten Beinen auf Don, und weitere Bewegungen waren kaum möglich. Er fand ihre kalten Hände erregend, die ihm mit einiger Mühe das Kondom überstreiften.
„So stell ich mir Tantrasex vor“, bemerkte Don.
„Tantrasex?“
„Ganz langsam, fast ohne sich zu bewegen.“
Linda kicherte; Don spürte ihre Bauchmuskeln.
„Don Jon, du bist ein Spinner.“
So kitschig und so wenig kompliziert habe ich mir mein erstes Mal nicht vorgestellt, dachte Don und gab Linda einen Kuss. Er ließ Johann fallen und fiel in Don Jon. Ach liebe Mädchen öffnet mir, auch lebend schon die Himmelstür!
Am nächsten Morgen trafen sich Kalle und Don beim Kaffee in der Volxküche.
„Morgen Don. Ich hatte schon gehofft, die Polizei hätte dich verhaftet.“
„Nein, zum Glück nicht. Und wo bist du gestern geblieben?“
„Ich bin mit Anna in den Wald gelaufen, bis wir auf einer Waldlichtung ankamen, wo man keine Sirenen mehr hörte. Anna flennte und beschwerte sich eine Viertel Stunde lang über die Kälte, die fehlende Dusche und das eklige Volxküchenessen. Als alter Gewohnheitszyniker konnte ich ihr auch nicht weiter helfen, also spielte ich den großen Bruder und begleitete sie zu ihrem Zelt. Dann bin ich alleine weiter gezogen und habe eine Sightseeingtour gemacht. Hier gab es angekettete Trecker zu sehen, dort einen landenden Polizeihubschrauber, dann einen Tunnel unter einer Landstraße und überall asoziales Pack, teils in grau, teils in grau. Ich fühlte mich wie in Disneyland. Zum Schluss habe ich mir die ‚Xtausendmal Quer’-Aktion angesehen, einige Tausend Leute, die bei der Verladestation campieren, um von der Polizei weggetragen zu werden. Die Stimmung war gespenstisch, man konnte den Castor beinahe riechen. Es gab sogar ein diabolisches Konzert. Klaus der Geiger spielte in einem Bulli mit Boxen drauf. Ein Teufelsgeiger mit dem passenden Publikum und der besten Lichtshow, die man sich vorstellen kann, besser als Pink Floyd: Mindestens fünf Hubschrauber, die pausenlos über dem Publikum kreisten und mit Scheinwerfern das Konzert erhellten. Am besten war seine Version von „Der Traum ist aus“. Sein Geigenbogen stieß mehrmals gegen die Decke des Bullis, und viele Demonstranten sangen laut mit. Eines der besten Konzerte, das ich bisher gesehen habe.“
Linda und Anna erschienen. „Morgen ihr beiden. Kommt ihr mit zum Castor?“
Kalle war in Vorfreude „Der Castor kommt?“
„Angeblich ist er in einer Stunde hier, wenn er nicht vorher aufgehalten wird. Hinter Klein Gusborn ist ein großes Feld, wo wir alles gut beobachten können.“ Linda war gut informiert.
„Schön, dann schauen wir uns den Actionfilm an!“ sagte Kalle.
Sie erreichten ohne Hindernisse das Feld. Überall herrschte Endzeitstimmung. Plötzlich landeten mehrere Hubschrauben auf dem Feld und spuckten einige Dutzend Polizisten aus, die in Richtung des Dorfes liefen.
„Die machen jetzt die Reifen von den Treckern platt, damit kein Bauer mit seinem Trecker auf die Strecke fährt“, dozierte Linda. Sie hatte schon einen Castor miterlebt.
Kalle schaute zur Strecke und sah die Polizisten, die dicht an dicht bis zum Horizont standen, der grüne Riese, unter anderen Umständen die Wirklichkeit gewordene Werbung einer Waschmittelfirma. Die gesamte Straße war in eine sich bewegende grüne Farbe getaucht. Die Staatsmacht hatte das Spiel gewonnen und nach Punkten gesiegt. Es gab kein Durchkommen mehr. Kalles Gesicht nahm die Farbe der Polizisten an. Er malte mit zitternder Zigarette den Horizont nach: „Don, schau! So ähnlich ist mir Dragon das erste Mal begegnet. Eine endlose grüne Schlange, die aus Abermillionen anonymen Teilchen besteht, die hin und her wuseln. Stell Dir nun vor, diese grünen Wesen haben eine gemeinsame Stimme, die deine Psyche fertig macht, und jedes Teilchen strömt auf Dich zu, um deinen Körper zu atomisieren, das ist Dragon. Hätte mir Galaktika keine Zuflucht gewährt, wäre ich ein Teil von Dragon geworden und hätte seinen Befehlen gehorchen müssen, und nun erscheint er hier und zeigt sich im neuen Gewand. Eine bessere Kulisse hätte er für sein Erscheinen nicht erschaffen können. Ich hätte es wissen müssen: Es ist Dragon, der hinter dem Castor steckt. Wenn er jetzt Gestalt annimmt, dann kommt meine Apokalypse, dann wird hier alles ein böses Ende nehmen.“
Don wusste, es war Zeit zu gehen: „Kalle, komm, ich habe hier genug gesehen. Lass uns zurück in die Volxküche gehen und einen Kaffee trinken. Ich glaube, wir haben beide zu wenig geschlafen.“
„Danke, Don. Du hast recht.“
Am Nachmittag fuhren sie zurück. Zwei der Sozialisten waren festgenommen, daher war mehr Platz im Bus. Nur der Fahrer und Don hielten sich wach, der eine dachte an sein Bett, der andere träumte von Linda. Sie schlief eine Reihe vor ihm, aber war dennoch unerreichbar. Seit der letzten Nacht hatten sie kaum ein Wort ausgetauscht.
Als sie wieder am Café Che ankamen, wurde er von Linda umarmt, sie blinzelte, drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange und flüsterte in sein Ohr: „Wollen wir uns bald wieder treffen? Ich zeige dir mein gemütliches Zimmer mit Heizung, Stereoanlage, Bett und Schnuffeltuch.“
Er lächelte.
Don kam zurück in die Wuppertaler Strasse, die von seinem Vater liebevoll das Wuppertal genannt wurde, weil die Strasse zwischen den hohen Häuserschluchten wie ein Tal aussah. Er freute sich auf sein Bett. Als er in die Wohnung vorrückte, saß sein Vater mit einer Zeitung im Wohnzimmer. „Schön, dich wieder zu sehen. Schön, dass es dich noch gibt. Ich dachte schon, sie hätten dich verhaftet. Erzähl! Wie war es?“
„Spannend. Ich muss jetzt erstmal duschen.“
Sein Vater faltete die Zeitung zusammen. „Ich mach dir währenddessen ein ordentliches Essen. Du siehst ein wenig bleich aus.“
Don stellte sich unter die Dusche, drehte das Wasser auf und hörte plötzlich Hubschrauber, die über der Wohnung flogen. „Hubschrauber? Hier?“ dachte er. Er brauchte eine Weile, bis er bemerkte, dass es die Dusche war, deren Brausen sich für ihn wie die schneidenden Rotorblätter von Hubschraubern anhörte. Er war jetzt ein Castorveteran.