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Gaia
Was würdest du machen, wenn du einsam wärst?
Einsam schlichtweg aufgrund physischer Isolation.
Niemand in Reichweite, mit dem du sprechen könntest. Aber du wüsstest, es ist jemand da. Sehr weit weg, aber sehr wohl existent.
Stell dir vor, du hast nur dich. Was würdest du tun, um Kontakt herzustellen?
Stell dir vor, du hättest alle Zeit der Welt und stell dir vor, du hättest Fähigkeiten, jenseits deiner jetzigen Vorstellungskraft.
Kannst du dir ein anderes Leben vorstellen? Eine andere Form von Leben?
Gaia war so eine Lebensform. Einsam reiste sie durch das Weltall, gebunden an ihren Platz, gefangen von der Gravitation eines riesigen, rotglühenden Sterns. Einsam umkreiste sie ihn, eskortiert vom Tod. Wohin sie auch schaute, fand sie nichts als Tod.
Gaia war nicht immer allein. Vor sehr langer Zeit waren sie zu dritt. Damit stellten sie in der Unendlichkeit des Universums keine sehr große Gemeinschaft dar, aber die Größe zählte nicht. Wichtig war vielmehr, nicht allein zu sein. Drei Wesen mit einem Lebensraum, der vielen mehr Platz geboten hätte.
Sie gingen ihre eigenen Wege und doch trafen sie sich in regelmäßigen Abständen und tauschten ihre Gedanken und Träume, Hoffnungen und Ängste. Wenn außer dir nur noch zwei weitere Lebewesen da sind, erkennst du sie unweigerlich als deine Freunde. Natürlich gab es Streit, aber nie dauerte er an. Zu kostbar war trotz ihrer scheinbaren Unendlichkeit die Zeit, die sie miteinander verbrachten. Und wie Gaia nun feststellte, war sie noch viel kostbarer gewesen, als alle drei gedacht hatten. Zumindest schien es jetzt, da sie allein war, so.
Eine Zeit lang hatte Gaia damit verbracht, ihre Trauer und ihr Selbstmitleid zu verarbeiten, indem sie nach einem Grund suchte, warum sie noch am Leben war. Sie war größer als die beiden anderen gewesen. Aber das war nicht der Grund für deren Tod. Es lag auch nicht daran, dass sie einen anderen Weg ging, als ihre Freunde. Es lag ganz einfach an der lebensfeindlichen Umgebung. Es war paradox, aber Gaia
und ihre beiden Begleiter waren die einzigen Lebensformen, die das riesige Universum zu gebären imstande war und doch waren sie nicht lebensfähig.
Experimentierte das Universum? Waren Gaia und ihre Begleiter nur Versuchsobjekte?
Oder gab es da draußen vielleicht doch noch weitere wie sie?
Ein philosophischer Disput mit sich selbst endet zwangsläufig im Chaos. Mit niemand kann man sich schlechter einigen als mit sich selbst. Die Gespräche mit ihren Freunden waren immer davon geprägt, dass ein Gedanke als richtig oder falsch angesehen wurde, wenn alle zustimmten oder ihn ablehnten. Diese stillschweigend vereinbarte Regel gab ihrer Existenz Struktur und machte das Leben weniger kompliziert. Es gab etwas, das man nach einer Grundlagendiskussion nicht mehr anzweifeln musste, eine Konstante.
Doch allein lassen sich Konstanten nicht so einfach definieren. Es gibt keinen Widerstand, keine Reibung und so driftet jede Vision ungebremst in die Unendlichkeit und verblasst.
Irgendwann hatte Gaia sich damit abgefunden, dass sie ihren Freunden nicht so schnell folgen würde und dies auch nicht in ihrer Hand lag. Wandte sie sich anfangs noch von ihren toten Freunden, die mit noch immer der gleichen Regelmäßigkeit zu ihr kamen, ab, so gewöhnte sie sich mit der Zeit an den Anblick und den Gedanken an eine längst vergangene Ära und die Existenz einer Gesellschaft.
Und es dauerte weitere Äonen, ehe Gaia sich eingestand, sehr viel Zeit verloren zu haben und gleichauf neuen Mut fand, ihr Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen. Sie erkannte, dass Lebewesen, die Zeit nur linear wahrnehmen können, nur dann einen Sinn für ihre Existenz finden, wenn sie auf ein Ziel ausgerichtet ist. Und so fand auch Gaia, dass ihre Mittel der Kommunikation nur Sinn machten, wenn sie kommunizierte.
Gaia überdachte ihre Ziele. Ihr Leben war das der Gesellschaft und sie würde dieses Leben wiederherstellen.
Völlig neue Ideen durchströmten Gaia und mit der Beharrlichkeit eines Wissenschaftlers machte sie sich daran, ihre Möglichkeiten zu versuchen. Gaia war gebunden, sie konnte ihren angestammten Platz, ihren Weg, auf dem sie seit undenkbaren Zeiten wanderte, nicht verlassen. Aber ihr waren Möglichkeiten gegeben, Dinge entstehen zu lassen. Gaia entdeckte ihre Schaffenskraft, sowohl geistiger als auch materieller Natur. Gaia schuf.
Und sie experimentierte. Gaia schuf Welten und zerstörte sie wieder. Ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Sie würde einen Weg finden, sie würde eine Botschaft an andere schicken, die noch irgendwo da draußen waren.
Gaia las und schrieb. Sie entsandte Botschaften und versuchte ankommende zu verstehen. Sie scheiterte. Gaia musste feststellen, dass es keine Botschaften waren, die sie für solche gehalten hatte. Es waren Naturphänomene. Sie lernte die Natur. Ihre Lage machte aus der Philosophin eine Wissenschaftlerin. Doch die Verlagerung der Sinnsuche auf das Gebiet der Wissenschaft ließ ihre Sinne verkümmern.
Gaia fing an zu begreifen, dass leblose Nachrichten nur leblose Wesen erreichen.
Sie jedoch suchte nach Leben und nur so ließ sich auch die Suche gestalten. Gaia schuf einen Kosmos in sich selbst. Auch hier bedurfte es einiger Fehlschläge, bis sie schließlich Drohnen entwickelte, deren Intelligenz einzigartig und neu war. Gaia hatte ein eigenes Universum geschaffen, das sich selbst rascher entwickelte, als Gaia es jemals gekonnt hätte. Und mit der Grundausrichtung ihrer Schöpfung auf Expansion war die Entwicklungsrichtung zum Finden anderer Lebensformen gegeben und damit Reisen in die Unendlichkeit des Universums. Gaia hatte Boten geschaffen, die an ihrer statt nach Begleitern für sie suchen sollten.
Doch Gaia übersah das Naheliegende.
Gaia übersah die Möglichkeit, mit ihrer eigenen Schöpfung zu reden, statt in der Ferne nach einer anderen zu suchen. Und Gaia übersah die vielfach verstärkte Auswirkung des Expansionsdrangs einer kommunikativen Gesellschaft, die sie selbst einst hatte und die sie anstrebte.
Die Schöpfung war sich selbst genug.
Die Schöpfung verlernte das Erkennen ihrer Schöpferin.
Und schon durch den reinen Versuch, die Ferne zu erreichen, ging das Verstehen und Verständnis für die Heimat verloren.
Die Schöpfung begann ihre eigene Sinnsuche. Die Frage nach Sinn ihres Expansionsdrangs. Und sie fand ihre Begründung im ohnmächtigen Dahinsiechen ihrer immer noch nicht erkannten Schöpferin.
Während die Menschen ihren Planeten zerstörten, fragte sich die Erde angesichts ihrer toten und verödeten Nachbarn Mars und Venus, ob sie vielleicht noch einmal von vorn beginnen sollte.
- ENDE -