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Gabriel
Gabriel
Stefan föhnte sich sorgfältig seine langen, goldbraunen Ponyhaare und legte sie in eine schwungvolle Welle. Danach schäumte er sein Gesicht, seine Beine und seinen Schritt mit Rasiercreme ein und begann fast andächtig, die Härchen zu entfernen mit der Doppelklinge. Besonders im Schritt verursachte ihm dies wohliges, erwartungsvolles Kribbeln. Zuletzt legte er noch etwas Eau de Toilette auf – jenes, welches ihm Bianca letzte Weinachten geschenkt hatte. Er wischte den beschlagenen Badezimmerspiegel frei und betrachtete zufrieden das Ergebnis: er war immer noch gut in Form, seine Brust- und Bauchmuskeln traten dezent hervor, sein Gesicht hatte zwar ausreichend sanfte Konturen, um als schön zu gelten, hatte jedoch genug Markantes durch Nase und Kinn und die schmalen Lippen, um dennoch maskulin zu wirken.
Er öffnete die Tür; auf dem Weg zum Schlafzimmer stieg ihm verheißungsvoll der Duft des Weihnachtsbratens in die Nase. Es würde Chateaubriand geben, sein Lieblingsessen. Bianca konnte wirklich gut kochen. Fröhlich pfiff er ein Weihnachtslied, während er sich ankleidete. Er wählte den champagnerfarbenen Leinenanzug und das ultramarinblaue Hemd, das Bianca so liebte. Den obersten Knopf ließ er offen, so dass einige seiner dunklen Brusthaare zu sehen waren. Er wählte die silbernen Manschettenknöpfe, die Biancas Mutter ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Beim Gedanken an sie seufzte er. Sie konnte es immer noch nicht verwinden, dass er und Bianca ihr keine Enkelkinder geschenkt hatten. Jetzt war es dafür zu spät, sie gingen beide schon stark auf die 50 zu.
Als er die Treppe herunterkam, stand Bianca gerade am Baum und zündete die Kerzen an. Ihr prachtvolles, goldblondes Haar fiel in einer duftigen Welle über ihre Schultern, bis weit in den Rücken hinein. Sie trug ein rotes Samtoberteil, das ihr perfektes Dekolltée zeigte, und darunter einen schmalen, langen schwarzen Rock, in dem ihre schlanke Taille wunderbar zur Geltung kam. „Schatz, könntest du bitte den Wein dekantieren?“ fragte sie ihn mit ihrer sanften Stimme. Er öffnete die Flasche, goss den ersten Schluck in ein Glas, und füllte einen Teil des guten Tropfens in den Dekanter. Bianca öffnete derweil die Champagnerflasche für den Apéritif und goss ihn in die Flöten ein, worin er golden aufschäumte und dann wieder zurückfiel, bis sie den nächsten Tropfen nachgoss. „Auf unser siebtes Weihnachten“, stieß sie mit ihm an. „Frohe Weihnachten, mein Engel“, prostete er ihr zu. Sie setzten sich zu Tisch, wo sie mit der Vorspeise begannen. Während Michael Boublé von CD erklang, unterhielten sie sich angeregt über das verlaufene Jahr im Betrieb und im Freundes- und Verwandtenkreis.
Stefan ertappte sich, dass er manchmal nicht hörte, was sie sagte, da er in vorfreudigen Gedanken verloren war. Morgen! Morgen würde er ihn endlich wiedersehen – seinen Weihnachtsengel. Bianca brachte nun den Braten herein. Er zerging wie immer auf der Zunge. Er lobte ihre Kochkunst und goss ihnen noch ein Glas Wein ein. Bianca hob das Glas: „auf die nächsten sieben Weihnachten!“ Er lächelte etwas gezwungen und hob ebenfalls das Glas. Als er mit ihr anstieß, verschüttete er unachtsam etwas Wein auf die weiße Leinentischdecke. Bianca sprang auf und holte ein Tuch, um es abzuwischen. Ihm kribbelte es in den Beinen. Am liebsten wäre er jetzt gleich aufgesprungen, ins Auto gestiegen und losgefahren – zu seinem Engel.
Nach dem Essen setzten sie sich an den Kamin und genossen noch ein schönes Glas Whiskey. Stefan rauchte eine Cohiba dazu. „So wie jetzt müsste es immer sein“, seufzte Bianca. Stefan ließ seine Gedanken dem Zigarrenrauch folgen und befand sich schon in ganz anderen Welten. Bianca gähnte. „Ich gehe schon mal vor. Kommst du gleich?“ Er nickte gedankenverloren. Während sie die Treppe hochstieg, schaltete er den Fernseher ein und zappte sich durchs Weihnachtsprogramm. Welche Ausrede könnte er dieses Mal anbringen? Er wollte keine Szene. Nicht heute. Nicht am Vorabend seines eigentlichen Weihnachtsfestes.
Er griff zum Handy und wählte die Nummer in seinem Adressbuch. Am anderen Ende ging die Mailbox an. Die wohlvertraute Stimme forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen. „Ich bin’s, mein Engel. Ich werde morgen um vier Uhr bei dir sein. Ich kann’ s kaum noch erwarten. Zieh dich sexy an. Küsse,“ sprach er drauf und legte auf. Er verfolgte mit halbem Auge weiter das Fernsehprogramm. Es vermischte sich in seinem Kopf immer mehr mit halben Wachträumen, und schließlich fiel er auf dem Sofa unter die Decke gekuschelt in tiefen Schlaf.
Bianca lag in dem leeren, großen Ehebett und wälzte sich unruhig hin und her. Ihre unbändige Sehnsucht, Stefan endlich wieder zu berühren, zu schmecken, zu riechen, brannte in ihrem Bauch und bereitete ihr fast Schmerzen. So lange erduldete sie nun schon, dass er sich ihr entzog! Sicher, er hatte ihr ja damals im Unipark die Wahrheit über seine große Liebe erzählt. Aber danach hatte er sich doch zärtlich und mitunter sogar leidenschaftlich auf sie eingelassen. Er hatte immer betont, wie gut sie ihm tue, wie wohl er sich mit ihr fühle. Und nicht zuletzt deshalb hatte sie ihm vertraut und war die Ehe mit ihm eingegangen. Außerdem hatte er ja die Spur seines „Engels“ restlos verloren, wie er ihr erzählte. Sie nahm auch keinerlei Anzeichen wahr, dass da jemals wieder etwas gewesen wäre. Doch ungefähr zeitgleich mit ihrer gemeinsamen Firmengründung hatte er nach und nach begonnen, sich ihr körperlich, später auch, wie sie meinte, emotional zu entziehen. Sie konnte sich einfach keinen Reim auf sein verändertes Verhalten machen. Lag es daran, dass sie keine Kinder bekamen? Aber das lag eindeutig nicht an ihr, sie hatte sich beim Frauenarzt untersuchen lassen. Abgesehen davon, die wenigen Male seit ihrer Hochzeit, die sie noch miteinander geschlafen hatten, hatte er es irgendwie immer so geschickt angestellt, dass sie gar nicht hätte schwanger werden können, außer durch einen sehr großen Zufall. Sie nahm schließlich, wie so oft in letzter Zeit, eine Schlaftablette, löschte das Licht und drehte sich auf die Seite.
Stefan erwachte vom Scheppern des Geschirrs in der Küche im morgensonnedurchfluteten Wohnzimmer. Bianca betrat mit Gummihandschuhen und Schürze den Raum. „Na, da war wohl einer gestern müde?“ neckte sie ihn. Erleichtert atmete er auf. Sie schien nicht nachtragend zu sein. Der Frühstücktisch war schon gedeckt, aromatischer Kaffeeduft durchzog den Raum. Er ging nach oben und gönnte sich eine ausgiebige Dusche, spülte sich zum Schluss kalt ab, seine Poren zogen sich verschreckt zusammen, er aber bekam wieder einen klaren Kopf. Darin hämmerte nur ein Gedanke: „Heute Abend ist Bescherung!“ Er stellte sich vor, wie er seinen Engel mit Küssen bedecken und ganz langsam auskleiden würde. Es regte sich schon etwas in seinem Schoss bei dem Gedanken. Schnell stieg er in seine Kleider, eine dunkle Anzughose und ein weißes Hemd, und prüfte mit der Hand an der Wange seinen Bartwuchs. Da war doch schon wieder eine Rasur fällig. Sein Schatz liebte ihn eben schön glatt. Er seufzte vor Vorfreude.
Nach dem Frühstück packte er bei verschlossener Tür seine Sporttasche. Zärtlich strich er über die Verpackung des Geschenks. „Liebling, denkst du an mein Geschenk für deine Mutter?“ ertönte Biancas Stimme von unten. Rasch zog er den Reißverschluss der Tasche zu. Er wusste, Biancas Geschenk für „seine Mutter“ würde wie immer eine große Topfpflanze sein, es bestand also kein Risiko, dass sie es in die Tasche stecken wollte. Er war nur manchmal beunruhigt, ob Bianca nicht doch irgendwann mit ihm gemeinsam zu seiner Mutter fahren wollte. Sie wusste nicht, dass sie bereits seit zwei Jahren tot war. Aber er ließ sie in dem Glauben, er fahre jeden ersten Weihnachtstag über Nacht zu ihr, da sie ja so weit weg, in Hannover wohnte. Bianca fuhr auch am ersten Feiertag zu ihrer Mutter ins nahe gelegene Heidelberg. In Wahrheit ging seine Reise jedoch ins Rheinland, nach Köln. Dort hatte er ja vor ihrer Ehe gelebt und studiert, und dort hatte er seinen Engel kennen gelernt. 20 Jahre kannten sie sich jetzt schon – ein ganz besonderes Jubiläum.
Damals, auf einer Weihnachtsfeier im Studentenwohnheim, war sein Engel verspätet auf der Party aufgetaucht und zog sogleich alle Blicke auf sich – er war unglaublich sexy gekleidet und hatte ausdrucksstarke, vor Spott blitzende Augen, die sich ständig flüchtig mit anderen Augenpaaren trafen. Auch er erhaschte einen solchen Blick. Er war beunruhigt. Was er darin las war ihm neu und verwirrte ihn – in dem Blick lag ein Versprechen auf Lust und Sinnlichkeit, auf Grenzüberschreitungen und Hingebung einer ganz neuen Art. Er stellte sich wie unabsichtlich neben den Engel ans Buffet und griff im gleichen Moment wie er nach dem Lachshäppchen. Ihre Blicke trafen sich, der Engel lachte und nahm das Häppchen und führte die Gabel zu Stefans Mund. Es war für ihn ein unglaublich aufregender Moment, den Lachs von seiner Gabel zu lutschen. Danach griff der Engel nach seiner Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Sie tanzten den ganzen Abend wild und ausgelassen zu den Klängen von Deep Purple und Iron Maiden. Zwischen einigen Songs gingen sie ein paar Mal hinaus, um sich an der kühlen Winterluft zu erfrischen. Sie unterhielten sich über ihr Studium und ihre Affairen und ihre eigenen Pläne für ihr Leben, das noch jung und unverbraucht vor ihnen lag. Der Engel studierte Filmwissenschaften und wollte Regisseur werden. Er vertraute Stefan seine Idee für das erste Drehbuch an. Stefan erzählte ihm von seinen Zweifeln, ob er mit seinem BWL-Studium später etwas Sinnvolles würde bewegen können. Und von seinen Zweifeln, was all die Frauen in seinem Leben bisher anging. Er gestand dem Engel, dass er noch nie so fasziniert und erregt war von einer von ihnen wie von ihm. Der Engel lachte und begann, ihn zu küssen. Zuerst zart und verspielt, dann immer fordernder. Er presste seinen trotz der Kälte außen erhitzten Körper an ihn. Es war eine völlig neue Erfahrung für Stefan. Nur anfangs wehrte sich etwas in ihm, dann ließ er sich forttragen von dieser ungewohnten, intensiven Nähe und Leidenschaft. Erst, als doch die kalte Luft siegte und Stefan anfing zu zittern – oder war es die Erregung? – gingen sie wieder hinein. Eben lief das Lied „Last Christmas“ von George Michael. Stefan nahm die Hand des Engels und fing an, mit ihm zu tanzen. Engumschlungen drehten sie sich auf der allmählich leeren Tanzfläche. Die verstohlenen Blicke der anderen ignorierte Stefan. Nur noch sie zwei zählten – alles um sie herum verschwand wie in einem kosmischen Wirbel. Später fuhren sie gemeinsam zu seinem Zimmer in der Südstadt, wo sie eine Nacht miteinander verbrachten, die Stefan nie vergessen sollte. Es war, als sei sein altes Ich gestorben und er als neuer Mensch wieder geboren.
Eine wunderbar zärtliche, oft auch verrückte Beziehung entwickelte sich im Lauf des Winters zwischen ihnen. Obwohl es Stefan nicht entging, dass sein Engel auch mit anderen Männern flirtete und auch einmal eine Party mit einem von ihnen verließ, vertrauten sie sich gegenseitig völlig, kannten weder Eifersucht noch Besitzansprüche. Sie wussten um die exklusive Verbindung, die zwischen ihnen bestand, in die niemand anders einzudringen vermochte. Der Engel beendete sein Studium zwei Semester vor Stefan und ging an eine Filmschule in den USA. Stefan warf sich in sein Studium, um ihm dann schnell nachzufolgen. Zunächst hielten sie noch Kontakt per Telefon und langer Briefe, in die sie sich Fotos legten. Doch nach etwa drei Monaten meldete sich der Engel nicht mehr. Und wenn er anrief, fand er immer nur seinen Anrufbeantworter vor. Auch auf seine Briefe antwortete er nicht mehr. Stefan litt unendlich, drei Monate lang zog er sich zurück, sprach mit keinem seiner Freunde darüber, schrieb unzählige Briefe, die er nicht abschickte. Eines Tages, als er dann doch wieder über seinen Büchern im Unipark saß, lächelte ihn eine schöne, blonde Frau an. Irritiert lächelte er zurück. Sie kam zu ihm herüber, setzte sich neben ihn. „Tut mir leid, dass ich so lächeln musste, aber du hast solche Löcher in die Luft gestarrt. Du sahst aus wie ein liebeskranker Elch.“ Stefan musste nun auch lächeln. Und langsam machte sich seine Traurigkeit Luft in Worten, die er dieser ruhigen Zuhörerin, die sich ihm als Bianca vorstellte, erzählte. Zum Schluss nahm sie seine Hand und meinte: „Du wirst deinen Weg schon finden“. Er legte seufzend seinen Kopf an ihre Schulter und sie strich über sein Haar. „Komm, lass uns noch einen Kaffee zusammen trinken gehen“, schlug sie vor.
Er folgte ihr, denn diese innere Ruhe und der Frieden, den er durch ihre Gegenwart verspürte, tat ihm unendlich gut. Und aus ihrer Freundschaft wurde zu seinem Erstaunen und ohne sein großes Zutun dann im Laufe des Sommers eine Beziehung. Sie bereiteten sich gemeinsam auf die Prüfungen vor, feierten ihr Examen gemeinsam und gründeten ein Jahr später mit einem privaten Kredit ihrer vermögenden Eltern eine gemeinsame Firma, eine Unternehmens-beratung. Sie erbten ein Haus ihrer Tante in der Nähe von Heidelberg, wo auch ihre Eltern zuhause waren. Wenige Zeit später heirateten sie. Stefan dachte immer seltener an seinen Kölner Engel, führte das Leben, das sich so irgendwie für ihn ergeben hatte. Er war sicher nicht glücklich, nicht verliebt, aber ruhig und zufrieden. Irgendwann hatten sie ihre erste Homepage für die Firma erstellt. Eines Tages rief er wie jeden Morgen dort seine Emails ab von seiner Email-Adresse, die auf seinen Namen lautete – da stutzte er: ein Absender mit Namen „Weihnachtsengel“ hatte ihm geschrieben. War das nur wieder lästiger Spam – oder? Er wagte es nicht zu hoffen, ging trotzdem das Risiko ein und öffnete sie: „Herzlichen Glückwunsch zu deiner Firma und deiner tollen Partnerin!“ stand da, und wenige Zeilen später hörte er erschüttert auf zu lesen: die Mail war wirklich von SEINEM Engel! Er erzählte ihm, dass er in den USA zunächst großen Erfolg mit seinem ersten Film gehabt hatte. Er begründete mit keiner Silbe, warum er sich nicht mehr bei ihm gemeldet hatte, setzte einfach wieder dort an, wo sie sich aus den Augen verloren hatten, als lägen nicht Jahre dazwischen.
Stefan war erschüttert, aber auch aufgeregt. Er zweifelte: sollte er ihm noch einmal vertrauen? Und was war mit Bianca? Sie durfte nichts erfahren, wenn er wieder Kontakt mit seinem Engel aufnehmen sollte. Schließlich schrieb er ihm eine kurze Email, an dessen Ende der Satz stand: „Ich muss dich wieder sehen. Sage mir, wann und wo.“ Er klickte auf senden und stieß einen Seufzer aus. Jetzt war der Schritt getan. Er hatte es all die Jahre gewusst. Trotz seiner Ehe mit Bianca und seinem geregelten Leben wollte er nichts anderes als seinen Engel zurück. Er hatte ihm seine Handynummer mitgeschickt. Eines Abends, als Bianca schon im Bett war, er noch im Wohnzimmer saß, klingelte es. „Hallo, mein Süßer“, erklang die wohlvertraute, spöttische Stimme. Sie sprachen stundenlang miteinander. Am Ende des Gesprächs verabredeten sie, dass Stefan ihn am ersten Weihnachtsfeiertag besuchen sollte, im Anschluss an den Besuch bei seiner Mutter. Und so regelten sie jedes ihrer Treffen: Stefan gab mehrmals im Jahr an, seine schon kränkliche Mutter zu besuchen, auf der Rückkehr aus Hannover machte er jedes Mal einen Zwischenstopp in der Nähe von Köln, wo der Engel jetzt wohnte. Dieses Jahr waren es also schon 20 Jahre, dass sie sich kannten. Trotz all der Entfernung und Heimlichkeiten. Nie hatte ihm jemand seinen Platz ernsthaft streitig gemacht. Wenn das nicht Treue war! Er verdrängte die Gedanken an Bianca, stieg die Treppe hinunter, brachte die Tasche und die Topfpflanze in seinen Sportwagen, zog seinen Mantel an und küsste Bianca zum Abschied flüchtig auf die Wange. „Fahr vorsichtig!“ bat sie ihn.
Er startete den Motor und fuhr auf die Zubringerstraße zur Autobahn. Er kam erstaunlich zügig durch, hörte während der Fahrt englische Weihnachts-Songs, besonders George Michael’s „Last Christmas“ spielte er wieder und wieder ab und summte mit. In Köln-Porz stand er wie immer im Stau, bog auf die nächste Umgehungsstraße ins Bergische Land ab und folgte der Landstraße für 30 Kilometer. Viertel vor vier bog er in die kleine Straße mit den weihnachtlich geschmückten Einfamilienhäusern ein. Bei einem, in dessen Dachfenster eine rote Lichterkette ein Herz formte, parkte er seinen Wagen. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Womit sein Engel ihn dieses Mal wieder überraschen würde? Er klingelte am obersten Klingelknopf der Einliegerwohnung dieses Hauses, das einer alleinstehenden, älteren Dame gehörte, stellte ihr die Topfpflanze von Bianca vor die Tür – natürlich nicht, ohne vorher die Grußkarte durch eine eigene ersetzt zu haben und stieg die schmale Wendeltreppe hoch. Oben stand die Tür weit offen und es erklang wieder George Michael’ s Weihnachtssong. Es war IHR Lied. Er trat ein – und sein Anblick raubte ihm den Atem: Gabriel trug ein goldenes Latex-Minikleid mit Strapsen, darunter einen weißen Latexbody, bei dem sich einfach alles abzeichnete, kniehohe, goldene Lackstiefel mit Plateauabsätzen und eine blonde, lange Lockenmähne. Auf dem Rücken weiße, flauschige Federflügel. Stefan schmiss die Tasche auf den Boden und riss ihn an sich, küsste ihn lange und leidenschaftlich. „Willkommen, mein Teufelchen“, kicherte Gabriel zwischen zwei Küssen. „Du kannst einen unschuldigen Engel ja zur Sünde verführen“, stöhnte er kokett und ließ seine Hand langsam über seine Hemdbrust wandern.
Rasch hatte er die Knöpfe geöffnet und rieb und zog nun seine empfindsamen Brustwarzen, bis sie hart aufrecht standen. Dies tat auch noch etwas anderes bei ihm. Die Hände wanderten nun tiefer, öffneten den Reißverschluss seiner Hose und griffen geschickt hinein. Eine heiße Welle der Lust durchflutete ihn, vom Schoss durch den ganzen Körper nach oben steigend, er zog Gabriel auf das Bett, und sie liebten sich völlig selbstvergessen. Stefan wand sich vor Lustwellen, die in ihm auf- und abebbten, oder eher vor lodernder Flammen, die sich immer wieder neu entzündeten. Ihre Leiber tanzten miteinander, fielen in sich hinein, erhoben sich wieder, entflammten erneut. Stundenlang gaben sie sich ihrem Rausch hin. Die Sonne versank schon, als sie erschöpft nebeneinander lagen und Gabriel ihm die Brusthaare kraulte. „Mein kleiner Mephisto“, säuselte Gabriel, „ wir sind noch eingeladen auf einer „Angels and Devils Party“ in Köln. Willst du dich nicht auch umziehen?“ Und er packte aus dem Kleiderschrank ein mondänes, schwarzes, langes Abendkleid, Netzstrümpfe, eine schwarzhaarige Perücke und Pumps mit Stilettoabsätzen aus. „Und dieses Utensil nicht zu vergessen!“ kicherte Gabriel und zog hinter dem Schrank einen Dreizack hervor. „Du hast auch wieder nichts ausgelassen!“ lachte Stefan und zog sich die Verkleidung an. „Du siehst teuflisch gut aus!“ stöhnte Gabriel und küsste ihn noch einmal auf den Mund. „Jetzt aber los, sonst bekommen wir nichts mehr vom Buffet mit!“ spornte er Stefan an. Sie zogen ihre Mäntel über und schlichen sich in der Dunkelheit zu Stefans Sportwagen. Auf der Fahrt nach Köln spielten sie die CD „A night at the Opera“ von Queen ab und sangen laut mit. Die frivole Party im Gloria versprach wieder ein rauschendes Fest zu werden.
Auf der Party hatten sie ausgelassen getanzt, das köstliche Buffet genossen, mit vielen anderen Männern geflirtet, etliche Cocktails und Champagner in Strömen genossen, und Gabriel hatte den Preis für das beste Kostüm gewonnen – eine Wochenendreise nach Amsterdam für zwei Personen. Auf der Heimfahrt im Morgengrauen begann es zu schneien, aber sie träumten schon von „Tulpen in Amsterdam“, was sie bei geöffnetem Fenster laut in die Nacht hinaussangen. Gabriel beugte sich nach unten und öffnete Stefans Hose. Sie waren gerade auf die schneebedeckte Landstraße abgebogen. Stefan griff nach dem Schalthebel, behindert durch Gabriels Kopf zwischen seinen Beinen, griff er daneben, dann rutschte er von den Pedalen ab, der Wagen schlingerte, er versuchte, das Lenkrad rumzureißen, dann überschlug sich alles um ihn her, Gabriel gab einen röchelnden Laut von sich, Stefan spürte einen harten, heißen Schlag durch seinen Rücken gehen, dann war alles um ihn her schwarz...
Bianca saß allein am Frühstückstisch und blätterte unaufmerksam in der Zeitung. Wo blieb Stefan nur? Sie war jetzt schon seit zwei Tagen von ihren Eltern zurück, und eigentlich hätte sie ihn gestern schon erwartet. Ob es Komplikationen mit seiner Mutter gab und er länger bleiben musste? Aber dann hätte er doch angerufen. Sie ging zum Telefontisch im Flur und suchte nach ihrem alten Adressbuch. Irgendwo musste dort die Telefonnummer von Stefans Mutter eingetragen sein... Plötzlich klingelte das Telefon. Sie zuckte zusammen, irgendwie hörte sich das Klingeln in ihren Ohren unheilvoll an. „Ja, Westhoff hier?“ meldete sie sich mit leicht zitternder Stimme. „Guten Tag, Frau Westhoff“, meldete sich eine ihr unbekannte Männerstimme am anderen Ende. „Sind Sie die Frau von Stefan Westhoff, wohnhaft in...“ Sie wartete nicht ab, sondern stieß ein „Ja, das bin ich!“ hervor. „Hier ist das städtische Krankenhaus in Bergisch Gladbach, Oberarzt Dr. Heinichen“, stellte sich die Stimme vor. Bianca drehte sich alles. „Ist Stefan etwas zugestoßen?“ schrie sie nun fast in den Hörer. „Er hatte einen Autounfall und liegt auf der Intensivstation. Er ist aber inzwischen außer Lebensgefahr“, setzte die Stimme hinzu. Bianca schwankte. Sie musste sich setzen. „Bergisch Gladbach? Wieso Bergisch Gladbach? Ich dachte, er wollte nach Hannover zu seiner Mutter fahren? Was ist denn genau passiert?“ Sie merkte, wie der Oberarzt stockte, offensichtlich nach den richtigen Worten suchte. Wie in Trance hörte sie ihn erzählen, dass Stefan in seinem sich überschlagenen Wagen gefunden wurde an der Landstraße, neben sich einen Mann in Frauenkleidern, der schon tot war. Und auch er selbst trug ein Damenkleid, Netzstrümpfe und High Heels. Ob sie bald kommen könne? Er liege noch im Koma, und man brauche vor einer Verlegung in eine Spezialklinik für Neurochirurgie und eine dringende Operation ihre Einwilligung als Angehörige sowie einige Angaben. Mechanisch notierte sie die Adresse des Krankenhauses. Als sie aufgelegt hatte, saß sie noch eine ganze Weile wie erstarrt an dem Tischchen im Flur. Ihre Gedanken überschlugen sich. Warum hatte ihr Stefan von seinem Treffen mit dem Mann nichts erzählt? War dieser der vor langer Zeit verschwunden geglaubte Gabriel, von dem er ihr bei ihrem Kennenlernen erzählt hatte? Wie lange schon traf er ihn wieder – und offensichtlich heimlich? Wieso hatte er ihr nicht vertraut?
Wieso trug er Frauenkleider? Von dieser Neigung hatte er ihr noch nie etwas erzählt. Der Arzt hatte erwähnt, dass beide alkoholisiert waren, von einer Party in Köln in einem Schwulentreff auf dem Rückweg waren, als sie sich überschlugen. Das war nicht der Stefan, den sie glaubte, zu kennen. Ihr Stefan war stets verantwortungsvoll, fuhr nicht mit Alkohol, und verachtete peinliche Zurschaustellungen von intimen Neigungen. Niemand sollte auch laut seinen Angaben von seiner „Jugendsünde“ erfahren, er verkehrte hier nicht in homosexuellen Kreisen, gab sich oft sogar betont homophob vor Freunden. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie fasste sich wieder, versuchte klar zu denken und die wichtigsten Dinge für ihn zusammen zu packen. Doch ständig diese Frage: Warum? Warum hat er mir nicht vertraut? Und was hat er bei ihm gefunden, was ich ihm nicht geben kann? Liebt er mich überhaupt noch? Hat er mich je geliebt? Sie packte die Tasche mit seinen und ihren Sachen ins Auto und fuhr los. Sie musste sich auf die Fahrt konzentrieren. Sie verdrängte ihre wildgewordenen Gedanken. Der Arzt hatte von einer wichtigen Operation gesprochen, Neurochirurgie. Was, wenn er gelähmt oder behindert bliebe? Wollte sie sich das wirklich zumuten? Abwarten, dachte sie. Er wird mir bestimmt einiges erklären können, wenn er wieder bei Bewusstsein ist. Wir können doch sonst immer über alles sprechen.
Als Stefan in der Kölner Spezialklinik aus der Narkose erwachte, saß Bianca an seinem Bett und schaute ihn forschend an. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie hatte die letzten Nächte im Hotel in Köln viel wach gelegen und nachgegrübelt. Die Ärzte hatten ihr keine sehr großen Hoffnungen gemacht. Sehr wahrscheinlich würde Stefan trotz der Operation nicht wieder laufen können. Man konnte froh sein, wenn man die Beweglichkeit des Oberkörpers und der Arme erhalten konnte. Sie hatte in sich hinein gefühlt. Liebte sie ihn so sehr, dass sie für ihn sorgen würde? Auch, wenn er sie nicht mehr liebte? Konnte Sie ihm seinen Vertrauensbruch verzeihen?
Stefan hob leicht die Hand über die Bettdecke. Es fiel ihm unendlich schwer. Aber er wollte sie berühren. Sie ergriff seine Hand und drückte sie fest. Das entlockte ihm ein erleichtertes Lächeln. Sie hielt zu ihm, sagte ihm dieser Händedruck. Sie verzieh. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. Er roch ihr leichtes Parfum und berührte zärtlich ihre Wange. Sie setzte sich wieder hin. „Wir müssen reden“, sagte sie. „aber später, jetzt erhol dich erst mal.“ Sie hielt weiter seine Hand und schaute ihn unentwegt an. Er schluckte. Ihm kam wieder die Erinnerung hoch an jene Nacht – und an Gabriel. „Wo ist...?“ fragte er mit zitternder Stimme. Sie legte den Finger auf den Mund. Da wusste er es, was er die ganze Zeit in seinen Komaträumen geahnt hatte – Gabriel war tot. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihn. Die Krankenschwester kam herein. „Bitte warten Sie draußen“, sagte sie zu Bianca. Und Bianca verließ schweigend das Zimmer.
„Unser achtes Weihnachten. Prost, mein Schatz“, hob Bianca das Glas, gab ihm seines in die Hand, wobei sie sich zu ihm hinunter beugte. Sie schob seinen Rollstuhl an den Tisch, wo bereits das Chateaubriand wartete. „Auf dass wir noch viele, gemeinsame Weihnachten verbringen“. Still hob Stefan das Glas. Aus der Glasvitrine gegenüber schauten ihn seine eigenen, verzweifelten Augen an. Er blickte auf den weihnachtlich dekorierten Esstisch. Dort stand ein kleiner, goldener Engel, der den Mund zum Singen geöffnet hatte. In Stefans Innerem formte sich ein stummer Schrei.