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Gabi & Bumpel
Seit Tagen erwacht Gabi mit einem Gefühl von Endlichkeit. Am Himmel sieht sie letzte Sterne verblassen, es hat zu dämmern begonnen. Neben ihr schläft Bumpel, die Decke ist mit Raureif überzogen. Die Sterne waren immer schon da, denkt Gabi, werden immer da sein, auch wenn sie jeden Morgen aufs Neue verschwinden.
Ein Motorengeräusch wird lauter, Scheinwerfer erfassen die beiden. Das grelle Licht wischt über sie hinweg und verschwindet. Gabi kneift die Augen zu, dreht den Kopf zur Seite. „Bumpel! Wach auf, wir müssen weg!“
Gabi kommt nur schwer hoch, die Fünfzig liegen weit hinter ihr. Sie reibt sich die Knie und fragt sich: Wie lange das noch so weiter gehen kann?
Sie hilft Bumpel auf die Beine zu kommen. Eilig packen sie ihre Sachen zusammen, heben die Kartonagen vom Boden auf, schieben sie hinter das summende Kühlaggregat. Gabi hält kurz die klammen Hände in den lauen Luftstrom. Die Knöchel schmerzen, dabei ist es noch nicht einmal richtig kalt geworden. Dann schlüpfen die beiden durch das offene Gitter und machen sich davon.
Der Metzgermeister sieht sie weggehen. Er zieht den Schlüsselbund aus der Schürze, schiebt das Gitter zu und sperrt ab.
„Haben die schon wieder da gepennt?“, ruft seine Frau vom Haus her.
Er nickt nur – heute Abend wird er wieder aufschließen.
Vier Straßen weiter erlöschen die ersten Straßenlaternen. Bumpel bleibt stehen, fasst sich ans Kreuz. „Gabi, heut Abend gehen wir aber in die Mission, okay?“
Gabi reibt ihm über den Rücken, lächelt, geht nicht drauf ein. Nie wollte er rein, immer draußen bleiben, egal was war! Gabi sieht ihn an. Was war er für ein Kerl gewesen! „Lass uns zum Brunnen“, schlägt sie vor, „bisschen in der Sonne sitzen, hm.“
Die Treppe zum Kirchplatz hoch stützen sie einander. Keine zehn Stufen und doch wie ein Berg. Oben angelangt betrachtet Gabi die beiden langen, gebeugten Schatten vor ihnen. Das Gefühl vom Aufwachen stößt ihr bitter auf.
„Morgen, Toni!“, grüßt Holger, der Optiker, beim Eintreten ins Café.
„Schau dir die an“, sagt Toni, „die vertreiben mir die Kundschaft!“
„Komm schon“, entgegnet der Holger, „es ist gerade mal sieben. Du hast erst zwei Minuten auf, wen kümmern die schon?“
„Klar, dir kann’s egal sein! Vor deinem Laden lungern die ja nicht rum!“ Toni geht vom Fenster weg und stellt einen Pappbecher unter die Siebträgermaschine. Fauchend läuft heißer Kaffee hinein. Als das Zischen verstummt, nimmt er den Becher und geht zur Tür.
„Was hast du vor?“, will Holger wissen.
„Bin gleich zurück!“
Gabi legt Bumpels Hand in ihre und schaut ihn an. Er sitzt neben ihr auf einer der Bänke und hält die Augen geschlossen. Auf den langen Haaren seiner nach allen Richtungen abstehenden Augenbrauen glitzern winzige Tröpfchen in den ersten Sonnenstrahlen. Die Wollmütze tief in die Stirn und den Kopf zwischen die Schultern gezogen sitzt er da und reibt mit dem Daumen über ihre Finger.
„Leute!“, ruft Toni, fünf Schritte bevor er sie erreicht. „Ich hab hier was für euch!“
Gabi dreht den Kopf zur Stimme, sieht den einen Becher in seiner Hand. Bumpel öffnet die Augen, steht sofort auf und greift sich ihre Sachen. Als Toni ganz heran ist, weicht er zurück.
„Tut mir `nen Gefallen, okay“, meint Toni lächelnd. „Sucht euch ein anderes Plätzchen!“ Er stellt den Becher neben Gabi auf die Bank und schaut sie erwartungsvoll an.
„Setz dich wieder hin!“, sagt Gabi ruhig, aber Bumpel bleibt stehen.
Toni nimmt den Becher, packt Gabi am Arm und zieht sie von der Bank hoch.
„Hey!“, schreit Bumpel, aber seine Stimme bricht und er muss husten. Mit den Taschen in Händen geht er auf Toni zu, der ihm mit einer einzigen Drohgebärde den Schneid abkauft.
„Schon gut“, sagt Gabi, „wir gehen ja!“
Aber damit gibt Toni sich nicht zufrieden. Er schiebt sie vor sich her zur Treppe.
Gabi möchte sich wehren, protestieren, aber ihr fehlt die Kraft dazu.
„Komm schon!“, ruft der Optiker vom Café her. „Was soll das denn?“
Toni lässt sich davon nicht beirren. Er hebt kurz den Zeigefinger und bugsiert Gabi die Stufen hinunter.
Bumpel trottet mit tränennassen Augen hinterdrein. Als er in Gabis Blickfeld gerät, reißt sie sich los. Sie sieht ihn oben an der Treppe stehen und nimmt alles zusammen, was ihr geblieben ist. „Wir gehen ja“, sagt sie zu Toni und hebt beschwichtigend die Hände, „aber ich muss ihm jetzt helfen!“
Toni schaut zu dem alten Mann hoch; wie ein Kind steht er da.
„Haut einfach ab!“, keift er und will den Becher auf einer der Stufen abstellen, doch der kippt um und läuft aus.
Als er endlich geht, eilt Gabi so schnell es ihr möglich ist zu Bumpel. Bei ihm angelangt schmiegt sie ihre Hände an seine Wangen und küsst ihn auf die bebenden Lippen.
„Das hätte der sich nie getraut!“, schnieft Bumpel, Rotz läuft ihm aus der Nase. „Ich hätte den –“
„Ich weiß, Bumpel, früher hätte er das nicht gewagt.“
„Warum?“, fragt Bumpel, zieht den Rotz hoch und lässt den Kopf auf ihre Schulter sinken. Gabi legt die Arme um ihn. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, Bumpel.“
Am Abend stehen sie vor der Mission. Bumpel schiebt sogleich die Tür auf, warme, feuchte Luft strömt heraus. Gabi bleibt stehen, schaut zurück, es wird schon dunkel.
„Kommst du?“, fragt Bumpel.
Gabi dreht sich zu ihm, lächelt. „Nein“, flüstert sie, „ich kann da nicht reingehen.“
Bumpel hält inne, sieht sie an, seine Schultern sacken weg. „Ich weiß, aber –“, beginnt er und stellt die Taschen ab.
„Gabi –“, versucht er es noch einmal, doch sie hebt die Hand.
„Du brauchst das jetzt, ich nicht.“ Sie geht zu ihm, streicht ihm über den Arm. „Geh rein, hol dir was Warmes!“
Bumpel schaut sie lange an, kalter Wind streicht ihm um die Beine.
Seinem Blick standzuhalten kostet Gabi alle Kraft, die noch übrig ist.
Dann nickt er. „Wir sehen uns morgen, ja?“
Gabi lächelt, nickt und schafft es nicht, ihm zu antworten – sich zu verabschieden.
Bumpel dreht sich um und geht rein. Die Tür fällt zu, klemmt die Taschen ein.
Auf dem Bürgersteig schaut Gabi sich um. Erste Schneeflocken treiben im Licht der Schaufenster, Kälte schlägt ihr ins Gesicht.
Sie geht die Straße runter bis zur Ecke, wo die große Baustelle anfängt; ein ganzer Straßenzug soll hier neu gestaltet werden.
Gabi setzt sich in einen der Hauseingänge und zieht die Knie an die Brust.
Nun schaut sie nur mehr dem Spiel der Flocken zu. Ein feiner Teppich aus Kristallen bedeckt schon ihre Schuhe.