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Göttin

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02.11.2001
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Göttin

Geliebte Sophie,

nur einmal wünsche ich mir noch Dein Lächeln, einmal noch will ich Tränen in Deinen Augen glänzen sehen.

Sie sagen, Du hättest keine Flügel. Doch ich habe sie gesehen, habe ihre Weichheit zwischen meinen Fingern gefühlt und ihre Süße mit meiner Zunge gekostet. Hab ich Dir nicht gezeigt, wie man fliegt? Und hast Du nicht wie ein Engel mit Deinen Schwingen die Wolken durchbrochen und mich mitgenommen?

Sie sagen, Du würdest mich hassen. Doch ich habe hundertfach gehört, wie Du Deine Liebe herausgeschrien hast, wenn ich Dich nahm. Hast Du nicht gesagt, daß ich es bin, in dessen Armen Du sterben willst?

Sie sagen, Du wünschst mir den Tod. Doch sie haben nicht verstanden. Du warst es doch, die mir beigebracht hat, daß der Tod nichts weiter ist, als die Vervollkommnung des Lebens. Und bin ich nicht tausendmal zwischen Deinen Schenkeln gestorben, nur um in einem Kuß von Dir wiederaufzuerstehen?
Der Tod ist meine einzige Zuflucht, denn weiterleben würde bedeuten, ohne Dich zu sein. Wie könnte ich jetzt noch auf Dich verzichten, wo ich das Gefühl Deiner schlanken Arme um meinen Hals kenne? Wie könnte ich weiterleben, ohne Deine Zunge, Deine Lippen, Deine Augen, Deinen anbetungswürdigen Körper? Du weißt, daß ich ohne Dich nicht mehr existieren kann und daß Du mir den Tod wünschst, zeigt mir, daß Du mich wirklich verstanden hast.

Deine Reinheit und Vollkommenheit waren der Grund, weshalb ich Dir vom ersten Moment an verfallen war. Ich habe die wahre Natur der Liebe in Dir erfahren - In der kindlichen Weisheit Deiner Worte, in Deiner sahnesanften Haut, Deinem flammenden Haar, diesen weitaufgerissenen Augen, blau und unergründlich wie ein Bergsee, brennendes Eis, kälter als alle Feuer der Hölle.

Als ich Dich zum ersten Mal sah, damals, im Haus Deines Vaters, dachte ich, der Himmel hätte sich aufgetan und seinen schönsten Engel ausgespuckt. Trotz Deiner verweinten Augen und obwohl Dir Schwarz nicht steht, war ich von Deiner Verletzlichkeit geblendet und unfähig, meinen Blick länger als Sekunden von Dir zu wenden. Nie hatte ich etwas Schöneres gesehen, Du schienst wie ein Wesen aus einer anderen, vollkommenen Welt. Jede Deiner Bewegungen war von makelloser Anmut, Dein von Trauer gezeichneter Blick schien leer, doch ich konnte das Feuer sehen, das tief in Dir brannte.
Ich heuchelte Trauer, wie es alle taten, doch außer Dir gab es wohl niemanden, der den plötzlichen Tod Deiner Mutter wirklich bedauerte. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wie eine so derbe, grobschlächtige und eitle Frau mit schlechten Manieren ein so zierliches, liebliches, elfenartiges Wesen wie Dich hat hervorbringen können.

Weiß der Teufel, wie es mir gelang, das Vertrauen Deines Vaters zu erschleichen und die Anstellung als Dein Privatlehrer zu bekommen. Es war, als hätten die Götter alle Schleusen des Glücks für mich geöffnet. Das Leben war zum Himmel auf Erden geworden und ich hätte ohne zu zögern meine Seele geopfert, wenn es für immer so hätte bleiben können. Vier Jahre lang sollte das Glück für mich blühen.

Umkreist haben wir uns, uns geneckt, fast getanzt. So gekonnt hast Du die Augen niedergeschlagen und das scheue Reh gespielt. Ich hätte es Dir fast abgekauft, wären da nicht diese Blicke gewesen, die ich immer nur aus den Augenwinkeln sah, Blicke, die fast anzüglich waren in ihrer Deutlichkeit.
Du hast mit mir gespielt, hast mich Dich jagen lassen wie der Panther die Beute. Und wie ein Raubtier habe ich dich verschlungen, hab mich selbst in Dir zerrissen, Dich gespalten, ausgeschlürft wie eine saftige Frucht. Die Schreie Deiner Lust hallen noch immer in meinen Ohren nach.

Ich habe Dich genommen, dieses unfaßbare Geschenk der Götter angenommen, die Dich in mein Leben treten ließen.
Doch Götter sind grausam, wie sonst hätten sie es zulassen können, daß wir getrennt werden, daß ein Herz auseinandergerissen wird, das in zwei Brüsten schlägt? Neid muß es sein, Neid auf die Reinheit, die Dir innewohnt und die kein Engel und kein Gott jemals erreichen kann, Eifersucht auf das Band, das uns verband, verbindet, auf die Liebe, die die Grenzen alles Vorstellbaren sprengt und uns ekstatische Verzückung und grenzenlose Lust erst möglich machte.

Den Göttern habe ich abgeschworen. Zu Dir will ich beten. In Deine vollkommenen kleinen Hände lege ich meine verfluchte Seele, bette sie zur Ruhe in Deinen warmen Winkeln. Vielleicht gibt es wirklich irgendwo eine Welt, in der wir uns wiedersehen werden. So oder so - es gibt jetzt keinen anderen Weg für mich.

Vielleicht ist Liebe unsterblich.

Dein Antoine

Lyon. Der des Kindesmißbrauchs Verdächtige Antoine Pascal wurde am Morgen des 3. August, zwei Tage vor seinem Verhandlungstermin, tot in seiner Zelle aufgefunden. Die Todesursache konnte bisher nicht ermittelt werden.
Pascal stand unter dem schweren Verdacht, die heute elfjährige Sophie B. vier Jahre lang sexuell mißbraucht zu haben. Das Mädchen befindet sich in psychologischer Behandlung.


[ 03.08.2002, 21:20: Beitrag editiert von: raven ]

 

Hi Sav!
Ziemlich harter Tobak. :sconf:
Anfangs klingt es wie ein normaler Liebesbrief eines Verlassenen, dann merkt man schon, dass die Angebete wohl etwas jünger war - wobei ich davon ausging, dass sie so um die 16 war.
Naja, und er letzte Absatz? Heftig..

Mh.. Mehr fällt mir im Moment nicht ein, das Ganze muss sich bei mir erst mal setzen.

Ugh

 

hallo raven,ja, wirklich starker tobak. trotzdem mal interessant die andere seite eines sexualverbrechers zu sehen. sind das tatsächlich immer nur "schweine"? du hast das mit sehr viel gefühl rübergebracht. danke! gruß ernst

 

Hallo Raven!

Dachte zuerst, die Story sei eine ganz gewöhnliche, sehr schön formulierte Liebeserklärung, wie man sie hier desöfteren zu lesen bekommt, das heftige Ende hat mich dann aber überrumpelt.
Ich musste die Geschichte ein zweites Mal lesen und tatsächlich fand ich sogar einige Hinweise (z. B. "Sie sagen, Du würdest mich hassen."), die auf das Ende hin deuteten, auch wenn ich kein Ende in dieser Richtung vermutet habe.

Ich frage mich, was wirklich geschehen ist.
War Antoine Pascal wirklich ein psychopathischer Sexualverbrecher oder hegte das Mädchen tatsächlich Gefühle für ihn?
Ich kann die Frage nicht beantworten.

Jedenfalls eine Geschichte, die sehr zum Nachdenken anregt.

Viele Grüße,
Michael

 

War Antoine Pascal wirklich ein psychopathischer Sexualverbrecher oder hegte das Mädchen tatsächlich Gefühle für ihn?
Ich kann die Frage nicht beantworten.
Ich schon und der Text übrigens auch:
die heute elfjährige Sophie B. vier Jahre lang sexuell mißbraucht
Das heißt, sie war damals höchstens sieben Jahre alt, eher jünger. Bei Kindern dieses Alters ist es immer Mißbrauch, kein Kind wünscht sich Oralverkehr oder sonst eine erwachsene Form der Sexualität.

Im Übrigen ist es genau das was mich so schockt: Der Mann denkt tatsächlich Sophie würde ihn lieben und dass das eine normale Beziehung ist. Total krank.

Ugh

[ 02.08.2002, 15:46: Beitrag editiert von: Bibliothekar ]

 

@ Bibliothekar:

Stimmt, anhand des Alters hätte ich eigentlich draufkommen müssen. Vielen Dank für die Erklärung.

Michael

 

Wie schon dutzendfach von mir festgestellt: Dein Talent, den Leser mit einem schönen Schreibstil und wohl überlegten (nicht zu sehr übertriebenen) Formulierungen praktisch von der ersten Sekunde an zu fesseln, hat sich auch hier wieder gezeigt. Respekt!

Du beschränkst dich bei dieser Geschichte auf die Sicht des Täters, der vollkommen von sich überzeugt ist, richtig gehandelt zu haben. In seinen Augen war es Liebe. Er kann das Warum nicht begreifen, weshalb er verurteilt werden soll.

Die vereinzelt eingestreuten Hinweise über das Alter von Sophie hinterlassen schon während des Lesens einen bitteren Beigeschmack. Interessant wäre es, wenn man den erklärenden letzten Absatz mal wegläßt. Ich denke, die Wirkung, auf die du abzielst, würde sich noch erheblich steigern.

Fazit: Wieder einmal eine tolle Geschichte von dir mit einem Thema, das manch anderer sicherlich "vergeigt" hätte. Kompliment!

Ponch :kuss:

PS: Nach "Zion, mein Zion" jetzt schon die zweite hervorragende Story von dir. Was ist passiert? :D ;) :p

 

kompliment raven..mehr als gelungene geschichte..

erst einmal wundschön formuliert...wie hier schon gesagt..eine liebeserklärung...und trotzdem: wenn man den schluß liest...weiß man sofort..ja, auf eine kranke seele hätte diese liebeserklärung auch gepasst.. insofern zwei gänzlich unterschiedliche gefühle..sehr schön rübergebracht..

dachte auch kurz vor schluß...schöne geschichte..die benötigt jetzt gar keine großartige pointe, um gut zu sein..das sie dann doch kommt..macht das ganze richtig rund..

danke für diese story..

grüße, streicher..

 

Hallo raven,

Deine Geschichte ist sehr eindringlich, geht unter die Haut. Gut geschrieben ist sie allemal. Sie macht mich - ebenso wie meine VorrednerInnen - ziemlich nachdenklich.

Wenn Du noch mal editierst, könntest Du das fehlende "t" in "hundertfach" (3. Absatz) noch ergänzen.

Gruß

Christian

 

Hi!

Auch mir hat die Geschichte sehr gefallen! Vor allem das Ende schockt wirklich... Ich hab gelesen und gelesen und mir nichts Schlimmes dabei gedacht - und dann? :eek: Wow, kann ich da nur sagen! Kompliment!

Gruß,
stephy

 

Vielen lieben Dank für Eure Kritiken! :)

Ich hätte nicht gedacht, daß diese Geschichte doch so gut ankommen würde, da der Liebesbrief mir fast schon übertrieben kitschig vorkam. (Bin ja bei anderen Geschichten schon wegen zu viel Kitsch gerügt worden. :shy: ) Aber selbst kann man das ja oft schlecht beurteilen.

Es freut mich ganz besonders, daß der Text ein paar Gefühle hervorkitzeln konnte.

@Ponch: Der letzte Absatz hat mir eine Weile Kopfzerbrechen bereitet. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, daß es nach einem krampfhaftem Bemühen aussieht, dem Leser irgendwie noch die Pointe um die Ohren zu hauen. Ich glaube aber nicht, daß ohne ihn klargeworden wäre, daß Sophie nicht nur jung, sondern ein wirklich kleines Mädchen ist. Antoine wollte ich es nicht erwähnen lassen, da es für ihn keine Bedeutung hat, vielleicht ist er sich nicht einmal wirklich dessen bewußt.

Danke, criss, für den Tippfehler! :)

Liebe Grüße

Sav

 

Ich kann mich meinen Vorrednern nicht anschließen.

1. Wäre die Geschichte wirklich gut, so bedürfte sie nicht der Ergänzung, die Du zum Verständnis geboten hast. Das Problem ist dann auch schon geklärt, wenn man darauf hinweist, dass keine Geschichte vorliegt, sondern bloß ein Abschiedsbrief. Etwas geschickter aufgebaut und die Wirkung wäre viel bedeutender.

2. Aus der Sicht des Täters, ja. Aber Du beschreibst einen kranken Menschen. Sind all diese Täter krank? Viel zu trivial gehst Du mit dieser Thematik um! Keine Analyse, keine echte Tiefe. Das Motiv „Liebe“ wird dem ganzen nicht gerecht. Weiß er denn wirklich nicht, dass er etwas Falsches tut? Ist das so? Das ist so eine typische Erklärung.

3. Die Sprache ist romantisch-schwärmerisch. Etwas ganz Komisches: „Als ich Dich zum ersten Mal sah, damals, im Haus Deines Vaters, dachte ich, der Himmel hätte sich aufgetan und seinen schönsten Engel ausgespuckt.“ Etwas so Schönes spuckt der Himmel aus? Nicht ganz passend, würde ich sagen. Ausspucken klingt viel zu negativ und zerstört die Harmonie der Sprache.

Meiner Meinung nach hätte man viel mehr aus dem Thema machen können.

 

Hi Sav!

Mir hat Dein Brief hier sehr gut gefallen. Das Thema ist, wie schon gesagt wurde echt heftig.

Der Zusatz am Ende der Geschichte hat meiner Meinung nach schon eine Existenzberechtigung. Beim ersten Lesen wirkt der Brief ganz anders als beim zweiten Lesen (wenn man den Zusatz dann kennt). Man betrachtet dann den Text eben anders.

 

Hallo Zaza und Abra,

danke auch Euch für die Kritiken! :)

Zaza: Deine Kritk nehme ich mir zu Herzen und überlege, wie ich die Geschichte vielleicht verbessern kann.
Ich wollte nicht, daß Sophies Alter aus Antoines Brief hervorgeht, allenfalls ganz am Schluß, hatte aber keine Idee, wie ich das anstellen soll.
Daß Antoine in U-Haft sitzt, war mir persönlich von Anfang an klar, spielt aber wahrscheinlich für den Leser keine wirklich große Rolle.

Vielleicht kannst Du einen Tip geben, wie ich das geschickter machen kann, denn der Zusatz scheint ja schon etwas aufgesetzt zu wirken.

 

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