Göttin
Geliebte Sophie,
nur einmal wünsche ich mir noch Dein Lächeln, einmal noch will ich Tränen in Deinen Augen glänzen sehen.
Sie sagen, Du hättest keine Flügel. Doch ich habe sie gesehen, habe ihre Weichheit zwischen meinen Fingern gefühlt und ihre Süße mit meiner Zunge gekostet. Hab ich Dir nicht gezeigt, wie man fliegt? Und hast Du nicht wie ein Engel mit Deinen Schwingen die Wolken durchbrochen und mich mitgenommen?
Sie sagen, Du würdest mich hassen. Doch ich habe hundertfach gehört, wie Du Deine Liebe herausgeschrien hast, wenn ich Dich nahm. Hast Du nicht gesagt, daß ich es bin, in dessen Armen Du sterben willst?
Sie sagen, Du wünschst mir den Tod. Doch sie haben nicht verstanden. Du warst es doch, die mir beigebracht hat, daß der Tod nichts weiter ist, als die Vervollkommnung des Lebens. Und bin ich nicht tausendmal zwischen Deinen Schenkeln gestorben, nur um in einem Kuß von Dir wiederaufzuerstehen?
Der Tod ist meine einzige Zuflucht, denn weiterleben würde bedeuten, ohne Dich zu sein. Wie könnte ich jetzt noch auf Dich verzichten, wo ich das Gefühl Deiner schlanken Arme um meinen Hals kenne? Wie könnte ich weiterleben, ohne Deine Zunge, Deine Lippen, Deine Augen, Deinen anbetungswürdigen Körper? Du weißt, daß ich ohne Dich nicht mehr existieren kann und daß Du mir den Tod wünschst, zeigt mir, daß Du mich wirklich verstanden hast.
Deine Reinheit und Vollkommenheit waren der Grund, weshalb ich Dir vom ersten Moment an verfallen war. Ich habe die wahre Natur der Liebe in Dir erfahren - In der kindlichen Weisheit Deiner Worte, in Deiner sahnesanften Haut, Deinem flammenden Haar, diesen weitaufgerissenen Augen, blau und unergründlich wie ein Bergsee, brennendes Eis, kälter als alle Feuer der Hölle.
Als ich Dich zum ersten Mal sah, damals, im Haus Deines Vaters, dachte ich, der Himmel hätte sich aufgetan und seinen schönsten Engel ausgespuckt. Trotz Deiner verweinten Augen und obwohl Dir Schwarz nicht steht, war ich von Deiner Verletzlichkeit geblendet und unfähig, meinen Blick länger als Sekunden von Dir zu wenden. Nie hatte ich etwas Schöneres gesehen, Du schienst wie ein Wesen aus einer anderen, vollkommenen Welt. Jede Deiner Bewegungen war von makelloser Anmut, Dein von Trauer gezeichneter Blick schien leer, doch ich konnte das Feuer sehen, das tief in Dir brannte.
Ich heuchelte Trauer, wie es alle taten, doch außer Dir gab es wohl niemanden, der den plötzlichen Tod Deiner Mutter wirklich bedauerte. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wie eine so derbe, grobschlächtige und eitle Frau mit schlechten Manieren ein so zierliches, liebliches, elfenartiges Wesen wie Dich hat hervorbringen können.
Weiß der Teufel, wie es mir gelang, das Vertrauen Deines Vaters zu erschleichen und die Anstellung als Dein Privatlehrer zu bekommen. Es war, als hätten die Götter alle Schleusen des Glücks für mich geöffnet. Das Leben war zum Himmel auf Erden geworden und ich hätte ohne zu zögern meine Seele geopfert, wenn es für immer so hätte bleiben können. Vier Jahre lang sollte das Glück für mich blühen.
Umkreist haben wir uns, uns geneckt, fast getanzt. So gekonnt hast Du die Augen niedergeschlagen und das scheue Reh gespielt. Ich hätte es Dir fast abgekauft, wären da nicht diese Blicke gewesen, die ich immer nur aus den Augenwinkeln sah, Blicke, die fast anzüglich waren in ihrer Deutlichkeit.
Du hast mit mir gespielt, hast mich Dich jagen lassen wie der Panther die Beute. Und wie ein Raubtier habe ich dich verschlungen, hab mich selbst in Dir zerrissen, Dich gespalten, ausgeschlürft wie eine saftige Frucht. Die Schreie Deiner Lust hallen noch immer in meinen Ohren nach.
Ich habe Dich genommen, dieses unfaßbare Geschenk der Götter angenommen, die Dich in mein Leben treten ließen.
Doch Götter sind grausam, wie sonst hätten sie es zulassen können, daß wir getrennt werden, daß ein Herz auseinandergerissen wird, das in zwei Brüsten schlägt? Neid muß es sein, Neid auf die Reinheit, die Dir innewohnt und die kein Engel und kein Gott jemals erreichen kann, Eifersucht auf das Band, das uns verband, verbindet, auf die Liebe, die die Grenzen alles Vorstellbaren sprengt und uns ekstatische Verzückung und grenzenlose Lust erst möglich machte.
Den Göttern habe ich abgeschworen. Zu Dir will ich beten. In Deine vollkommenen kleinen Hände lege ich meine verfluchte Seele, bette sie zur Ruhe in Deinen warmen Winkeln. Vielleicht gibt es wirklich irgendwo eine Welt, in der wir uns wiedersehen werden. So oder so - es gibt jetzt keinen anderen Weg für mich.
Vielleicht ist Liebe unsterblich.
Dein Antoine
Lyon. Der des Kindesmißbrauchs Verdächtige Antoine Pascal wurde am Morgen des 3. August, zwei Tage vor seinem Verhandlungstermin, tot in seiner Zelle aufgefunden. Die Todesursache konnte bisher nicht ermittelt werden.
Pascal stand unter dem schweren Verdacht, die heute elfjährige Sophie B. vier Jahre lang sexuell mißbraucht zu haben. Das Mädchen befindet sich in psychologischer Behandlung.
[ 03.08.2002, 21:20: Beitrag editiert von: raven ]