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Götterdämmerung
Zitat Wilhelm und Widmung für ihn:
"Er wird sie nicht nur wie ein Zuschauer von außen betrachten, dann wird er tief in die Natur eintauchen, bis zu dem Punkt, an dem sie sich mit ihm selbst aus allen gesetzten Spannungen und Gegensätzen löst. Dort, dort wo er nicht mehr allein ist, liegt seine wahre Existenz"
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Kein Gott, erst recht kein sterblicher Mensch, aber auch keine der anderen Götter und Göttinnen thronten so hoch über den Welten wie er, mit seinem dünnen schütteren schneeweißen Haarflaum, seinen milchigen, von Äonen des Zeitlaufs getrübten Augen, seinen brüchigen Zahnstummeln, die sehr viel älter waren als dieses eine seiner Multiversen. Nur Odin allein konnte an den für andere unsichtbaren Zweigen der Weltenesche Yggdrasil erkennen, dass alles mit allem verbunden war.
Von den ungezählten Unendlichkeiten seiner Schöpfungen und wiederum der Kraft, die ihn selbst einmal erschaffen haben musste, nahm er nicht mehr viel wahr. Es interessierte ihn nicht mehr, vieles davon hatte er auch vergessen. Nein, er war nicht allgegenwärtig, auch wenn er es jederzeit zu sein vermocht hätte.
Immer überall dabei sein? So etwas hatte ihn schon gelangweilt, als er noch jung war und eine Sterneninsel nach der anderen in die Weltenräume schleuderte. Auch die Zwistereien zwischen den Göttern erinnerten ihn nur an die kleinen um Achtung klaubenden Menschen und ähnlicher Kreaturen auf ähnlichen Planeten. Auf Midgard glaubten viele Erdmenschen, Odin würde sich um jedes einzelne ihrer Schicksale kümmern. So war es aber keineswegs. Starb ihnen im Wochenbett ein Kind zusammen mit der Mutter weg, fragten sie aber immer, warum lässt Odin das zu? Was ging ihn das an?
Als er vor vielen Ewigkeiten Freya zum Weibe nahm, hatte sie ihn noch in der Hochzeitsnacht gefragt, warum er sich nicht um die Geschicke der Lebewesen kümmere, die er entworfen hatte:
„Soll ich auf Midgard einen ins Wasser geflatterten Schmetterling bergen, soll ich ein genicktes Gras richten und benetzen, soll ich auf irgendeinem Planeten irgendeiner Sonne in Utgard das schönste und zierlichste Wesen vorm Zerbrechen bewahren? Sie alle, diese Myriaden, sind über die Weltenesche verbunden, nur sie wissen es nicht. Mögen sich die Sterblichen damit an die Nornen wenden, die ihre Schicksalsstränge zusammen mit den Walküren knüpfen“.
„Aber sie alle glauben irgendwie an dich.“
„Genug, wenn sie an sich selbst glauben. Alles andere können sie mir überlassen.“
Ränkespiele jeder Art langweilten ihn. Egal, ob sich da Götter, Asen, Alben oder Menschen in ihren Eitelkeiten, ihrer Habgier oder Selbstsucht sonnten.
Ein einziges Mal hatte er den Feuergott, seinen Blutsbruder Loki, vor der Erschaffung der Gegenwart ermahnt, nicht nur sein Lebenselixier darin zu sehen, Feuer, Schrecken und Tod unter die Sterblichen zu streuen.
Und zweitens, was ihm wichtiger war, sich nicht mit der Liebesgöttin der Nordmeere, mit Gefion, anzulegen noch ihr ständig nachzustellen.
Loki ließ von Gefion ab und zeugte mit der Riesin Angrboda die Totengöttin Hel, die Midgardschlange und den Fenriswolf, und das aus ihnen strömende, über allem Leben stehende Gesetz der Auflösung und der Vernichtung.
Obwohl ein wildes Weib war Gefion eine Göttin, verliebt in das Sturmbrausen der Nordmeere, in die Leidenschaften der Liebe und dem tumben Vulkanspucker Loki an Klugkeit und Weisheit deutlich überlegen. Sie verachtete die durchsichtige und vorsichtige Art wie er um sie warb. Neben Freya war sie immer Odins Lieblingsfrau, nein nicht neben, sie war immer seine Lieblingsfrau gewesen. Seine Schwanenmädchen dagegen reizten trotz ihrer Schönheit weder seine Manneskraft noch seine Lüsternheit. Wenn sie als Nordlichter über Midgards Nachthimmel flackerten hatten sie Möglichkeiten genug, um einen in der Schlacht gefallenen Menschenkrieger auszuwählen, um mit ihm nach Walhall zu reiten. Die Walküren spielten einfach nicht in seiner Liga.
Odin fror, schon lange hatte Gefion nicht mehr sein Kreuz gewärmt. Für die mannstollen Walküren war er nicht nur zu alt. Die Liebespraktiken, deren sich seine Schwanenmädchen rühmten, hatten sie fast ausnahmslos von menschlichen Kriegshelden übernommen, mit denen sie sich in Walhall vergnügten. Eigenartige Spielereien, die ihn nicht reizten.
Wenn Odin sich aber Gefion nahm, brachen überall im Universum Stürme aus, Vulkankrater spuckten ihre heiße Lava in den Himmel und Kometen stürzten in die ungezählten Sonnen. Bei Gefion überflutete ihn maßlose Gier, ein Gefühl durch alle Atome der Welten zu dringen. Gefion unterwarf sich ihm mit weit gespreizten Schenkeln, drängte ihren Schoß in einer maßlosen Wollust ihm entgegen, die auf den Meeren Springfluten auslöste und mit einer Unbedingtheit, die beide von allen Fesseln der Liebe befreite. Wenn er sich in sie ergoss, stiegen die Schaumkronen der Nordmeewellen bis zu den Wolken hoch. Bei Freya, seiner Gemahlin, war er anders, routiniert, alltäglich und als angenehme Gewohnheit auch nicht so erschöpfend. Vielleicht weil sie sich schon Ewigkeiten kannten.
Odin war er alt geworden. Früher ritt auf auf seinem grauen achtbeinigen Ross von Utgard aus hoch über Midgard hinweg, um selbst einen Blick auf die Menschen zu werfen und sich an all seinen Geschöpfen zu freuen oder auch zu ärgern, ohne aber den Lauf ihrer Leben zu steuern.
Seine einzigen Kontakte in die Außenwelten des eigenen Daseins waren jetzt noch Hugin und Munin. Er hatte seine gefiederten Dauerbegleiter vorm Anbeginn der Zeit bekommen und wußte selbst nicht, von wem oder woher.
Ihre Namen hatte er ihnen selbst gegeben, sie sollten ein bißchen klingen wie er, wie Odin. Hugin und Munin.
Und er hatte sie kenntlich gemacht. Raben und ihre anderen Verwandten auf Midgard, die kleineren Krähen haben normalerweise schwarze Schnäbel, die noch kleineren ähnlich aussehenden, aber nicht verwandten Drosseln oder Amseln gelbe, aber Hugin hatte einen blutroten, Munin einen himmelblauen Schnabel.
Odin liebte seine seine fünf Tiere, die Wölfe, den lebhaften Geri und den besonnenen Freki, der erste dumm und restlos verfressen, der zweite verschlagen und grausam. Odin war froh, dass vor allem Geri sämtliche Leckereien von seiner Tafel wegfraß. Er selbst ernährte sich sowieso nur von Met. Beide Wölfe waren die furchtlosesten Gesellen, die er kannte. Gefahren begegneten sie mit äußerster Verachtung, beide richtig, um die von ihm erschaffene Natur zu ordnen, einen gewaltigen niemals endenden Zyklus zwischen Fressen und Gefressenwerden zu richten.
Und er liebte sein achtbeiniges Pferd Sleipnir. Das trug ihn immer noch als uralten Gott von einer Galaxie zur anderen und von dort in größere Entwürfe seiner Welt. Hugin und Munin aber waren die beiden Göttertiere, mit denen er reden konnte. Seine Raben.
Die irdischen Artgenossen von Hugin und Munin waren bei den Nordländern auf Midgard immer als intelligenteste Tiere geachtet, bis diese sogenannten Mönche mit ihren Holzkreuzen kamen, diese selbst erkorenenen Missionare und sie als „Unglücksraben“ ächteten. Sie kannten damals und bis heute nicht die innige Verbindung zwischen Odin und ihrem Gekreuzigten. Menschengeschichten über Göttliches, einfach ohne jeden Zusammenhang des Denkens. „Religion“ kam bei ihnen immer ins Spiel, wenn sie selbst irgendwie nicht weiter wußten.
Wenn Hugin und Munin nach ihren weiten Ausflügen in die unendlichen Schöpfungen morgens zum Frühstück wieder zurück flogen, endlich auf Odins Schultern landeten, dann löste sich seine Spannung und die Angst, nicht mehr den Fortgang der Welten verstehen zu können.
Seine beiden Raben kannten die ferne Zukunft und alle uralten Erinnerungen.
Hugin war ein starker Denker, der nach dem Sinn des Daseins und des im Dasein Verborgenen suchte und auch Antworten fand, die den sterblichen Geschöpfen Odins für immer verschlossen bleiben mussten.
Munin dagegen beruhigte seinen Herrn jeden Morgen, in dem er auf seiner Schulter sitzend mit ihm schnäbelte und ihn beruhigte:
Ich vergesse nichts, Odin, ich bin dein Geschichtsbuch.
Er stand vor den Toren Walhalls und sah auf die Welteninseln im Raum. Der unerschrockene Geri und der eher stille Freki heulten in der unendlichen galaktischen Kälte.
Odin sah Munin an und wusste, das er seine Gedanken lesen konnte.
Was würde sein, wenn die Götter vergessen haben würden, wer sie waren?
Ob Munin auch wusste, dass er heute noch sein achtbeiniges Ross satteln wollte, um im langen Fimbulwinter durch die karge Eiszeit nach Ragnarök zu reiten?
Bedächtig füllte er sein größtes Trinkhorn mit Honigwein und leerte es in einem Zug.
Sein letztes Met.
Sleipnir würde ihn aus Asgard tragen, in schnellstem tachyonischen Galopp über die dreistrahlige Regenbogenbrücke Bifröst.
Odin ahnte wie und wann der Fenriswolf seine magische Fessel Gleipnir zerfetzen sollte, die man ihm gleich nach seiner Geburt angelegt hatte.
Er wollte am Ende der Asenbrücke auf ihn warten.
Es dauerte nicht lange, bis sich alle Asen hinter Odins Ross geschart hatten, bereit für den Waffengang im Weltenbrand. Thor, sein Sohn, lenkte sein Pferd neben Sleipnir. Beide Tiere blähten die Nüstern und schnauften laut. Thor entfesselte ein gewaltiges Gewitter mit grellen Blitzen und dröhnendem Donner über der Regenbogenbrücke, das in Richtung der dunklen Kraft raste. Auf der anderen Seite des Regenbogens erkannte man die aus der Unterwelt empor getauchte Midgardschlange, den Fenriswolf, den Höllenhund Garm und die Eisriesen. Angiffsbereit. Die Asen hörten das klagende Horn des Brückenwächters Heimdall.
Götter, sterbensmüde.
Odin lächelte Thor an und sagte: „Wir reiten jetzt los. Die Eiszeit des Fimbulwinters wird bald enden.“
Midgard, die Erde, zerbarst in einem Feuersturm gleißender Kometen, der Fenriswolf griff die Sonne an, die sich verdunkelte und in der Schwärze dieses Weltalls verschwand.
Erst wenn alle Götter, alle ihre jemals erdachten Naturgesetze und alle ihre Geschöpfe im Nichts zerfallen sein würden, erst wenn auch Vidar, der schweigsame Ase und Hüter der dann verbrannten Wälder nach dem Weltuntergang, nach Ragnarök vor Einsamkeit verdorben sein würde, war der Zeitpunkt gekommen:
Für etwas Neues, jenseits von Walhall.