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Götterdämmerung
Die untergehende Abendsonne tauchte den Himmel in ein prächtiges Farbenspiel. Das Glas Wein in meiner Hand hatte sich schon merklich geleert und wohlig streckte ich die Beine aus. Heute hat mich jemand gefragt, was der bisher größte Meilenstein in meinem Leben war. Ohne groß darüber nachzudenken, habe ich von meiner Hochzeit, meiner Karriere und anderen Dingen gesprochen. Floskeln, die man auf eine solche Frage automatisch antwortet. Der wirkliche Meilenstein in meinem Leben war etwas ganz anderes gewesen. Nicht irgendein Artikel, oder ein Interview mit einer wichtigen Persönlichkeit. Nicht einmal die Reportage über den Pharmaskandal, der mich endgültig in die Reihe der Top Journalisten katapultiert hatte. Nein, sie hat alles verändert.
Aber das konnte ich weder mir selber eingestehen oder gar einer anderen Person erklären. Von Zeit zu Zeit versucht mein Verstand die erschütternde Wahrheit zu begreifen, aber es gelingt mir niemals richtig. Nur kurz erhasche ich einen Blick auf das gesamte Bild, aber das gänzlich Unmögliche verschwindet rasend schnell wieder im dichten Nebel meines eigenen Verstandes. Denn nur so kann ich unbeschadet weiter existieren.
Aber nun war alles wieder präsent. Fast so, als sei es gestern passiert. Beinahe kann ich ihren Geruch wahrnehmen und ihre Haut spüren. Aber sie war fort, so schnell aus meinem Leben verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Manchmal frage ich mich ob sie überhaupt jemals wirklich da war. Für einen kurzen Augenblick glaube ich ihre Stimme zu hören: „ Hast Du nicht etwas Wunderbares bekommen?“ und unwillkürlich verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln.
Sie hatte mir in der Tat viel gegeben und war in jeder Hinsicht verschwenderisch, über die Maßen großzügig gewesen. Sie hatte mir mehr gegeben als ein Mensch jemals begreifen kann. Mehr als ein Mensch ertragen kann. Und doch vermisse ich sie, jeden verdammten Augenblick vermisse ich sie.
Als es anfing, war keine Liebe zwischen uns. Im Grunde tauchte sie auf wann immer sie wollte. Manchmal hörte und sah ich Wochen und Monate nichts von ihr. Ein Phantom, das plötzlich aus dem Nichts auftauchte und genauso schnell auch wieder verschwand. Nie erklärte sie ihre Abwesenheit oder warum sie mich nicht öfter sehen wollte. Als ich sie einmal danach fragte, lächelte sie nur und sagte. „Aber ich bin doch jetzt da“ und dieser bestechenden Logik konnte ich nichts entgegensetzen. Ja, sie war jetzt da und das war alles was zählte. Ich wusste sie liebte mich nicht, allenfalls duldete sie mich. Ich aber brannte wie eine helle Flamme und verzehrte mich nach ihr.
Man wusste nie genau woran man bei ihr war und ihre Stimmung konnte sich innerhalb von Minuten verändern. Meistens war sie sanft und zärtlich. Voller Hingabe streichelte sie dann mein Gesicht. Ihre Berührungen waren so leicht wie eine Feder und wirkten wie Balsam auf mich. Aber mit gleicher Intensität wurde sie genauso plötzlich unnahbar und kühl. Sie wirkte dann abwesend, Ihre Berührungen waren hölzern und sie war vollkommen verändert. Ganz so, als ob nur noch ihre Hülle bei mir war und sie verschwunden war. Es gelang mir nie herauszufinden, was diese Schwankungen verursachte.
Dann wiederum war sie leidenschaftlich und gab sich ohne großes Drumherum vollkommen hin. Nie wieder habe ich eine Frau kennengelernt, die sich so sehr ihrer Leidenschaft hingab. Es war der reinste Genuss, sie zu beobachten und ihrem Seufzen und leisem Stöhnen zu lauschen. Während wir miteinander schliefen, hatte sie meistens die Augen vollkommen geschlossen. In nur wenigen, aber mir unendlich kostbaren Momenten, blickte sie mir schließlich direkt in die Augen. Ich ertrank in diesen Blicken. Es war als ob etwas von ihr wich und ich konnte Dinge erkennen, die mich zutiefst berührten. Es war Lust ohne Frage, aber dahinter war noch etwas anderes. Unendliche Sanftheit, ein uraltes Wissen und Liebe in ihrer reinsten Form. Alle Augenblicke meines Lebens, alle Empfindungen, waren genau in diesem Blick, in dieser einen Sekunde enthalten. Gebündelt in ihren Augen. Ich war ein Sterblicher, der in das Antlitz von etwas Ewigem blickte.
Wenn sie flüsterte, jagte es mir kleine Schauer der Erregung über den Rücken, denn dann bekam ihre Stimme ein Timbre, das all Ihre Leidenschaft in diesem zarten Flüstern ausdrückte. Ihre dunkle Stimme verband ich immer mit dem Geruch von Zedernholz. Ich wärmte mich buchstäblich an ihren Worten, die manchmal unaufhörlich aus ihrem Mund sprudelten. Dinge tauten auf, nur weil ihre Stimme klangvoll das Eis zum Schmelzen brachte. Irgendwann war kein Eis mehr da und sie, die Meisterin der Widersprüche, fragte mich eines Abends: „Wie fühlt sich Liebe an?“ Ich konnte nur stammeln und Worte aneinanderreihen. Da begriff ich, dass ich nichts über die Liebe sagen konnte. Aber ich fühlte sie, bei Gott, ich fühlte sie.
Noch heute bin ich mir sicher, sie wusste genau um die Bedeutung dieses Augenblicks. Aber sie lächelte nur wissend, tippte mit ihren Fingern auf meine Brust und sagte: „Hier ist die Antwort, die Du suchst.“ Dann küsste sie mich und ich spürte instinktiv, unsere gemeinsamen Tage neigten sich langsam aber stetig dem Ende zu.
Wenn sie nicht da war, erschien mir mein Leben nur noch grau und langweilig. Sie war nicht der klassische Sonnenschein, der einem einfach das Leben schöner macht. Nein, sie war ein Brennglas, durch das die Sonne tausendfach gebündelt wurde. Die Kraft dieses Brennglases konnte dich entweder in Asche verwandeln oder dich gleich einem Phoenix in ungeahnte Höhen erheben. Mit ihr war alles lebendig und intensiv und um nichts in der Welt wollte ich auf dieses Gefühl verzichten. Bei dem Gedanken sie zu verlieren, zerriss es mir fast mein Herz. Eine düstere und dunkle Stimmung bemächtigte sich dann meiner. Aber ich konnte trotzdem nicht anders als jede Sekunde mit ihr zu genießen und die Zeit einfach still stehen zu lassen. Ich dachte nicht an die Zukunft, ich lebte nur noch in diesen einzigartigen Stunden mit ihr. Stunden, die alle Zeitalter der Welt in sich bargen.
Gänzlich unerwartet, hatte sie mich eines Morgens sehr früh geweckt und war mit mir in die Nähe eines kleinen Waldes gefahren. Sie sprach wenig an diesem Morgen und ich stellte ihr keine Fragen. Ich folgte ihr einfach schweigend, denn ich spürte etwas war anders als sonst. Schließlich erreichten wir eine kleine Lichtung.
Das Morgenlicht hüllte sie perfekt ein und sie glühte im wahrsten Sinne des Wortes. Goldenes Licht schien durch sie durchzuscheinen und aus ihr heraus zu bersten. Es war ein unglaublicher Anblick. Ihre grünen Augen leuchteten so intensiv, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Der Wald war in diesen Augen gefangen. Für einen kurzen, flüchtigen Augenblick sah ich sie dort in einem weißem Kleid stehen, gleich einer Waldnymphe oder einer anderen heidnischen Gottheit. Es war befremdlich und ich blinzelte kurz um den Eindruck zu verscheuchen. Aber das Leuchten war noch immer da.
Ein großer Hirsch war inzwischen auf der Lichtung aufgetaucht. Majestätisch schritt er über die Wiese und sein imposantes Geweih schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne. Ich spürte ein seltsames Ziehen in meiner Brust. Nun traten vorsichtig einige Hirschkühe und ihre Jungen aus dem Wald heraus und labten sich an dem frischen Gras. Sie schienen uns gar nicht zu bemerken. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, um die Tiere nicht zu verschrecken. Ein friedlicher, stiller Moment, in dem ich alles um mich herum vergaß.
Doch der große Hirsch hatte uns bemerkt. Zögernd scharrte er mit einem Huf, seine Ohren zuckten nervös und seine weichen, braunen Augen waren fest auf uns gerichtet. Mir schien es, als ob das Leuchten um sie herum noch intensiver wurde.
Dann geschah etwas Erstaunliches. Der Hirsch senkte sein Geweih zu Boden, ganz so als ob er sich vor ihr verbeugte. Er grüßte sie und hieß sie in seinem Reich willkommen. Eine ausgesprochene Akzeptanz unserer Anwesenheit. Neben mir hörte ich ein entzücktes Lachen und ich sah wie sie sich ebenfalls verbeugte. „Ein gegenseitiges Erkennen“, schoss es mir durch den Kopf. Die Situation war seltsam, geradezu bizarr, aber auch anrührend.
Das seltsame Ziehen in meiner Brust dehnte sich weiter aus. In diesem Moment wurde die Welt um mich herum intensiver. Ich konnte den Geruch von weichem Moos wahrnehmen, welches tief im Schatten der entfernten Bäume wuchs. Das Wachsen der Pilze und Blumen, die sich langsam der Morgensonne entgegenstreckten. Weit entfernt sah ich einen kleinen Käfer, der sich mühsam durch den Wald der Grashalme kämpfte. Mein Blut rauschte in meinen Ohren und ich empfand das Geräusch störend in dieser absoluten Stille.
Mein Körper, jede einzelne Zelle, hatte sich auf all das eingestimmt, schwang in der gleichen Frequenz und voller Erstaunen sah ich auf meine Hände. Die schlanken Finger, übersäht von feinen Härchen. Die Adern, die deutlich unter der Haut hervortraten. Darunter die filigranen Knochen, Sehnen und Muskeln. Eine Art der Wahrnehmung, wie ich sie nicht kannte. Als ob sie meine Gedanken las, berührten ihre Finger schließlich zärtlich meine Hand. Diese Berührung versetzte mich vollends in Ekstase.
Ich lebte, lebte erstmals richtig. Ich sah in die weisen Augen des Hirsches und das Ziehen in meiner Brust wurde immer stärker. Es war Sehnsucht, Liebe und Dankbarkeit. Ich hatte das Gefühl, mein Ich dehnte sich weit aus. Ich umspann die Lichtung, die Tiere, sogar sie und nahezu die ganze Welt.
Dann ging der Augenblick vorbei und die Hirschfamilie verschwand wieder im Dickicht der Bäume. Vorsichtig und noch immer benommen von meinen eigenen Empfindungen, sah ich sie an. Ihr Gesicht war weich, das Glühen war verschwunden. Sie war wieder die Frau, die ich zu kennen glaubte. „Ich bin manchmal hier, das ist ein besonderer Ort für mich. Ein Glücksplatz, wenn man so will. Was für ein wunderschönes Tier, findest Du nicht auch?“ Sie hatte geflüstert, sorgsam jedes Wort ausgewählt. Mich mit ihrer Zedernholzstimme und den banalen Worten wieder in die Realität zurückgeführt und ich war dankbar dafür.
Meine Stimme klang brüchig, beinahe zittrig: „Was ist hier gerade passiert?“ fragte ich sie verwirrt. Sie runzelte irritiert die Stirn und sagte dann leichthin: „ Ich hatte gehofft, er würde sich zeigen und genau das hat er getan. Das er uns, nun ja, gegrüßt hat –ich glaube, vermutlich hat er einfach nur am Gras geschnüffelt. “ Und wieder brachten mich ihre Worte und ihr zartes Lachen ein weiteres Stück zurück in die Wirklichkeit. Aber das war nicht der Hintergrund meiner Frage gewesen und sie wusste das. Das Erlebte hatte mich zutiefst beunruhigt. „Was war da gerade passiert? Wer war sie wirklich?“ Aber diese offensichtlichen Fragen brachte ich nicht über meine Lippen. Zu kostbar war mir dieser Moment, um ihn mit meinem unerbittlichen Verstand zu sezieren. Also schwieg ich einfach. Stattdessen umarmte ich sie. Sie fühlte sich fest an, wirklich und echt. Ein Teil von mir, der noch immer in diesem außergewöhnlichen Zustand verharrte, begriff schnell. Aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht verstand und nicht erklären konnte, war sie der Schlüssel zu all dem. Sie hatte mir an diesem Morgen etwas sehr besonderes gezeigt. Sie hatte mir gezeigt, wie sie die Welt erlebte.
Schließlich hörte ich leise ihre Stimme: „Der Mann, den ich liebe, er ist wie dieser Hirsch.“ Erstaunt starrte ich sie an, aber kein Wort kam mehr über ihre Lippen. Erstmals sah ich Traurigkeit in ihren Augen. Noch nie hatte sie über etwas so persönliches gesprochen.
Im Grunde hatte ich keine Ahnung wer sie wirklich war. Ich kannte ihre Wohnung nicht, oder wusste wo sie arbeitete oder wer ihre Freunde waren. Nur ihren Namen, Aurora, hatte sie mir genannt. Natürlich war es als Journalist einfach für mich Nachforschungen anzustellen und ich hatte weiß Gott nichts unversucht gelassen, irgendetwas über sie herauszufinden. Aber alle meinen Nachforschungen waren im Sande verlaufen. Es schien, als ob sie einfach aus dem Nichts aufgetaucht war. Immer öfter fragte ich mich, wer sie wirklich war. Sie war real und war es doch nicht. Trotzdem wagte ich es nicht, ihr diesbezüglich Fragen zu stellen. Es schien eine unsichtbare Grenze zu geben, von der ich instinktiv wusste, ich durfte sie nicht überschreiten. Vielleicht wäre unser Zauber dann verflogen, vielleicht hätte ich sie nie wieder gesehen, wer wusste das schon.
Eines Abends sah sie mich lange an. Schließlich erzählte sie mir von dem Mann, den sie im Wald erwähnt hatte. Es waren nur wenige Informationen, die sie mir gab. Jemanden den sie schon sehr lange liebte, aber aus unerfindlichen Gründen war es unmöglich für beide ein Paar zu werden. Sie seufzte und sagte: “ Wir sind wie der Mond und die Sonne, beide am gleichen Himmel und doch dazu bestimmt nur in wenigen Augenblick uns zu begegnen.“ Jedes ihrer Worte hatte mir einen Stich gegeben. Und doch war sie hier, lag in meinen Armen und küsste mich voller Hingabe. In dieser Nacht liebte ich sie noch verzweifelter als zuvor. Im Gegenzug beschenkte sie mich reichlich. Ich kann es noch heute nicht in Worte fassen, was ich in dieser Nacht empfand. Es gibt schlichtweg kein Wort dafür. Nie wieder habe ich ein solches Gefühl gespürt und mich dem Göttlichen so nah und verbunden gefühlt. Dabei glaubte ich nicht einmal an irgendeine höhere Macht.
Wieder leuchtete es um sie herum als der Morgen dämmerte, aber ich war inzwischen daran gewöhnt. Seit dem Morgen im Wald konnte ich dieses seltsame Leuchten sehr oft an ihr bemerken. Irgendwann schlief ich schließlich ein. Als ich später erwachte, war sie unwiederbringlich fort. Eine Karte lag auf meinen Nachttisch, darauf standen nur wenige Worte. „Louvre, Paris, heute in einem Jahr - am Nachmittag, Aurora“
Das Jahr hatte mich aufgezehrt. Der Verlust von ihr nagte an mir und es gab Tage, an denen ich nicht einmal das Bett verließ. Sie fehlte mir unendlich und nach vielen Wochen voller Hoffen und Bangen erkannte ich schließlich, sie kam nicht wieder. Es brach mir das Herz. Viele Male überlegte ich, was sie mir wohl mit ihrer kryptischen Nachricht sagten wollte. Aber ich fand keine Antwort darauf. Immer wieder nahm ich mir vor, auf keinen Fall nach Paris zu fahren. Aber schließlich kam der entscheidende Tag immer näher. Ich musste um endlich abschließen zu können, Gewissheit erlangen. So war ich letztendlich doch nach Paris gefahren und stand nun aufgeregt und auch voller Angst vor dem Louvre. Ich war unschlüssig. „Sollte ich hier warten, nach ihr Ausschau halten, kam sie überhaupt? Hatte sie mich nicht schon lange vergessen?“
Ein kleines Hinweisschild erregte schließlich meine Aufmerksamkeit und wie in Trance folgte ich der Beschilderung. Es gab eine Sonderausstellung mit dem Titel Aurora und ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich meiner. Konnte das wirklich ein Zufall sein?
Aber war nicht bisher alles was sie betraf, seltsam und unwirklich gewesen?
Schließlich hatte ich die Sonderausstellung erreicht und schon von weitem sah ich das Gemälde. Es zeigte Aurora, meine Aurora. Für einen kurzen Moment glaube ich mein Herz bliebe stehen. Es war verrückt und konnte unmöglich sein. Und doch war sie auf diesem Bild. Eine Frau, umhüllt von einem weißen Tuch, der Oberkörper frei. Die langen, dunklen Haare fielen offen an ihrem Rücken hinunter und anmutig hielt die Frau eine Lilie in der Hand. Fieberhaft ging ich näher an das Gemälde heran, aber auch bei genauer Betrachtung verschwand mein Eindruck nicht. Ganz im Gegenteil. Das leicht abgewandte Gesicht, die langen Haare, die kleine Wölbung des Bauches – es war ganz unverkennbar Aurora. Schließlich blickte ich gebannt auf das kleine Schild das neben dem Gemälde hing. „William-Adolphe Bouguereau, L´Aurore, 1881“.
Ich wusste, ich war kurz davor den Verstand zu verlieren und ohne dass ich es verhindern konnte, rannen Tränen über meine Wangen. All die Trauer, meine Liebe für Sie, die Einsamkeit und Sehnsucht nach ihr, forderten schließlich ihren Tribut. Ich weinte bittere Tränen und es war mir egal, wo ich war.
Schließlich berührte mich jemand vorsichtig am Arm und ich blickte irritiert in ein grünes Augenpaar. Eine Frau stand vor mir und fragte mich vorsichtig, ob es mir gut ginge. Für einen kurzen Moment hatte ich gehofft, es wäre Aurora. Aber sie war es nicht. Obwohl die Frau ihr sogar ein wenig ähnlich sah. Ihr Haar war ein wenig kürzer aber ebenfalls dunkel. Ihr Mund war voller und der Ausdruck in ihrem Gesicht nur leicht verändert. Aber die Augen waren genau die gleichen und wieder konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Schließlich geleitete mich die Frau zu einer in der Nähe stehenden Bank und brachte mir ein Glas Wasser. Ich war froh nicht alleine zu sein und versuchte ruhig und langsam zu atmen. „1881“ hämmerte es immer wieder im meinem Kopf.
Währenddessen sprach die Frau beruhigend auf mich ein. Ich bemerkte, dass auch sie eine Zedernholzstimme besaß und ich fragte mich ob der Verlust von Aurora mich inzwischen wirklich in den Wahnsinn getrieben hatte. Die Frau, Celine, sagte schließlich etwas, dass mir durch Mark und Bein fuhr. „Dieses Gemälde zeigt eine meiner Ur-Ahninnen, es ist schon sehr lange in unserem Familienbesitz.“
Verzweifelt versuchte ich diese Information zu verarbeiten, aber es gelang mir einfach nicht. Celine indes schien meine Verwirrung nicht zu bemerken und erklärte mir das Zustandekommen des Gemäldes. Sie sprach davon, dass ihre Ur-Ahnin die heimliche Geliebte des Malers gewesen sei. Er hatte sie als Aurora gemalt, nach der griechischen Göttin der Morgenröte. Munter weiter plappernd, erzählte sie mir, dass die Göttin Aurora, den Gott der Dämmerung liebte, die beiden sich aber nur selten sehen konnte. In anderen Überlieferungen wurden sie als der Mond und die Sonne bezeichnet und nur bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang konnte man sie manchmal gleichzeitig am Himmel sehen. „Was für eine wunderbare Allegorie für den Maler und seine Geliebte, die tatsächlich den Namen Aurora trug“ sagte Celine. Schließlich lächelte sie versunken und sagte: „Ich mag diese Geschichte und ich hoffe meine Ur-Ahnin hatte ihr Glück mit ihrem Gott der Dämmerung gefunden.“
Nichts von dem was diese Frau mir erzählte machte Sinn und doch machte alles auf eine beängstigende Weise Sinn.
Wenige Stunden später saß ich an der Bar meines Hotels und wartete auf Celine, wir hatten uns spontan zum Abendessen verabredet. Vielleicht war es ihre Freundlichkeit im Museum, die mich dazu bewogen hatte, ihre Einladung anzunehmen. Vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass sie Aurora ähnlich sah, oder das ich einfach nicht allein sein wollte.
Während ich noch immer versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, riss mich ein Angestellter des Hotels aus meinen Überlegungen. Zu meinem Erstaunen überreichte er mir eine Notiz und ich erkannte sofort die geschwungene Schrift von Aurora.
„Manchmal muss ein Herz erst lieben lernen, damit es bereit ist seinem Schicksal zu folgen. In Liebe Aurora“
Ich schluckte, um den aufkommenden Klos im Hals zu unterdrücken. Meine Augen wanderten suchend durch die Bar und schließlich sah ich sie. Sie stand mit einem Mann auf der anderen Seite und ich wusste augenblicklich um wen es sich handelte. Der Mann war ein wenig größer als sie, trug eine Brille und ein Drei-Tages Bart verdeckte leicht sein Gesicht. Ein stolzer, majestätischer Blick, der seinesgleichen suchte.
Sein Arm lag um ihre Hüfte und die beiden sahen sich tief in die Augen. Nur ich konnte das geradezu überirdische Leuchten, das jetzt erstrahlte sehen und es verschlug mir den Atem. Die Morgenröte und die Dämmerung.
Schließlich blickte mich Aurora direkt an und zwinkerte mir lächelnd zu. Er nickte mir kurz zu und küsste Aurora dann sanft auf die Stirn. Dann gingen die beiden, noch immer im Glanz der Abenddämmerung strahlend, eng umschlungen hinaus. Ich wusste, das war das letzte Mal, dass ich Aurora sah.
Bis heute kann ich mir auf all das keinen Reim machen. Mein Verstand weigert sich einfach diese unfassbare Wahrheit zu glauben und doch lässt mich der Gedanke an Aurora nicht los. Celine, die inzwischen meine Frau ist, und die ich aufrichtig liebe, weiß von all dem nichts. Auch nichts davon, dass ich manchmal noch immer an Aurora denke und sie vermisse. Sie glaubt der Zufall hat uns im Louvre zusammengebracht.
Das Glas Wein in meiner Hand ist inzwischen leer und die Stimme meiner Frau reißt mich aus meinen Gedanken. Sanft nimmt sie meine Hände und legt sie auf ihren runder werdenden Bauch. Sie lacht und sagt: „Oh, es bewegt sich, kannst Du es spüren?“ Ich streichele vorsichtig ihren Bauch und plötzlich leuchtet meine Frau, genauso wie ich es vor vielen Jahren bei Aurora gesehen hatte. Irritiert blickte ich sie an, aber sie wirkte wie immer und scheint das Leuchten nicht zu bemerken. Es kommt aus ihrer Körpermitte und ganz so, als ob sie meine Gedanken lesen kann, sagt sie: “Wenn es ein Mädchen wird, dann nennen wir es Aurora“. Ich kann nur stumm nicken, denn in meinem Kopf höre ich plötzlich laut und deutlich die Zedernholzstimme einer Göttin: „Manchmal sind unsere Nachkommen mit besonderen Gaben ausgestattet. Dann brauchen Sie Menschen in ihrem Leben, die von den Göttern geliebt wurden.“