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Gänsehaut
Das Meer aus schwefliger Säure brauste viele hundert Meter unter Sandorin. Der Blick aus dem Panorama-Fenster beruhigte und bewegte ihn zugleich. Es war noch immer ein Wunder für ihn, dass dieses – heute eher stille – Meer der Lebensspender der Kolonie war. Sauerstoff und Wasser aus einer ätzenden Unendlichkeit. Fantastisch! Zur selben Zeit spürte er die Kraft in seiner Nähe. Nur einen Meter von ihm entfernt, hinter der Titaniumglasscheibe, würde er binnen eines Bruchteils einer Sekunde von der Schwefeldioxidatmosphäre zur Größe einer Rontamo-Kugel zerquetscht werden. Gleichzeitig war dieser Druck natürlich der einzige Grund, warum das Meer sich nicht in Gas auflöste. Es passte einfach alles wunderbar zusammen, dachte er sich. Ihm war nicht klar, wie in einer solch menschenfeindlichen Umgebung dieses Gebäude errichtet werden konnte. Doch er blockte den Gedanken sofort wieder ab. Er würde es bestimmt noch lernen.
Jetzt war allein dieser Moment bedeutsam. Ein Moment, in dem Dinge in ihm vorgingen, die er sonst nicht kannte. Seine Haut an den Armen und den Beinen kribbelte. Er hatte nicht einmal ein Wort dafür, aber er mochte dieses Gefühl sehr. Sein Vater hieß es nicht gut, dass er die Zeit ständig mit so etwas sinnlosem wie dem Blick aus dem Fenster verschwendete. Aber er ließ es trotzdem zu und Sandorin war ihm dankbar dafür. Er wusste, dass es keine Selbstverständlichkeit war.
Das Wetter war ungewöhnlich ruhig an diesem Tag. Selten konnte Sandorin so weit auf das Meer hinausschauen und er meinte sogar, in der Ferne die nächstgelegene Kolonie erblicken zu können. Zumindest wusste er, dass sie dort irgendwo sein musste und vielleicht wünschte er sich auch nur, sie sehen zu können. Im Grunde hätte es ihm aber egal sein können, denn auch diese Kolonie war selbstverständlich genauso aufgebaut wie jede der etwa dreißigtausend, welche in der äquatorialen Hochdruckzone von Trixon 6 verteilt waren. Einen regen Kontakt und Handel gab es aber nicht. Als unabhängiger Kleinstaat mit genormter Produktion und Konsum war ein Austausch mit einer identischen Nachbarkolonie nicht notwendig.
„Schön, dass du hier bist!“, sagte eine Mädchenstimme hinter ihm.
Sandorin drehte sich um und lächelte Lamira an. „Das ist ja eine Überraschung!“
„Ich war in deiner Unterkunft, aber dein Vater meinte, du wärst nicht da und dass er sich sehr gut vorstellen könnte, wo du wieder hin bist.“ Sie grinste und fügte aufgeregt hinzu. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen.“
Sandorin mochte Lamira sehr. Sie war anders als andere Kinder, mit denen er seine Zeit verbrachte. Sie war weniger ernst, lachte gern und erzählte von Dingen, die es in der Kolonie nicht gab und offenbar nur in ihrem Kopf existierten. Auch für diese Charaktereigenschaft kannte Sandorin kein Wort. Aber gerade wegen dieses merkwürdigen Verhaltens war er gerne mit ihr zusammen.
„Was hast du denn?“, fragte er gespannt.
„Ich hab’s nicht hier bei mir. Du wirst schon mitkommen müssen.“
„Mach’s doch nicht so spannend! Was ist es?“
„Eine Überraschung! Du wirst es nicht glauben.“
Hastig nahm sie ihn an die Hand und zog ihn in die schwebende Kabine des Personentransportsystems. „Ebene 82, Unterkunft 238!“ sagte Lamira knapp und das Gefährt setzte sich geräuschlos in Bewegung.
„Da wohnst du doch gar nicht“, bemerkte Sandorin erstaunt.
„Stimmt!“, kicherte sie. „Aber du kennst denjenigen, der da wohnt, bestimmt.“
Mehr sagte sie nicht und Sandorin hakte auch nicht nach. Offensichtlich machte es Lamira Spaß, ihn im Dunkeln tappen zu lassen, und er wollte ihr diesen nicht nehmen. Gespannt war er trotzdem.
Wenige Momente später erreichten sie die Unterkunft. Lamira stieg aus und stellte sich vor den Eingang. Eine Kamera scannte ihr Gesicht und wenige Momente später öffnete sich die Tür zu beiden Seiten.
Sandorin riss seine Augen weit auf, als er sah, wer sie hinter der Tür bereits erwartete. Nach dem ersten Schock fragte er sich allerdings, wieso er überhaupt überrascht war. Enrev war genau der Typ Mensch, von dem sich Lamira angezogen fühlte. Er war anders. Die Kolonisten mieden ihn, hielten ihn für verrückt, da er über Dinge erzählte, mit denen sie nichts anfangen konnten. Das ist sein Alter, sagten die einen. Aber er war doch schon immer so, entgegneten die anderen. Sandorin konnte ihn nicht einschätzen, er hatte noch nie mit ihm geredet und auch jetzt bekam er keinen Ton heraus. Stattdessen starrte er Enrev nur an.
„Lamira, da bist du ja wieder. Und du musst Sandorin sein. Freut mich dich kennenzulernen.“
Sandorin blieb noch immer stumm. Er versuchte zu lächeln.
„Na, dann kommt erstmal rein, ihr beiden!“, sagte Enrev fröhlich.
„Ich habe Enrev zufällig vor ein paar Wochen in der Mensa kennen gelernt“, erklärte Lamira. „Es ist so toll, sich mit ihm zu unterhalten. Wir reden über so viele Dinge, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht habe. Über den Sinn des Lebens, das Universum, die Liebe…“ Sandorin errötete. „Einfach über alles! Auch über Dinge, die nicht sind, sondern nur so, wie wir sie gerne hätten.“ Das irritierte Sandorin. Warum sollte mal wollen, dass Dinge sich verändern? Es gab doch keine Probleme so, wie es war.
„Und heute hat er mir dann etwas gezeigt, was so außergewöhnlich ist, dass es meine kühnsten Vorstellungen in den Schatten stellt.“
Sandorin schluckte.
„Ich habe Enrev gesagt, dass du das bestimmt auch sehr gerne sehen würdest. Er hat zugestimmt, allerdings mit der Bedingung, dass du es nicht weitererzählst. Nicht, dass es verboten ist, aber wer weiß, wie andere darauf reagieren.“
Sandorins Nervosität nahm zu.
„Du musst versprechen, es für dich zu behalten.“
Sandorin schaute beiden ängstlich in die Augen und nickte stumm.
Enrev lächelte zufrieden und ging zu seinem Kleiderschrank. Unter dem Stapel weißer Hosen zog er ein kleines, metallisches, flaches Gerät hervor.
„Dieses Teil hier ist uralt, bestimmt viele hundert Jahre alt, vielleicht sogar tausende.“, begann er und Lamiras Augen funkelten. „Es ist seit vielen Generationen im Besitz meiner Familie. Wo es genau herkommt, kann ich nicht sagen, aber es ist sicher nicht von hier.“ Er zwinkerte Lamira zu. „So weit ich informiert bin, nannte man diese alte Technik Hologramm. Das Prinzip von Hologrammen ist eine fotographische, dreidimensionale Darstellung mithilfe von Laserlicht.“
Sandorin musste unweigerlich kurz schmunzeln beim Gedanken an eine solch primitive Technik.
Enrev drückte einen Knopf und oberhalb des Gerätes wurde das Bild einer Familie projiziert, die lachend auf einer grünen Fläche lag.
„Was ist das?“, die ersten Worte von Sandorin kamen so unvermittelt, dass Enrev kurz aufschreckte.
„Das nannte man Gras, wo sie drauf liegen. Gras gehörte zu den sogenannten Pflanzen, eine Lebensform ohne Intelligenz, die fähig war, auf natürliche Weise Sauerstoff zu produzieren. Das machten sie mithilfe der Sonnenenergie, genauso wie wir heute mit Solarkollektoren die Sonnenergie für unsere Zwecke nutzen, unter anderem eben um Sauerstoff zu produzieren.“
Sandorin konnte seine Augen von den unzähligen dünnen Grashalmen nicht abwenden.
„Aber das ist nicht alles: viele Pflanzen konnten auch gegessen werden“, ergänzte Enrev. „Synthetisches Essen gab es so gut wie gar nicht.“
Sandorin konnte es nicht glauben.
„Aber wo sind die Menschen denn da? Wo sind all die Wände?“
„Sie sind draußen, außerhalb von den Gebäuden, in denen sie wohnten. Sie konnten in ihrer Atmosphäre atmen.“
Sandorin spürte wieder dieses merkwürdige Kribbeln in Armen und Beinen, stärker als je zuvor. Lamira legte ihre Hand in die seine und lächelte ihn an. Er starrte noch immer fassungslos auf das Hologramm. Das Bild schwenkte von der glücklichen Familie nach oben, und Sandorin beneidete sie um ihr freies Leben unter diesem wunderschönen, weiten, gelben Himmel.