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Fusselbein und Staubmamsel
Nora hatte es schon lange vermutet, aber da sie sich nicht sicher war, hatte sie niemandem von ihrem Verdacht erzählt. Schon gar nicht Papa. Papa hätte nur gelacht und den Kopf geschüttelt – im besten Fall. Im schlimmsten Fall hätte Papa Nora aufgefordert, endlich einmal gründlich unter dem Bett zu saugen. Seit Nora zur Schule ging, räumte sie nämlich einmal in der Woche ihr Zimmer alleine auf und saugte den Teppich.
Das war natürlich kein Problem. Schließlich wusste Nora, wie sie einen Stecker in die Steckdose stecken und welchen Knopf sie drücken musste, um den Staubsauger anzustellen.
Das Problem war eher Papa – oder vielmehr das, was Papa für „sauber“ hielt. Es kam so gut wie nie vor, dass Papa fand, Nora hätte gründlich genug gesaugt. Immer lag da noch ein Fussel unter dem Tisch, den Nora übersehen hatte. Papa aber mit seinen scharfen „Reinlichkeits-Augen“ entdeckte ihn sofort.
Nora konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ein Gespräch mit ihm über ihren Verdacht verlaufen würde.
Nora würde vielleicht sagen:
„Du, Papa, unter meinem Bett - da lebt etwas. Glaube ich.“
„Ja“, würde Papa streng antworten. „Wahrscheinlich Spinnen und Milben. Dort ist es einfach zu schmutzig.“
„Nein, Papa“, würde Nora dann erwidern. „Spinnen können doch nicht sprechen. Ich höre manchmal, wenn ich abends im Bett liege, ein Wispern und Flüstern.“
„Kind, was hast du nur für eine blühende Fantasie. Vermutlich wird der Staub lebendig? – Ich finde, du solltest einfach einmal unter dem Bett saugen.“ Mit diesen Worten würde Papa das Gespräch beenden, da war Nora sich ganz sicher.
Nein, so ein Gespräch mit Papa war sinnlos. Nora musste Beweise für ihren Verdacht haben. Und diese Beweise würde sie sich heute Nacht verschaffen, wie eine echte Detektivin. Sie nahm ihre Taschenlampe mit ins Bett, die kleine, die Opa ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, löschte das Licht und lauschte.
Alles war still. Unter dem Bett rührte sich nichts und niemand. Nora gähnte herzhaft. Ganz schön müde war sie, aber sie durfte auf keinen Fall einschlafen. Sie kniff sich fest in den linken Arm. Das tat so weh, dass sie wieder etwas wacher wurde.
Im Fernsehen hatte Nora einmal gesehen, wie ein Detektiv eine Nacht lang in seinem Auto saß und einen Verdächtigen beobachtete. Eine ganze Nacht lang! Das konnte ja heiter werden. Nora sah auf die Uhr. Sie wartete erst eine Viertelstunde! Eine ganze Nacht würde sie niemals schaffen. Nora seufzte – und in diesem Augenblick hörte sie es. Da war es wieder, dieses kleine, dünne, knisternde Wispern. Nora presste ihr Ohr auf den schmalen Spalt zwischen Bett und Wand und horchte angestrengt.
„Gib mir doch bitte noch ein Stückchen von dem Kuchen“, hörte sie ein leises, staubtrockenes Stimmchen.
„Aber natürlich. Hier ist auch noch ein Scheibchen Rosine.“ Die Antwort klang weich und flauschig.
Nora lachte leise:
„Ich wusste es! Ich wusste es!“, kicherte sie. „Da unten wohnt jemand!“
Flink krabbelte sie aus dem Bett, legte sich auf den Bauch auf den Teppich und leuchtete mit der Taschenlampe unter das Bett.
Enttäuscht hielt sie den Atem an. Unter dem Bett war niemand. Nur hinten links hing ein Spinnennetz vom Bettpfosten bis auf den Boden herab. Einige Staubflocken lagen auf dem Teppich ... Versteckt hinter dem Spinnennetz entdeckte Nora eine Murmel, ein zerrissenes, rotes Gummiband, ein altes Pixibuch und den winzigen, blauen Pappkarton, in dem der silberne Fingerring gewesen war, den sie zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte. Etwas Lebendiges konnte Nora nirgends sehen.
„Schade“, murmelte sie und wollte schon wieder zurück unter die warme Bettdecke kriechen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sie blickte genauer hin. Das rote, morsche Gummiband bewegte sich. Es stand auf, schob mit einer Hand das Spinnennetz zur Seite und kam auf sie zu.
Nora rieb sich verdutzt die Augen. Ein laufendes Gummiband? Unglaublich! - Aber was war das? Nicht das Gummiband lief, sondern ein spindeldürrer, fadenartiger kleiner Mann. Er hatte das alte Gummi wie einen Schal um seinen Hals geschlungen und ging langsam auf Nora zu. Auf den ersten, schnellen Blick wirkte er wie ein langer, staubgrauer Faden, der aufrecht über den Teppich wandelte. Doch Nora erkannte nun, dass an seinem Fadenleib hauchfeine Arme und Beine schlackerten. Kein Zweifel: Unter dem Bett hervor kam ein fadendünner, grauer Mann.
„Wer bist du? Wohnst du unter meinem Bett? Lebst du dort allein?“, fragte das Mädchen mit vor Aufregung zitternder Stimme.
Das graue Männlein zog sich seinen Gummibandschal zurecht, machte eine zierliche Verbeugung und sagte höflich:
„Gestatten, mein Name ist Fusselbein und ich wohne schon länger dort hinten. Allerdings bin ich nicht allein. Ich lebe dort mit Staubmamsel, meiner lieben Frau. Warte einmal. Ich würde sie dir gerne vorstellen.“
Er drehte sich um und rief nach hinten:
„Staubmamsel? Liebste? Komm doch einmal. Nora würde dich gerne kennenlernen.“
Das weiche, plusterige Stimmchen, das Nora vorhin gehört hatte, rief:
„Ja, Fusselbein! Ich komme gleich.“
Der lange Spinnennetzvorhang wurde ein zweites Mal beiseite geschoben. Nora sah nun, dass er wunderhübsch aussah. Hauchdünn gewebt aus weichem, silbergrauem Garn glitzerte er im Licht der Taschenlampe.
Durch den schmalen Spalt im Vorhang rollte ein dicker, flauschiger Staubball. Er sah aus, wie eines von diesen Dingern, die Papa immer „Wollmäuse“ nannte. Die kuschelige Kugel rollte auf Fusselbein zu und blieb neben ihm liegen.
„Das“, sagte Fusselbein und legte der Kugel liebevoll einen Arm um die Schultern, „das ist Staubmamsel, meine liebe Frau.“
Und nun sah Nora, dass die Staubkugel eine gemütlich dicke, graublaue Dame mit leuchtenden Augen und einem freundlichen Lachen war.
„Hallo Nora! Wie nett, dass wir dich einmal kennenlernen“, sagte sie und Fusselbein nickte zustimmend.
Nora freute sich auch, ihre „Untermieter“, die sie in so mancher Nacht flüstern gehört hatte, endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Lange hockte sie auf dem Teppich vor ihrem Bett und plauderte mit Fusselbein und Staubmamsel. Sie ließ sich die gemütliche Wohnung zeigen, die die beiden hinter dem Spinnennetzvorhang eingerichtet hatten: Noras kleiner, blauer Pappkarton diente ihnen als Tisch. Die bunte Glasmurmel lag zur Dekoration in einer Ecke und harmonierte wunderbar mit dem silbergrauen Vorhang. Und das Pixibuch hatte Fusselbein auf der Seite aufgeschlagen und an die Wand gelehnt, auf der die Wiese mit den vielen Blumen abgebildet war. Auf diese Weise besaßen Staubmamsel und Fusselbein eine herrliche Fototapete!
Es war schon sehr spät, als Nora endlich zufrieden unter ihre Bettdecke kroch und die Taschenlampe löschte. Wie war sie froh, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Fusselbein und Staubmamsel waren einfach zu nett!
Was aber sollte sie morgen Papa erzählen? Würde er ihr diese unwahrscheinliche Geschichte glauben? Wohl kaum – aber: mussten Väter eigentlich alles erfahren?
Nora seufzte und schlief mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen und dem Gedanken an ihr wunderbares Geheimnis zufrieden ein.