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Fusselbein und Staubmamsel

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17.09.2002
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Fusselbein und Staubmamsel

Nora hatte es schon lange vermutet, aber da sie sich nicht sicher war, hatte sie niemandem von ihrem Verdacht erzählt. Schon gar nicht Papa. Papa hätte nur gelacht und den Kopf geschüttelt – im besten Fall. Im schlimmsten Fall hätte Papa Nora aufgefordert, endlich einmal gründlich unter dem Bett zu saugen. Seit Nora zur Schule ging, räumte sie nämlich einmal in der Woche ihr Zimmer alleine auf und saugte den Teppich.
Das war natürlich kein Problem. Schließlich wusste Nora, wie sie einen Stecker in die Steckdose stecken und welchen Knopf sie drücken musste, um den Staubsauger anzustellen.
Das Problem war eher Papa – oder vielmehr das, was Papa für „sauber“ hielt. Es kam so gut wie nie vor, dass Papa fand, Nora hätte gründlich genug gesaugt. Immer lag da noch ein Fussel unter dem Tisch, den Nora übersehen hatte. Papa aber mit seinen scharfen „Reinlichkeits-Augen“ entdeckte ihn sofort.
Nora konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ein Gespräch mit ihm über ihren Verdacht verlaufen würde.
Nora würde vielleicht sagen:
„Du, Papa, unter meinem Bett - da lebt etwas. Glaube ich.“
„Ja“, würde Papa streng antworten. „Wahrscheinlich Spinnen und Milben. Dort ist es einfach zu schmutzig.“
„Nein, Papa“, würde Nora dann erwidern. „Spinnen können doch nicht sprechen. Ich höre manchmal, wenn ich abends im Bett liege, ein Wispern und Flüstern.“
„Kind, was hast du nur für eine blühende Fantasie. Vermutlich wird der Staub lebendig? – Ich finde, du solltest einfach einmal unter dem Bett saugen.“ Mit diesen Worten würde Papa das Gespräch beenden, da war Nora sich ganz sicher.

Nein, so ein Gespräch mit Papa war sinnlos. Nora musste Beweise für ihren Verdacht haben. Und diese Beweise würde sie sich heute Nacht verschaffen, wie eine echte Detektivin. Sie nahm ihre Taschenlampe mit ins Bett, die kleine, die Opa ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, löschte das Licht und lauschte.
Alles war still. Unter dem Bett rührte sich nichts und niemand. Nora gähnte herzhaft. Ganz schön müde war sie, aber sie durfte auf keinen Fall einschlafen. Sie kniff sich fest in den linken Arm. Das tat so weh, dass sie wieder etwas wacher wurde.
Im Fernsehen hatte Nora einmal gesehen, wie ein Detektiv eine Nacht lang in seinem Auto saß und einen Verdächtigen beobachtete. Eine ganze Nacht lang! Das konnte ja heiter werden. Nora sah auf die Uhr. Sie wartete erst eine Viertelstunde! Eine ganze Nacht würde sie niemals schaffen. Nora seufzte – und in diesem Augenblick hörte sie es. Da war es wieder, dieses kleine, dünne, knisternde Wispern. Nora presste ihr Ohr auf den schmalen Spalt zwischen Bett und Wand und horchte angestrengt.
„Gib mir doch bitte noch ein Stückchen von dem Kuchen“, hörte sie ein leises, staubtrockenes Stimmchen.
„Aber natürlich. Hier ist auch noch ein Scheibchen Rosine.“ Die Antwort klang weich und flauschig.
Nora lachte leise:
„Ich wusste es! Ich wusste es!“, kicherte sie. „Da unten wohnt jemand!“
Flink krabbelte sie aus dem Bett, legte sich auf den Bauch auf den Teppich und leuchtete mit der Taschenlampe unter das Bett.
Enttäuscht hielt sie den Atem an. Unter dem Bett war niemand. Nur hinten links hing ein Spinnennetz vom Bettpfosten bis auf den Boden herab. Einige Staubflocken lagen auf dem Teppich ... Versteckt hinter dem Spinnennetz entdeckte Nora eine Murmel, ein zerrissenes, rotes Gummiband, ein altes Pixibuch und den winzigen, blauen Pappkarton, in dem der silberne Fingerring gewesen war, den sie zu ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte. Etwas Lebendiges konnte Nora nirgends sehen.
„Schade“, murmelte sie und wollte schon wieder zurück unter die warme Bettdecke kriechen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sie blickte genauer hin. Das rote, morsche Gummiband bewegte sich. Es stand auf, schob mit einer Hand das Spinnennetz zur Seite und kam auf sie zu.
Nora rieb sich verdutzt die Augen. Ein laufendes Gummiband? Unglaublich! - Aber was war das? Nicht das Gummiband lief, sondern ein spindeldürrer, fadenartiger kleiner Mann. Er hatte das alte Gummi wie einen Schal um seinen Hals geschlungen und ging langsam auf Nora zu. Auf den ersten, schnellen Blick wirkte er wie ein langer, staubgrauer Faden, der aufrecht über den Teppich wandelte. Doch Nora erkannte nun, dass an seinem Fadenleib hauchfeine Arme und Beine schlackerten. Kein Zweifel: Unter dem Bett hervor kam ein fadendünner, grauer Mann.
„Wer bist du? Wohnst du unter meinem Bett? Lebst du dort allein?“, fragte das Mädchen mit vor Aufregung zitternder Stimme.
Das graue Männlein zog sich seinen Gummibandschal zurecht, machte eine zierliche Verbeugung und sagte höflich:
„Gestatten, mein Name ist Fusselbein und ich wohne schon länger dort hinten. Allerdings bin ich nicht allein. Ich lebe dort mit Staubmamsel, meiner lieben Frau. Warte einmal. Ich würde sie dir gerne vorstellen.“
Er drehte sich um und rief nach hinten:
„Staubmamsel? Liebste? Komm doch einmal. Nora würde dich gerne kennenlernen.“
Das weiche, plusterige Stimmchen, das Nora vorhin gehört hatte, rief:
„Ja, Fusselbein! Ich komme gleich.“
Der lange Spinnennetzvorhang wurde ein zweites Mal beiseite geschoben. Nora sah nun, dass er wunderhübsch aussah. Hauchdünn gewebt aus weichem, silbergrauem Garn glitzerte er im Licht der Taschenlampe.
Durch den schmalen Spalt im Vorhang rollte ein dicker, flauschiger Staubball. Er sah aus, wie eines von diesen Dingern, die Papa immer „Wollmäuse“ nannte. Die kuschelige Kugel rollte auf Fusselbein zu und blieb neben ihm liegen.
„Das“, sagte Fusselbein und legte der Kugel liebevoll einen Arm um die Schultern, „das ist Staubmamsel, meine liebe Frau.“
Und nun sah Nora, dass die Staubkugel eine gemütlich dicke, graublaue Dame mit leuchtenden Augen und einem freundlichen Lachen war.
„Hallo Nora! Wie nett, dass wir dich einmal kennenlernen“, sagte sie und Fusselbein nickte zustimmend.
Nora freute sich auch, ihre „Untermieter“, die sie in so mancher Nacht flüstern gehört hatte, endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Lange hockte sie auf dem Teppich vor ihrem Bett und plauderte mit Fusselbein und Staubmamsel. Sie ließ sich die gemütliche Wohnung zeigen, die die beiden hinter dem Spinnennetzvorhang eingerichtet hatten: Noras kleiner, blauer Pappkarton diente ihnen als Tisch. Die bunte Glasmurmel lag zur Dekoration in einer Ecke und harmonierte wunderbar mit dem silbergrauen Vorhang. Und das Pixibuch hatte Fusselbein auf der Seite aufgeschlagen und an die Wand gelehnt, auf der die Wiese mit den vielen Blumen abgebildet war. Auf diese Weise besaßen Staubmamsel und Fusselbein eine herrliche Fototapete!
Es war schon sehr spät, als Nora endlich zufrieden unter ihre Bettdecke kroch und die Taschenlampe löschte. Wie war sie froh, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Fusselbein und Staubmamsel waren einfach zu nett!
Was aber sollte sie morgen Papa erzählen? Würde er ihr diese unwahrscheinliche Geschichte glauben? Wohl kaum – aber: mussten Väter eigentlich alles erfahren?
Nora seufzte und schlief mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen und dem Gedanken an ihr wunderbares Geheimnis zufrieden ein.

 

Hallo al-dente,

eine witzige, rundum gelungene Geschichte, "stimmig" bis ins Detail (z.B. die "staubtrockene" Stimme von Fusselbein) :thumbsup: . Nett fand ich auch, dass hier mal der Papa der mit den "Reinlichkeits-Augen" ist.

Eine klitzekleine Kleinigkeit nur: Als Nora unters Bett schaut, klingt es so, als ob das Spinnennetz im Hintergund ist und die beschriebenen Gegenstände weiter vorn. Daher war mir nicht klar, warum Fusselbein und seine Frau den Spinnennetz-Vorhang beiseite schieben müssen.

Liebe Grüße

Andrea

 

Hi Wossibär,

danke für das freundliche Lob :). Darüber habe ich mich gefreut.

Zu Deiner klitzkleinen Kleinigkeit: Ich habe die Stelle noch mal genau gelesen. Ich finde, dass man nicht herauslesen kann, wo genau sich die Murmel und die anderen Gegenstände befinden. Deshalb lasse ich die Stelle erst mal so. Wenn sich noch andere daran stören, dann fange ich an zu überlegen :D.

Liebe Grüße
al-dente

 

liebe al-dente!

wunderbare, rundum gelungene Kindergeschichte, phantasievoll, genau die richtigte Länge, einfach rund. Du räumst mit Klischees auf - nicht die Mama ist Putzfanatikerin, und unter dem Bett wohnen keine Monster, vor denen man Angst haben muss.

Okey, FANG an zu überlegen, denn genau wie Andrea ist mir auch die Stelle mit der Verteilung der Gegenstände aufgefallen, und ich habe gestutzt. ;)

lieber Gruß
Anne

 

Hi maus,

vielen, vielen Dank für Dein Lob. Das höre ich natürlich gern :D.

Schade, dass ich anfangen muss, zu überlegen - so ein Pech ...

Sowie ich den Kopf dafür frei habe, werde ich an der entsprechenden Stelle irgendetwas Klärendes einfügen :).

Lieben Gruß
Barbara

 

Hallo al-dente,

ich habe gerade deine Geschichte meinen beiden Töchtern (4 und 7) vorgelesen.
Zitate: "War die spannend und aufregend." (7)
"Und toll!" (4)
"Die Fusselbeine waren richtig süß." (4)
"Ich fand am Besten, wo sie die Beiden kennengelernt hat. Ich konnte sie mir richtig gut vorstellen." (7)
"Ich mir auch!" (4)

Auch von mir ein dickes Kompliment. Ich fand sie tatsächlich sogar ein bisschen gruselig (als die Stimmen das erste Mal auftauchten). Aber Kinder sehen das wohl anders.

Lieben Gruß! Salem und Kinder

 

Hi Salem,

wie schön, dass Deinen Töchtern die Geschichte gefallen! Das ist natürlich das schönste Lob, welches man als Schreiberin von Kindergeschichten erhalten kann! Grüße die beiden doch bitte ganz herzlich von mir :).

Dass die Geschichte auch Dir gefiel, freut mich natürlich sehr.

Gruselig? - Echt? - Vielleicht sollte ich meinen Schwerpunkt etwas mehr auf Horrorgeschichten verlegen?

Danke fürs Lesen und die Kritik!

Liebe Grüße
al-dente

 

Hi poesiefräse und herzlich willkommen auf KG.DE.

Über Deinen Kommentar habe ich mich gefreut! :) Vielen Dank!

Allerdings kann ich es trotz allem nicht gut heißen, dass Du nicht mehr unter Deinem Bett saugen wirst! Ja willst Du denn im Dreck ertrinken, bloß weil da vielleicht so ein kleiner, dünner, grauer Fusselbein hausen könnte?

Liebe Gruß
al-dente

 

Hallo Barbara,

wieder einmal eine sehr schöne Geschichte von Dir! Allerdings hatte ich auch meine Probleme mit der "Landschaft" unter dem Bett:

Nur hinten links hing ein Spinnennetz vom Bettpfosten bis auf den Boden herab.
Ich fragte mich beim Weiterlesen, ob dahinter noch Platz für die Wohnung wäre. (Ich nehme an, das Bett steht mit dieser Seite an der Wand, sonst hätte Nora die beiden "Untermieter" sicher längst entdeckt.)

Außerdem fiel mir auf, daß Du vielleicht ein klein wenig zu oft das Wort "dünn" (bzw. "dürr") im Zusammenhang mit Fusselbein verwendest.

Und auf die Frage

mussten Väter eigentlich alles erfahren?
laß mich mit einem Zitat antworten, das Du sicher noch kennst:
Eltern brauchen ja nicht alles zu wissen.
:D

Liebe Grüße
Roy

 

Hi Roy,

danke für Deine Kritik!

Ja,ja,ja - wenn nun sogar Du die Landschaft unter dem Bett beanstandest - oder vielmehr deren Vorstellbarkeit, dann werde ich da wohl noch mal deangehen müssen. Ich werde das überarbeiten. Ich versprech's! :D. Nur leider weiß ich noch nicht so genau wann ...

Natürlich erinnere ich mich an das Zitat ... Wolltest Du mir vorwerfen, ich hätte geklaut?

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,

wer redet denn von Klauen? Ich freue mich doch darüber, wie mein überragendes Schaffen allmählich beginnt, andere Schriftsteller zu prägen! Noch seid Ihr wenige, aber wer weiß, eines Tages... :D

Liebe Grüße
Roy

 

@Wossibär, maus und Roy:
Ich habe nun die Stelle mit der Verteilung der Gegenstände unter dem Bett geringfügig verändert. Ich hoffe, es wird nun klar, dass Nora die Dinge verdeckt vom Spinnennetz sieht ...

@Roy
Aufgrund Deiner Anregung habe ich etliche Male das Wort "dünn" entfernt - "dürr" kam allerdings nur zweimal vor ... :D
Im Zuge dieser Aufräumarbeiten habe ich mich auch gleich noch von etlichen "klein"s getrennt.

Liebe Grüße
al-dente

 

Hallo al-dente,

jetzt ist deine Geschichte meiner Meinung nach perfekt :thumbsup: .

Liebe Grüße

Andrea

 

Hi Andrea,

danke für die schnelle Rückmeldung! :)

Lieben Gruß
al-dente

 

Hallo al-dente!
Die Geschichte ist süß aufgebaut. Da ich selber erst 11 Jahre alt bin und manchmal selber angst im dunkelm habe, raubt mir diese Geschichte die angst schon wieder einbischen.

Liebe Grüße
Anaid (Diana)

 

Hallo Anaid,

hey, Du bist ja zur Zeit fleißig! Liest Du Dich jetzt durch alle Kindergeschichten?

Ich habe mich sehr über die Rückmeldung einer Leserin aus der "Zielgruppe" gefreut! :)

Wie schön, dass meine Geschichte Dir die Angst vor dem Dunkel ein bisschen raubt.

Liebe Grüße
al-dente

 

Hie al-dente!
Nein, ich lese mich nicht durch alle Kindergeschichten. :)

Liebe Grüße
Anaid

 

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