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Funktionieren!!!
Es ist 6 Uhr morgens. Der Wecker klingelt und sie schlägt die Augen erschrocken auf, starrt die weiße Decke an.
Wie an jedem Tag schießen ihr auch an diesem Morgen wieder die üblichen Gedanken durch den Kopf.
„ICH WILL NICHT MEHR! ICH KANN NICHT MEHR!“
Doch sie hat über die Jahre gelernt einfach zu funktionieren, ohne sich zu beschweren.
Also steht sie auf, die Bewegungsabläufe wirken fast mechanisch und sie führt sie sehr routiniert durch. Zunächst macht sie das Licht an, nach diesem leisen Klicken geht sie zum Radio und schaltet auch dieses an. Anschließend macht sie sich einen Zopf aus ihren langen blonden Haaren und fixiert die restlichen widerspenstigen Haare mit einigen Haarklammern.
Als all diese Dinge endlich erledigt sind, begibt sie sich ins Bad, geht auf die Toilette, putzt sich die Zähne und duscht. Alles ist wie immer!
Zwischendurch wirft sie einen Blick auf ihr graues Spiegelbild und schneidet Grimassen, in der Hoffnung, dass sich mal etwas verändern würde, dann starrt sie ihr enttäuschtes Abbild noch eine Weile böse an.
Nun muss sie sich aber beeilen, schluss mit dem Selbstmitleid. Der nächste Programmpunkt muss abgehakt werden. Also rennt sie samt Bademantel zurück in ihr Zimmer, um noch den Wetterbericht im Radio zu erwischen.
Dieser verflixte Wetterbericht ist für sie schon fast zu einer Art Sucht geworden. Immerhin bildet er ja auch die Grundlage für ihre tägliche Klamottenauswahl, doch im Grunde vergisst sie die genannten Gradzahlen meist eh immer so schnell, sodass diese kaum einen tatsächlichen Einfluss auf die Auswahl ausüben können.
Aber Gewohnheit ist und bleibt nunmal Gewohnheit und kann doch nicht nur aufgrund logischer Gründe geändert werden!
Sie zieht sich schnell etwas an und hetzt in Begleitung ihres, mal wieder viel zu schweren, Rucksacks in die Küche, um zu „frühstücken“, aber eigentlich ist diese Bezeichnung in ihrem Fall mehr als falsch, denn ihr Magen hat leider, im Gegensatz zu ihr, immer noch nicht begriffen, dass auch wer lieber, wie eine Maschine funktionieren sollte. Er weigert sich jedoch weiterhin jeden Morgen aufs Neue etwas Nahrhaftes aufzunehmen.
Da sie auf diesen Umstand Rücksicht nimmt, nutzt sie diese Zeit, die andere zum Essen verwenden, dafür etwas zum Trinken in eine Plastikflasche zu füllen und sie dann anschließend n ihren Rucksack zu stopfen, der daraufhin noch schwerer wird.
Des Weiteren schmiert sie noch schnell ihre Schulstullen, auch dies passiert wieder unglaublich routiniert.
Es scheint fast so, als würde sie nichts um sich herum wirklich wahrnehmen, außer natürlich die paar Dinge, die im Moment für sie und das Ausführen von ihren Gewohnheiten bedeutend sind.
Ein schneller Blick auf die Uhr und sie stürzt auf, läuft schnell durch den leeren Flur und kehrt ein weiteres Mal zurück in ihr Zimmer.
Dort zieht sie Schuhe und ihre Jacke an, platziert den, immer noch zu schweren, Rucksack schwungvoll auf ihrem Rücken, läuft zur Wohnungstür, nimmt den Schlüssel, öffnet die Tür und verlässt endlich die erste Station ihrer täglichen Routine planmäßig.
Der Schlüssel verschwindet schnell im Rucksack und zu Tausch werden die Kopfhörer des Walkmans von ihr aus den scheinbar unbegrenzten Weiten von Heftern und Büchern geangelt.
Sie stopft sich die Ohrstäpsel hastig in die Ohren, drückt auf Play und ein verstört klingender Sänger verkündet ihr: „I’m not here, this isn’t happening!“
„Er hat ja so verdammt Recht! Ach, wäre das schön.“ denkt sie sich.
Sie läuft zur Straßenbahn und fährt zur Schule.
Im Unterricht stellt sich bei ihr der komplette Stillstand ein. Durch ihre leeren Augen sieht sie die Lehrerin vorne wild artikulieren. Alles kommt ihr schrecklich weit weg vor und sie scheint sich immer mehr von all dem zu entfernen, unbewusst, aber scheinbar unaufhaltsam.
Eine Klassenarbeit wird angesagt. Das Aufschlagen der Hausaufgabenhefte erscheint ihr unerträglich laut. Doch auch sie notiert sich schnell das Datum. Bei dieser Gelegenheit muss sie mit Schrecken feststellen, dass für morgen ein Chemietest auf der Tagesordnung steht. Ein leichtes Angstgefühl überkommt sie, obwohl sie sich zu beruhigen versucht, indem sie sich ins Gedächtnis ruft, dass es nur ein kleiner Test ist.
Allerdings geht es hier im Grunde gar nicht so sehr um diesen Test, sondern viel eher darum, was solche Stresssituationen bei ihr auslösen können.
Sie kennt das alles doch schon! „Es ist immer dasselbe.“ pocht es in ihrem Kopf. Panik beschleicht sie.
Deshalb schlägt sie das Hausaufgabenheft energisch wieder zu. Verdrängung ist das Zauberwort!
Denn sie hat ja immerhin noch 2 Stunden zu bewältigen.
Sie fühlt sich als würde sie um sich herum alles nur beobachten, als hätte sie keinerlei Möglichkeit irgendwie, auf das, was in ihrer Umgebung geschieht, Einfluss zu nehmen. Sie fühlt sich unsichtbar, wie Luft, nur viel nutzloser.
In Physik, der letzten Stunde, fragt sie der Physiklehrer etwas, aber sie weiß die Antwort nicht und ihr wird heiß und kalt. Sie schweigt ihn nur verunsichert an, in der Hoffnung, dass er die quälende Stille zerschlagen würde, indem er jemanden fragt, der es möglicherweise weiß. Er erhört ihre, im Raum stehende, Bitte.
Nun hat sie also mal wieder versagt. Sie hasst es zu versagen, sie hasst sich, wenn sie versagt!
Dann ist die Schule endlich vorbei. Der Physiklehrer hat ihr an diesem Tag nicht noch weiteres Wissen abverlangt. Er hat sie verschont. Vielleicht hat er ja bemerkt, welcher Druck auf ihr lastet.
Auf dem Heimweg versichert sie ihren Freundinnen, dass sie beim Lernen sicher mal wieder durchdrehen wird. Ihnen ist jedoch nicht so ganz bewusst, wie wahr und ernst diese Aussage wirklich ist.
Sie schließt die Wohnungstür auf und geht hinein.. „Nun muss alles ganz schnell gehen!“ Dies ist der Hauptgedanke, den sie jetzt hat. Sie muss sich beeilen, damit sie alle Aufgaben noch schafft.
Der Rucksack wird von ihr mit aller Kraft an den Schrank in der Ecke geschmettert, danach befreit sie sich von Jacke, Pullover und Schuhen, all das wird wild im ganzen Zimmer verteilt.
Sie hat keine Zeit für Ordnung!
Anschließend geht sie ins Bad und wäscht ihre Hände und das Gesicht.
Beim Abtrocknen belastet sie nun der Gedanke an die Menge des zu Lernenden. Sie geht in ihr Zimmer zerrt den Chemiehefter aus dem Schrank, versucht sich einen Überblick zu verschaffen und sich ein wenig zu beruhigen.
Jedoch schnürt ihr die Panik vorm versagen schon jetzt die Kehle ab und das Gefühl es nicht zu schaffen nimmt unangenehme Ausmaße an.
Ihre Reaktion auf diese Flut von negativen Gefühlen ist Wut!
Die Angst und Panik sind Anzeichen für Schwäche und sie möchte auf keinen Fall schwach sein. Sie will funktionieren, mithalten können, bloß nicht auf der Strecke bleiben!
Doch ihr momentaner Zustand scheint ihr sehr gegenteilig zu ihren Wünschen zu sein. Deshalb springt sie vom Stuhl auf und schmeißt den Hefter quer durchs Zimmer.
„ICH KANN NICHT MEHR! ICH KANN NICHT MEHR!“, ist alles was sie an Gedanken zustande kriegt.
Ihr Gesicht ist rot und sie schnauft wütend. Gern würde sie jetzt alles kurz und klein hauen, aber sie ist ja gut erzogen und kann das Wissen um die Konsequenzen eines solchen Ausrasters auch nicht verdrängen.
Aber wie zum Teufel soll sie denn jetzt ihre Wut herauslassen?
Sie sieht sich im Spiegel, der in ihrem Zimmer steht, und weint. Es ist kein normales, trauriges Weinen, nein, es ist ein schrecklich hysterisches Weinen. Immer mehr steigert sie sich hinein. Sie hasst es wenn sie so ist, wenn sie die Kontrolle über sich verliert und hofft immer, dass sie nie jemand so sieht.
Ihre Augen sind mittlerweile ganz rot und ihre Nase läuft, sodass sie unaufhörlich schnauben muss, als ob sie erkältet ist.
Aber sie ist kerngesund, nur schrecklich verzweifelt. Im Grunde gehören diese Heulattacken eigentlich traurigerweise auch schon zu ihrer Routine.
Angesicht zu Angesicht steht sie nun ihrem Spiegelbild, das eher wie ein Häufchen Elend aussieht, gegenüber und wird ganz ruhig. Es ist als ob die Zeit stehenbleibt.
Sie ist enttäuscht von dem was sie sieht.
In ihren Augen ist die Verkörperung von Schwäche und Versagen. Das ist sie! Selbsthass verdrängt nun die hilflose Verzweiflung.
Daraufhin greift sie nach einer Schublade des Schrankes und öffnet sie, dann entnimmt sie ihr eine unscheinbare Schachtel. Es klirrt als sie sie auf den Tisch, wo eben noch der Chemiehefter lag, stellt. Langsam hebt sie den Deckel der Schachtel hoch und legt ihn behutsam daneben.
Der glitzernde Inhalt wirkt auf sie, wie die perfekte Lösung ihrer Probleme, denn mit der Hilfe der glitzernden Gegenstände in der Schachtel wird sie wenigstens einen kleinen Moment lang von der Angst und dem Druck befreit. „Das ist es wert!“ denkt sie sich.
In der Schachtel liegen einige Glasscherben, von einem zerbrochenen Glas und eine Rasierklinge.
Sie greift nach der Rasierklinge, krempelt den Ärmel hoch, zögert allerdings einen Moment, um zu hören, ob jemand kommt, doch sie ist allein.
Dann lässt sie die Klinge über ihre Haut gleiten. Es entsteht nur ein kleiner blasser Strich. Sie fährt fort, die Striche vermehren sich rasant und die gereizte, rotgefärbte Fläche wird immer größer. Langsam beginnt ein wenig Blut die eingeritzte Haut zu verlassen. Sie macht immer weiter! Zwischendurch tupft sie das Blut mit einem Taschentuch ab, damit nichts davon auf den Teppich tropft.
Als sie das austretende Blut betrachtet stellt sie erleichtert fest, dass sie noch am Leben ist. Doch schon in der nächsten Sekunde verflucht sie den Zustand noch am Leben zu sein.
Schnell wischt sie das restliche Blut von der frischen Wunde, macht die Klinge sauber und lässt sie wieder in der Schachtel verschwinden, tut den Deckel schnell drauf und versteckt sie wieder in der Schublade.
Sie schämt sich schrecklich, schiebt den anderen Ärmel hoch und betrachtet eine ältere Wunde. Das war letzte Woche!
Eilig verbirgt sie die roten Striche an ihrem Armen wieder unter dem schützenden Stoff ihres Shirts.
Ein weiteres Mal schaut sie in den Spiegel und ist immer noch nicht zufrieden, aber wenigstens hat sie sich nun für ihr Versagen bestraft, Schmerz gespürt!
Sie dreht sich um und sammelt die Chemieblätter, die im Zimmer verteilt liegen, auf und tut sie zurück in den Hefter.
Danach geht sie zum Schreibtisch, wo sie sich eben noch selbst verletzt hat, und legt den Hefter hinauf, als wenn nichts gewesen ist.
Sie fängt an zu lernen. Stupide lernt sie die abstrakten Formeln und die vom Lehrer formulierten, diktierten Merksätze auswendig.
Sie funktioniert wieder!!!