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Funkstörung

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15.02.2003
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Funkstörung

Überall ist Herbst, in der Luft vor allem. Jeder Windstoß lässt die junge Frau ganz leicht erzittern. Sie ballt ihre Hände zu kleinen Fäusten. So ist wenigstens den Fingerspitzen warm. Und in ihrem Rücken steht der Wald in kalten Flammen.
Er leuchtet rot und gelb. Die losen Blätter streifen ihre Füße wie es am Meer die Wellen tun. Auch ihre Jacke ist gelb, auch ihr Haar ist rot, besonders wenn sich das Sonnenlicht darin verfängt. Das sind die Tarnfarben. Die sie vor den Blicken schützen sollen. Auch wenn die Ringe unter ihren Augen allzu deutlich sind, auch wenn jeder weiß, was sie da unter ihren weiten Ärmeln hat, überall auf ihren Unterarmen. Die verschorften Löcher, die da sind. Der letzte Schuss ist jetzt wie lange her, zehn Minuten, eine halbe Stunde? Sie weiß es nicht, sie trägt keine Uhr, nicht da, wo sie die anderen tragen, nicht außen.

Zwei oder drei andere Mütter sind noch da, sie stehen direkt am Eingang, nah beieinander, und werfen ihr hin und wieder heimliche Blicke zu. Sie antwortet mit unheimlichen Blicken, aus vergrößerten Pupillen, die wie Oliven in ihren geröteten Augenhöhlen treiben, von links nach rechts, ohne irgendwo lange zu verharren. Erst als die Kirchenglocke losgeht, fixiert sie den dunklen Eingangsbereich, wo sie gleich die ersten Kinderstimmen hören wird, leise, weil da noch der Wind dazwischen ist und das nervöse Geraschel der roten und gelben Blätter. Sie wäre gerne unsichtbar, unsichtbar für all die anderen Kinder, für deren Eltern und für alle Spiegel in der Nähe sowieso.

Sie erkennt das Kind nicht gleich unter all den anderen. Ein bisschen kleiner ist es als der Rest, etwas blasser und ein wenig stiller. Als Allerletztes - die übrigen Kinder wirbeln schon lachend über die Treppe - erscheint es im Eingang, und es nimmt jede Stufe einzeln, ganz vorsichtig setzt es einen Fuß vor den anderen, als befürchte es, bei einem falschen Tritt zu fallen.
Sie hebt die Hand, aber das Kind sieht sie nicht, weil es auf die Stufen starrt und weil ihm der Wind kalt in den Augen brennt. Die anderen Kinder haben die Köpfe gedreht und schauen zum Waldrand, wo sie steht, in denselben Farben wie der Wald dahinter, getarnt wie ein großes Chamäleon zwischen den Bäumen. Sie betrachten sie wie man einen bunten Fisch in einem Aquarium betrachtet, weil sie wissen, dass da Glas dazwischen ist, oder etwas anderes, was sie voneinander trennt und die Geräusche abprallen lässt wie Pingpongbälle.

Jetzt hebt auch das Kind den Kopf, zuerst denkt es, das Lachen gilt ihm, aber die Zeigefinger deuten woanders hin, zum Waldrand. Da ist alles rot und gelb, und ständig in Bewegung, als wären das lauter rote und gelbe Schmetterlinge, aber das sind nur die Blätter, die da durch die Gegend purzeln. Und dann sieht das Kind die Figur dazwischen, die gelbe Jacke und die roten Haare, die in Wirklichkeit aschblond sind, und es senkt den Blick.

Die Jacke bauscht sich im Wind wie ein Ballon und wenn ein besonders starker Windzug kommt, schlackert sie ihr um die Taille. Vielleicht erkennt das Kind mich nicht, denkt sie und streicht die Jacke mit den Händen glatt. Mittlerweile ist ihr nicht mehr kalt, das H beginnt zu wirken, die Wärme klettert ihre Beine hoch, das Zittern ist verebbt, in ihren Ohren klingt das Lachen der Kinder wie Musik aus einem weit entfernten Radio.
Nach kurzem Zögern hebt sie die Hand noch einmal, um ein Winken anzudeuten.

Das Kind muss lange so gestanden haben, denn als es den Kopf wieder hebt, sind die meisten anderen Kinder weg und es ist still bis auf den Wind, der sich anhört wie das Meer, auf Kassette aufgenommen und viel zu oft abgespielt. Das Kind schaut zum Waldrand, wo immer noch jemand steht und winkt, ihm zuwinkt.

Das H kribbelt sanft in ihren Fingerspitzen, die Blätter wirbeln immer noch um ihre Füße, aber jetzt sind sie orange. Die Farben verschwimmen meist zuerst.
Was hast du denn, fragt sie das Kind in Gedanken, wieso kommst du nicht her. Als hätte es gehört, tappt das Kind nun langsam auf sie zu, erst zögernd, dann immer schneller. Sie lächelt, und auch das Kind beginnt zu lächeln, wie jemand, der eben erst das Lächeln lernt.

Irgendwas ist anders, es sind die Kleider, der Vater muss ihm neue Kleider gekauft haben, eine neue Jacke und neue Fausthandschuhe und auch eine neue Mütze, mit bunten Fischen drauf. Teures Zeug, Dinge, die sie ihm nie hätte kaufen können. Sie spürt, wie das Blut in ihrem Hals pulsiert, warm und leicht. Bald kommt die Schwerelosigkeit, zumindest für ein paar Minuten.
Sie fährt dem Kind mit den Fingern über die Wollmütze. Du bist doch kein Fisch, sagt sie mit gespielter Strenge. Ich mag Fische aber, sagt das Kind, und es denkt, dass Fische vielleicht doch sprechen können, es aber nicht tun, weil sie sich nicht streiten wollen, weil sie gar keinen Grund zum Streiten sehen.

Sie sieht dem Kind kurz in die Augen, sie sind blau und kalt wie Veilchen hinter Glas. Du bist groß geworden, sagt sie, ich habe gehört, du bist gut in der Schule, ich habe mit deinen Lehrern gesprochen. Das Kind weiß, dass das eine Lüge ist, die Lehrer haben oft genug darum gebeten, einmal selbst mit der Mutter sprechen zu dürfen. Irgendwann haben sie den Versuch dann aufgegeben. Und es weiß auch, warum die Lehrer mit der Mutter sprechen wollten. Die anderen Kinder haben es ihm gesagt. Weil seine Mutter eine Hure ist, eine Huuure.

Das Kind wird unsicher, es schaut auf seine Füße und auf die Blätter, die da über seine Stiefel fegen, die Stiefel mit den Leuchtstreifen an der Seite, die in der spärlichen Sonne glitzern wie die Haut zum Trocknen aufgehängter Fische.
Hat dir der Vater die gekauft?, fragt sie das Kind. Nein, sagt das Kind, das war die Mutter. Dann fällt ihm ein, dass es da etwas Dummes gesagt hat und es fügt hinzu: die neue Mutter.

Sie will etwas sagen, aber ihre Zunge ist ganz taub vom H, sie liegt in ihrem Mund wie etwas Fremdes, wie eine Schnecke ohne Haus, die sich hinter ihren Zähnen windet und nicht gegessen werden will. Sie beugt sich hinab, um das Kind auf die Stirn zu küssen, aber das Kind dreht den Kopf schnell weg und ihre Lippen treffen auf die Mütze. Ohne sich darum zu kümmern, presst sie ihren tauben Mund auf die Fische, die von irgendwelchen Maschinen auf die Wolle gestickt wurden. Als sie sich wieder aufrichtet, fährt sie sich mit der Zungenspitze über die Zähne. Sie ertastet eine ganze Menge Fusseln, die bei dem missglückten Kuss in den Zwischenräumen hängengeblieben sind.

Na gut, sagt sie, kommst du nun mit, ich habe ein Auto. Sie deutet mit dem Daumen hinter sich und das Kind kneift seine Augen zusammen, um da hinten etwas zu erkennen.
Zwischen den Bäumen, halb bedeckt mit tiefhängenden Ästen und herabgewehten Blättern, steht ein gelber Bus, ein Postauto. Das habe ich ausgeliehen, sagt sie lächelnd, wir können damit überall hinfahren, wohin wir gerade wollen, du musst nicht mehr zur Schule gehen, du bist alt genug, fast schon erwachsen.

Das Kind errötet, es will, dass sie endlich aufhört zu sprechen, dass sie geht und dass sie das Postauto wieder zurückbringt, denn Postautos kann man nicht ausleihen, nur stehlen. Außerdem klebt an den Reifen Blut, dunkles, getrocknetes Blut.

Sie zuckt die Schultern. Ein Fuchs, sagt sie, ich habe ihn zu spät gesehen, da waren rote Blätter auf der Straße, der Fuchs hatte dieselbe Farbe. Das Kind hat noch nie einen lebenden Fuchs gesehen, nicht einmal im Zoo. Die neue Mutter meint, es sei zu alt für den Zoo, und den Vater mag es gar nicht fragen.

Ich muss jetzt gehen, sagt das Kind, ich hab nachher Fussballtraining. Die Mutter schüttelt den Kopf. Hat er dir etwa auch Fussballschuhe gekauft? Die Worte flutschen automatisch wie auf einem Fließband zwischen tauben Lippen hervor. Früher hätte er dir nicht einmal erlaubt, zu spielen. Sie hält kurz inne, runzelt die Stirn und dreht sich wie in Zeitlupe zu dem Wagen um, und die Blätter auf dem Boden rauschen wie eine Funkstörung. Sie fühlt es schon, die Leichtigkeit schwappt durch ihre Adern.
Jetzt schon, sagt das Kind, der Vater hat mir auch ein Trikot gekauft, ich muss jetzt wirklich weg.

Das H wogt wie ein bunter Nebel quer durch ihren Kopf, die Farben verschwimmen, die Augen glühen in ihren Höhlen, der Himmel schmilzt wie graue Schokolade. Schön, sagt sie, ich werde im Wagen auf dich warten, vielleicht überlegst du es dir noch einmal. Ich werde dich nun alleinlassen.

Das Kind sieht ihr hinterher, wie sie langsam zum Wagen geht, ihre Füße verschwinden fast ganz unter dem Laub, sie hebt die Beine kaum vom Boden, es wirkt beinahe wie ein Gleiten, oder auch wie Laufen auf Schienen. Sie wischt die Blätter mit dem Ärmel von der Windschutzscheibe, und weil sie schwankt, muss sie sich am Außenspiegel festhalten. Aber sie lächelt und sie macht die Tür auf und steigt vorsichtig ein und lächelt immer noch, mit steifem Mund wie eine Verletzte.

Sie dreht das Autoradio an, auf der A5 gibt es wieder Stau. Wir werden wohl zuerst in den Norden fahren müssen, denkt sie, dann werden wir weitersehen. Das Radio sagt, man soll keine Päckchen von Unbekannten öffnen, da hätte es eine Bombendrohung gegeben. Sie schaltet durch die Sender, sie will das Wetter hören, will wissen, ob es noch einmal wärmer wird oder ob es so bleibt, so kalt und grau wie im Bauch eines erfrorenen Elefanten. Im Rückspiegel sieht sie das Kind. Warum es wohl winkt? Besser, es würde endlich einsteigen.

Das Kind dreht sich um, es zieht die Mütze etwas fester um die Ohren, gegen den kalten Wind. Der Vater hat gesagt, durch die Ohren bläst der Wind direkt in den Kopf, wo er die Gedanken durcheinanderwirbelt bis man nichts mehr weiß, nicht einmal, wer man ist.
Als es gerade zwei Schritte gemacht hat, hört es einen lauten Knall. Das Kind blickt zurück. Mit großen Augen starrt es auf den Wald. Er brennt, die Bäume stehen in gelben und roten und orangenen Flammen, dazwischen liegt das Auto, schwarz und nackt wie das Skelett eines großen, rechteckigen Tieres.
Das Kind reibt seine Hände aneinander, ihm ist kalt, trotz des Feuers. Es ist, als ob der Himmel schmilzt, als hätte die Sonne ein Loch in die Wolkenschicht gebrannt und ein Geruch nach verbrannten Wolken hängt in der Luft.
Das Kind schließt die Augen, hält die Ohren in den Wind und denkt an bunte Fische, so fest es kann.

 
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Hallo Wolkenkind,

mir hat die Geschichte ganz gut gefallen.

Nur zwei Kritikpunkte:
1.) Du bist teilweise in die auktoriale Perspektive gerutscht: "Auch ihre Jacke ist gelb, auch ihr Haar ist rot", "Auch wenn die Ringe unter ihren Augen allzu deutlich sind", "Sie antwortet mit unheimlichen Blicken". das sind Dinge, die man nur von außen sieht, nicht als die Heroinsüchtige, aus deren Perspektive sonst erzählt wird: "Der letzte Schuss ist jetzt wie lange her, zehn Minuten, eine halbe Stunde?" - Das ist innerer Monolog, das passt m.E. nicht mit auktorialer Erzählhaltung zusammen.

2.) Das Ende ist zu spektakulär für meinen Geschmack. Mir würde es reichen, wenn sie sich in dieses Auto setzt und zurücklehnt.

Grüße,
Stefan aka leixoletti

 

Hallo wolkenkind!

Dein Spiel mit den Worten, mit immer wiederkehrenden Motiven (rot/gelb, die bunten Fische…) hat mir sehr gut gefallen, wie auch Deine gesamt Art zu erzählen. Insgesamt ist es eine bedrückende Geschichte, Du schilderst die Kommunikations- und Beziehungsstörung von Mutter und Kind sehr eindringlich. Beide, Mutter und Kind, haben eine schwierige Situation… Das Kind, das eine neue „Mutter“ hat, unter dem Beruf, dem Leben der Mutter, dem Spott der andern zu leiden hat. Und auch die Mutter, die ihr Kind als Kind dennoch bei sich haben will, mit ihm reden, etwas unternehmen. Ihr Leben aber nicht auf die Reihe bekommt und scheitert. Allerdings muss ich mich leixoletti anschließen, ein ruhiger, offenerer Schluss hätte auch mir besser gefallen, als dieser. Auch habe ich im ersten Moment nicht ganz begriffen, was geschehen ist, auch wenn Du die Andeutung zum Postauto, der Meldung sehr gut mit eingebracht hast.
Zwei Stellen, die mich sehr berührt haben:

„Nein, sagt das Kind, das war die Mutter. Dann fällt ihm ein, dass es da etwas Dummes gesagt hat und es fügt hinzu: die neue Mutter.“ – kann man zwei Mütter haben? Wie kann man mit diesem Wissen umgehen, wie schwer ist es, niemanden zu verletzen?

„Der Vater hat gesagt, durch die Ohren bläst der Wind direkt in den Kopf, wo er die Gedanken durcheinanderwirbelt bis man nichts mehr weiß, nicht einmal, wer man ist.“ – wer ist dieses Kind, wer ist die Mutter…

liebe Grüße
Anne

 

Danke für die Rückmeldungen, derartige Kritik hilft immer weiter.
Das Ende ist sicherlich zu spektakulär im Vergleich zum Rest, aber ich hab so die Sorge, dass die Geschichte mit einem offenen SChluss nur noch dahindümpeln würde, ohne Aussage und Gehalt.
Der Knall zum Schluss sollte eigentlich nur eine weitere Metapher sein. Falls jemand einen besseren Schluss weiß, her damit :)

Zum auktorialen Erzähler: Die Perspektive springt ja sowieso ständig vom Kind zur Mutter, wieso dann nicht auch gleich in die Beobachtersicht? War zumindest ein Versuch ;)

Liebe Grüße
Christoph

 

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