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Funken
Mit geschlossenen Augen stand sie da und spürte den kalten Wind durch ihr Gesicht und ihre Haare streichen. Von Zeit zu Zeit trug er vereinzelte, kleine Schneeflocken mit unter das Bahnhofsdach, welche auf ihrer warmen Haut schmolzen und als kleine Wassertropfen an ihrem Gesicht herabrannen. Doch das störte sie nicht. Ganz im Gegenteil; sie genoss es sogar, denn jedes Mal, wenn eine dieser seltenen Schneeflocken sie traf, jagte ihr ein wohliger Schauer über den Rücken.
Mit immer noch geschlossenen Augen lauschte sie der rhythmischen Musik, die durch ihre Kopfhörer drang, und nickte ab und zu im Takt mit; immer dann, wenn gerade eine besonders gute Stelle kam.
Aus den Lautsprechern ertönte eine laute, weibliche Stimme, die monoton verkündete, dass der Zug in die Stadt in wenigen Minuten eintreffen würde.
Enttäuscht darüber, aus ihrer Trance gerissen zu werden, schlug Jessica ihre Augen auf und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. Nachdem sie sie in ihrer Jackentasche verstaut hatte, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und fluchte leise. Die gelangweilte Stimme aus dem Lautsprecher hatte recht. Laut Plan würde der Zug in gut fünf Minuten eintreffen.
Jessica seufzte innerlich. Sie hatte noch überhaupt keine Lust, nach Hause zu fahren. Der Tag war anstrengend gewesen und daheim würden sie nur die üblichen Streitereien ihrer Eltern und das frostige Schweigen beim Abendbrot erwarten. Beides Dinge, auf die sie gut verzichten konnte.
Erneut warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr, so als könnte sie durch die bloße Macht der Gedanken die Zeit dazu bringen, rückwärts zu fließen. Natürlich war das nicht der Fall und der Sekundenzeiger zog auch weiterhin unerbittlich seine gewohnten Kreise.
Noch vier Minuten.
Jessica stopfte ihre Hände in die warmen Jackentaschen und legte ihren Kopf in den Nacken. Während sie unter dem Dach in den schwarzen Nachthimmel hervorlugte, schweiften ihre Gedanken zu ihrer Ausbildungsstelle ab. Seit drei Monaten arbeitete sie nun als Einzelhandelskauffrau und eigentlich gefiel es ihr so weit ganz gut. Sicher, ihr Traumberuf war es nicht gerade. Als sie klein war, hatte sie immer davon geträumt, eines Tages Anwältin zu werden und ihre eigene Kanzlei zu eröffnen. Aber wie sagte man so schön? Träume sind Schäume. Anwältin zu werden hätte bedeutet, ein Jurastudium absolvieren zu müssen und das hätte wiederum ein Abitur und keinen einfachen Realschulabschluss vorausgesetzt. Jurastudium plus Abitur bedeuteten mindestens sechs Jahre, die sie noch Zuhause bei ihren Eltern hätte verbringen müssen. Anders gesagt; sechs Jahre Hölle. Eine Hölle, aus der sie so schnell wie möglich rauskommen wollte. Also war es bei einem Realschulabschluss geblieben und sie hatte sich kurzerhand eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau beschafft, was ja auch nicht übel war.
Die Stimme aus dem Lautsprecher meldete sich zurück und bat die Fahrgäste darum, einige Schritte hinter die Markierung zurückzutreten, da der Zug nun in wenigen Momenten eintreffen würde.
Ohne groß darüber nachzudenken, trat Jessica einige Schritte zurück und sah sich nach den anderen Fahrgästen um. Wie immer wollten um diese Zeit nur sehr wenige Leute in die Stadt fahren, weshalb es nicht weiter verwunderlich war, dass außer ihr nur noch ein älterer Mann und eine junge Mutter mit Kleinkind am Bahnsteig warteten.
Noch zwei Minuten.
Und gleichzeitig noch zwei Monate, bis die eigentliche Fahrt wirklich losging. Denn in zwei Monaten würde Jessica endlich die Hölle, die ihr Heim geworden war, verlassen können. Ihre Eltern wussten es zwar noch nicht, doch es stand bereits seit einigen Wochen fest. In zwei Monaten würde sie in die Wohngemeinschaft ihrer besten Freundin einziehen. Eine der Mitbewohnerin hatte angekündigt demnächst ausziehen und Jessica hatte sich den freien Platz direkt reserviert. Der freie Platz, der ihre persönliche Freiheit bedeutete. Jessica lächelte bei dem Gedanken.
Mit lautem Rattern fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam kreischend zum Stehen. Die Türen öffneten sich und Jessica stieg hinter dem älteren Mann ein. Sie setzte sich in eine leere Vierer-Sitzgruppe und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich die Mutter mit ihrem Kind in die andere Sitzgruppe, direkt neben ihrer setzte.
Insgesamt waren sehr wenige Fahrgäste im Zug. Jessica war das nur recht, denn sie hasste überfüllte Plätze. Bei besonders großen Menschenansammlungen konnte es sogar passieren, dass sie Platzangst bekam.
Das Mädchen lehnte sich zurück und ließ ihren Blick wieder zu der jungen Mutter hinüber schwenken. Das Kind saß nun auf ihrem Schoß und hatte die Augen geschlossen, während die Mutter es sanft hin und her wiegte.
Jessica ertappte sich dabei, wie sie darüber nachdachte, wann sie das letzte Mal einen guten Moment mit einem ihrer Elternteile erlebt hatte. Ohne Zweifel lagen solche Momente schon eine ganze Weile zurück und die Momente, wo sie als ganze Familie glücklich beisammen gewesen waren, sogar noch länger.
In dem Versuch diese Gedanken loszuwerden, wandte sie den Blick von der jungen Mutter ab und starrte stattdessen aus dem Fenster. Hinaus in die Dunkelheit, an der sie vorbeirasten.
Sie wusste nicht, dass sie beobachtet wurde.
Wusste nicht, dass der Junge, der zwei Reihen vor ihr saß, sie die ganze Fahrt über nicht einen Moment aus den Augen ließ.
Ebenso wenig konnte sie ahnen, dass er sie später wiedererkennen würde. Lange, nachdem sie von Zuhause ausgezogen und ihr neues Leben begonnen hatte. Er würde sie wiedererkennen unter Hunderten Anderen; nur weil ihn ihr Anblick an diesem einen Abend so sehr faszinierte. Später würde er ihr erzählen, dass es ihre Augen waren, in die er sich verliebte. Ihre grünen Augen, die in diesem Moment so melancholisch dreinblickten. Und trotz dieser scheinbar grenzenlosen Melancholie sah er auch noch etwas anderes in ihren Augen. Diesen einen, gewissen Funken, der ihn einfach unendlich faszinierte ...