- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Fucking Nemo
„Finding Nemo ist ausgebucht! Außer - einen Moment mal - im Kino Albatros wären noch wenige Plätze frei! Allerdings läuft der Film dort in englischer Sprache, mit deutschen Untertiteln.“ teilte die freundliche Stimme am anderen Ende mit. Die erwartungsvollen Blicke von Maria, meiner Tochter, die hinter mir Position bezogen hatte, bohrten sich in meinen Rücken. Ich hatte ihr versprochen, den Film heute anzuschauen, als Belohnung für ihre guten Schulleistungen.
Lange genug wurde sie gelockt. Tagtäglich wurde ihr der Film in den Werbeunterbrechungen schmackhaft gemacht, wenn sie ihre Kinderfilme schaute. Wie alle anderen Kinder ließ sie sich von den Bildern der fröhlichen, bunten Fische verzaubern, bis ihr Verlangen den Film anzuschauen, ins Unermessliche stieg. Heute sollte ihr Wunsch endlich erfüllt werden. Darauf hatte sie hingearbeitet, indem sie sich in den letzten Wochen in der Schule große Mühe gegeben hatte. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, welche Auswirkungen eine Verschiebung des Kinobesuchs mit sich ziehen würde. Mir lag viel daran, eine liebevolle Beziehung zu meiner willensstarken Tochter zu pflegen und meine Versprechen einzuhalten. Wer konnte mir dies verübeln?
„Geht in Ordnung! Reservieren Sie drei Plätze!“ seufzte ich ins Telefon. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, wurde mir augenblicklich klar, im unsympathischsten Kino, im hässlichsten Industriequartier der Stadt, einen englischsprachigen Film gebucht und somit den Grundstein für einen gescheiterten Nachmittag gelegt zu haben. Meine Tochter verstand nämlich kein Wort englisch und war auch noch nicht schnell genug im Lesen, als dass sie mit den Untertiteln etwas hätte anfangen können.
Ich entschied mich dafür, meine Bedenken zu verschweigen. Meine Cousine, die uns begleitete, war erst seit kurzem aus der Nervenheilanstalt entlassen worden und meiner Meinung nach noch nicht vollständig gesundet. Aufregung versuchte ich aus diesem Grund wenn möglich zu vermeiden und machte gute Miene zum bösen Spiel.
Wir mussten unsere reservierten Tickets spätestens neunzig Minuten vor Filmstart an der Kinokasse abholen und machten uns frühzeitig auf den Weg. Die Billete mussten natürlich auch bezahlt werden. Deshalb versuchte ich am Geldautomaten in der Nähe des Kinos Bargeld zu beziehen. Das Ding war allerdings defekt und wie mich meine ortskundige Cousine informierte, war weit und breit kein anderer Automat vorhanden. Was konnte man vom unattraktivsten Industriequartier der Stadt anderes erwarten?
Im Kino stellten wir fest, dass auch Kreditkarten für die Bezahlung akzeptiert wurden, allerdings nur an einem Schalter. Insgesamt konnte man sich in drei Reihen anstellen. Die Schlange vor unserem kreditkartenfreundlichen Schalter war unglücklicherweise ungefähr dreimal länger als die anderen beiden. Eine unüberblickbare Menschenmenge hatte sich versammelt. Großmütter, Eltern, Jugendliche und Kinder drängten den Schaltern entgegen, um rechtzeitig die reservierten Nemo-Tickets abzuholen. Falls man es nämlich nicht schaffte, die Billete bis neunzig Minuten vor Filmbeginn abzuholen, wurden sie anderweitig vergeben. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, während ich mich Schritt für Schritt dem Schalter entgegen bewegte, meinen Blick immer starr auf die Uhr über uns gerichtet. Maria riss mich alle paar Minuten aus meinen gestressten Gedanken und fragte mich, wann denn der Film endlich beginnen würde. Wie würde sie reagieren, wenn wir leer ausgehen würden? Nicht auszudenken! Und wir schafften es. Zweiundneunzig Minuten vor Filmstart kriegte ich die begehrten Billete in meine Hände und schickte ein großes Dankeschön gegen den Himmel.
Die bleiche Farbe in Cousinchens Gesicht verriet mir, dass ihr das lange Warten nicht gut bekommen war. Maria klagte über ein Loch im Bauch. Es war klar: Nach dieser Aufregung hatten wir uns eine Belohung verdient. Deshalb beehrten wir das einzige Cafe weit und breit mit unserem Besuch. Wir traten ein, ließen unsere hungrigen Blicke schweifen und stellten mit Schrecken fest, dass ein Grossteil der Kinobesucher, die Gaststätte bereits in Beschlag genommen hatte. Erschöpft ließen wir uns auf die einzigen freien Plätze fallen, nachdem uns die Tischnachbarn gnädig die Erlaubnis erteilt hatten und hielten nach dem Kellner Ausschau.
Wir entdeckten ihn in Gestalt eines schmächtigen, dunkelhäutigen Mannes, der von Tisch zu Tisch eilte und Bestellungen aufnahm. Offenbar hatte das Cafe nicht mit diesem Menschenandrang gerechnet, denn hier lag eindeutig ein größeres Personalproblem vor. Wie der Kellner seine Aufgabe innerhalb nützlicher Frist lösen konnte, war mir schleierhaft.
Unser Tischnachbar, ein Mann mittleren Alters, mit gepflegtem Äußeren und tadellos sitzendem Anzug, schnaubte gereizt. Bestimmt wartete er schon ziemlich lange darauf, seine Bestellung aufgeben zu können. „Der soll endlich seinen Finger aus dem Arsch nehmen!“ jammerte seine Angetraute, welche sich für den Kinobesuch ebenfalls ordentlich zurechtgemacht hatte. Ihre kunstvolle Hochsteckfrisur musste von einem Profi geformt worden sein. Ein enges und ziemlich teuer aussehendes, beigefarbenes Deux-Piece verhüllte ihren kurvenreichen Luxuskörper. Die stinken vor Geld, dachte ich mir. Doch die eher rüde Sprache der Dame, weckte in mir den Verdacht, dass sie aus ziemlich primitiven Verhältnissen stammte. Schnell steckte ich das Paar in die Schublade ‚Neureiche’ und wendete meine Aufmerksamkeit wieder dem Tun des Kellners zu.
Mitleidig dachte ich daran, dass dieser arme Mann, für einen Minilohn an einem Sonntagnachmittag missmutige Gäste bedienen musste. Das Klönen meiner Tochter wurde langsam lauter und die Gesichtsfarbe meiner Cousine weißer. Schließlich erbarmte sich der Kellner und trat an unseren Tisch, um unsere Wünsche zu Papier zu bringen. Ich registrierte die bösen Blicke, mit denen die Neureichen den armen Kellner bedachten, während sie ihm ihre Bestellung entgegenbellten. Nach einer halben Stunde bekamen wir unsere Getränke und unsere Brötchen und wenige Minuten später bemühten wir uns um die Rechnung. Schließlich stand der Filmstart kurz bevor. Neunzig Prozent der Gäste hatten die gleiche Idee und so kam der Kellner erneut ins rotieren. Endlich durften die Neureichen bezahlen, nicht ohne den Kellner mit unfeinen Kommentaren noch etwas kleiner werden zu lassen. Ein Bedienungsgeld konnte er sich bei denen abschminken. Dafür gab ich ihm ein extra großes Trinkgeld, schließlich musste die Arbeiterklasse zusammenhalten. Meine Großzügigkeit wurde von den Neureichen bemerkt und missbilligt, wie ich befriedigt an ihren hochgezogenen Augenbrauen erkennen konnte.
Endlich saßen wir auf unseren Kinoplätzen und ließen die Werbung über uns ergehen. Es war nun höchste Zeit, Maria über die fremdländische Filmsprache zu informieren und ihren Protest mit einem schwerwiegenden Versprechen abzublocken. „Reg dich nicht auf, ich werde dir alles übersetzen!“ flüsterte ich ihr ins Ohr. Cousinchen saß außer Hörweite und verpasste dadurch glücklicherweise unser kleines Wortgefecht. Sie konnte jetzt wirklich keine Aufregung gebrauchen. Als der Film begann fiel mir auf, dass das Kino bis auf den letzten Platz besetzt war. Marias Stimmung verbesserte sich merklich und ich begann ihr, so gut es ging, die lustigen Dialoge zwischen Nemo und seinem Vater zu übersetzen. Bald merkte ich allerdings, wie ermüdend so eine Übersetzung sein konnte und beschränkte mich nur auf das Wesentliche. Die etwas weniger ärgerlichen Blicke der anderen Kinobesucher bestätigten mir, dass diese Entscheidung richtig war. Aber Maria war ganz und gar nicht damit einverstanden. Jedes Mal, wenn ihr etwas nicht klar war, brüllte sie laut in meine Richtung: „Mama, was passiert denn jetzt?“, was mir erneut den Zorn der anderen Kinobesucher einbrachte.
Bis zu diesem Tag hatte ich nicht gewusst, wie wohltuend so eine Filmpause sein konnte. Ich durfte Popcorn und Cola für meine Schutzbefohlenen holen und nervte mich nicht einmal mehr über die lange Warteschlange vor dem Kinobuffet. Im Gegenteil, ich stülpte eine imaginäre Schutzhülle über mich, in der es ganz still und friedlich war und genoss diese illusorische Einsamkeit. Wie im Traum bewegte ich mich schließlich wieder in Richtung unserer Sitzplätze, mit dem Knabberzeug in der rechten Hand und einem Pappbecher Cola in der Linken.
Aber oh weh, plötzlich verlor ich den Boden unter mir und stolperte. Ich hatte in meiner Traumwandlerei die Stufen übersehen. Wieder musste ein Schutzengel über mich gewacht haben, denn zwei starke Arme verhinderten den harten Aufschlag am Boden und fingen mich auf. Gleichzeitig entwich ein spitzer Schrei aus der hübschen Kehle der Frau neben meinem Retter. Die Arme stand da wie ein begossener Pudel. Ihre kunstvolle Frisur und ihr beigefarbenes Deux-Piece waren von einer klebrigen Colasauce überzogen. Da und dort klebte ein Pop Corn am süßen Nass. Da erkannte ich das neureiche Pärchen von vorhin und wünschte mir inständig, mich umgehend in eine Maus zu verwandeln und mich ins nächstgelegene Loch verziehen zu können. Der Wunsch wurde nicht erfüllt und mir blieb nur, eine Entschuldigung zu stammeln und mich schnellstmöglich in die Dunkelheit und Anonymität des Kinosaals zu verdrücken. Die klebrigsüße Tussi versuchte noch erfolglos mich am Ärmel zu fassen. Ihre wüsten Verwünschungen drangen allerdings trotz meiner blitzartigen Flucht an mein Ohr.
Bei Maria und Cousinchen angekommen, sank ich so tief wie möglich in meinen Sitz. Ich schaffte es noch, die beiden kurz über mein peinliches Missgeschick zu informieren, bevor ich mich in ein schamhaftes und wütendes Schweigen hüllte. Meine Schützlinge kannten mich gut genug. Meine barschen Worte und die finsteren Blicke, deuteten klar darauf hin, dass jetzt nicht mehr mit mir zu spaßen war. Zum Glück vermieden es die beiden, mich während des restlichen Filmverlaufs anzusprechen. Keine bunten Trickfilmfischchen der Welt konnten meine Laune verbessern. Die großartig animierte Unterwasserwelt verschwamm zu einer bunten Sauce vor meinen Augen. Bei einem kurzen Seitenblick auf meine Tochter merkte ich, dass sie leise vor sich hinweinte. Ich hatte keine Kraft mehr, sie zu trösten und wollte nur noch unauffällig raus hier. Nachdem der Fischvater seinen Nemo endlich wieder hatte und das Fischglück perfekt war, verließen wir fluchtartig das Kino.
Ich schaffte es noch, Cousine und Tochter im Eiltempo nach Hause zu bringen und sank erschöpft in mein Bett. Die Bilanz aus diesem Nachmittag war, dass jedes andere Ausflugsprogramm besser gewesen wäre. Das nächste Mal, wenn sich Maria von der Werbung blenden ließ, würde ich meine ganze Energie aufwenden und ihr eine bessere Alternative schmackhaft machen. Das nahm ich mir fest vor.