Fuck the future
Wenn
Wenn die Erde eine Scheibe wäre und wenn es in Berlin-Kreuzberg Regenwald-Schnecken hageln würde. Wenn die Standard-Combo „TCP“ zum ersten Mal das Vibrato zu tief nach unten zöge (um damit dann für immer aus den Charts zu entgleiten). Wenn nur nicht alles so verfickt vorhersehbar wäre auf dieser blöden Kugel. Was, wenn die Scanner alle auf einmal versagten? Wenn, wenn, wenn... aber M. lässt sich wieder mal von seinen wenns leiten.
„Erkennst du, was ich male?“
M. dreht sich um und schaut dem heutigen „Pinselnden Orakel-Schachlik“ ins Gesicht. Oder „200-Kilo-Picasso-Prophet“. Oder vielleicht auch „Arschloch-Mutter Theresa von Kreuzbergo-Orleans die holde Kartenleserin?“. Diese Namen produziert sein kaputtes Hirn in seiner zu reichlich vorhandenen Freizeit ständig für all die Pharisäer, die hierher zu seinem Besten erscheinen, weil sie voll der Gnade sind. Ihm ist seit langem klar, dass sie aus einem ganz anderen Grund auftauchen, etwas das er nie rauskriegen wird ... Aber ... vielleicht, wenn er es sich recht überlegt ist es nur einfach sein geiler Arsch. Vielleicht ist das einzige, was denen an ihm wichtig ist, die Fähigkeit, mit seinem tollen Knackarsch auf visuelle art und weise ihnen derartige Hormonstösse zu verpassen, dass sie den ganzen Tag mit einem Steifen herumlaufen müssen.
Selbst wenn nicht, er denkt oft darüber nach, wie seine Karriere verlaufen wäre, wenn er ohne diesen idiotischen kleinen Knicks im Hirn auf die Welt gekommen wäre. Der „kleine Unterschied“, der ihn zwingt, anders als alle zu denken (und ab und zu mit aufgestellten Haaren dem Händler von Nebenan seinen Neuro-Transmitter-Bedarf mitzuteilen) Wenn ...Dann... Pass mal auf, fetter Zeichner ... dieses Grinsen, diese wissende Fresse. Wow. Dieses grenzenlose Arschloch. Er beruhigt sich. Wieder fällt er in dieses wenn zurück, wenn wenn... dann ... ja dann...
„Gleich hab ichs. Noch eine Sekunde, Junge“, sagt Mutter Theresa voller Konzentration.
M dreht sich um, bedeckt seine Juvelen mit einer Hand und strengt sich an, den ersten Gedankengang seit etwa Mai zu ende zu lenken: Dann würdest du oh barmherziger Zukunftszeichner hier auf keinem Fall auf diese Art und Weise auf meinen jugendlichen Körper starren, sondern auf etwas ganz anderes ...(wie von selber geht hier M.s Mittelfinger in die Höhe)
„Hier, fertig. Deine Zukunft in der nächsten halben Stunde, Junge“, sagt der Schachlick-Picasso und gibt M. einen Zettel, auf dem unverkennbar M. zu sehen ist, gefangen in einer art Vierdimensionalität aus Strichen, die den Zeitablauf kodieren.
Das Caritas-Orakel rümpft kurz die Nase über den Zellophan-Beutel mit Neuro-Transmittern neben dem Bett, verzieht das Gesicht wegen den nackten Punk-Bunnies auf den Postern ,dreht sich dann zufrieden um und zieht ab. (Zufriedenheit ist bei dem Bürger stets das Zeichen, dass er mehr weiss als der Nicht-Bürger)
Oh, falls es vergessen wurde zu erwähnen: Sein Dasein fristet M. in einer Bruchbude, wo Zukunftszeichnungen auf schlechtaufgepumpten gelben Lodermatratzen mit roten Punkten wie die Halbmonde eines Kreuzberger Kebap-Lokals der grosse Renner sind. Rot genau wie die Orang-Utan-Arsch-Farbe der Make-ups der Pharisäer, die ihn malen, oder schlimmer, donnerstags, wie das ausgeschissene Rosa Standard-Hirn eines Sumo-bärtigen Kuba-Propheten.
Alles war ständig kaputt hier plus sein Selbstvertrauen, seit er den Hebb-Test nicht bestanden hat. Seit damals hat er in dieser Gesellschaft den Status eines Behinderten.
Er zieht sich wieder an und nimmt eine Tablette, weil er jetzt nachdenken will. Der folgende Speed-Trip ist wunderbar unregelmässig. Trotzdem träumt er . Schlecht, denn sein Hirn zeichnet den Gang der Zukunft nach. Der Fette hat ihm Sachen gemalt, die ihm nicht gefallen. Scheinbar wird er demnächst komisch. Verliebt sich höchstwahrscheinlich. Zwar alles im Rahmen der Statistik (95 %), aber Eva soll (wird!) ihr Name sein. So steht es auf dem Zettel. Meine Güte, ist das Scheisse.
Es muss später Nachmittag sein (welches Jahr auch immer, es ist ihm wurscht, aber wahrscheinlich nur ein paar Minuten später), als er die Augen öffnet und „The Canonical Predictables“ mit immenser Lautstärke ihren Dauerhit „It has been Love“ durchs Radio tönen. Sie tun das zwar jeden Tag, aber heute hat der Song seinen Zweck erfüllt.
„Since I met you and I saw your green eyes- It has been Loooove!“
Verdammt. Sechzehn Uhr vierzig.
Als M auf die Uhr schaut und ihm klar wird, dass sein Techtelmechtel unmittelbar bevorsteht, bearbeitet er seinen Kopf etwas mit der Haarbürste. Selbst wenn die ganze Zukunft sowieso schon vorgezeichnet ist, kann er das nicht haben, seiner Liebe ungekämmt gegenüberzutreten. Das ist das erste mal, seit sie ihn von der Zukunft abgeschnitten haben, dass er mal wieder richtig aufgeregt ist. Scheisse, es wird passieren! Er ist zwanzig jahre alt und in fünf Minuten soll das erste Sinnvolle an seinem Leben geschehen. Plötzlich arbeitet sein Hirn so klar, dass er den Zellophanbeutel unberührt liegen lässt. Er studiert gründlich jeden Strich der 4-D-Zeichnung, versucht die Gesichtszüge seiner Bald-Liebsten zu erahnen, der Frau, die möglicherweise alles verändern wird. Er prägt sich gründlich die Situation ein, in der sie sich Treffen werden. Ein Rosenhändler auf dem Kudamm. Kühler Windstoss vom Osten. Ein Mann verliert seinen Hut und stolpert. Eine Frau wird mitgerissen, schlägt sich das Knie auf. Sie hat ein markantes Kinn und grüne Augen (Since I saw your green eyes, it has been love!) Sie lächelt M. zu. Ihr blick eine einzige Aufforderung zum Angriff. Ihre zarte Hand löst sich vom zerschundenen Knie und fährt M entgegen. Noch bevor M. sie ergreifen kann, senken sich einige Finger ihrer Hand ab, andere bleiben wo sie sind. Es ist eine Geste, die in die Kategorie „Spock vom Vulkan“ zu fallen scheint. Dennoch ist sie irgendwie anders. M. verbringt einige Minuten damit, sie zu entziffern (die Zeichnung ist hier undeutlich), doch dann hat er es. Plötzlich erreicht M.s Blutdruck einen Punkt kurz vor dem Infarkt und es wird ihm wichtig, dass das 95 %-ige Ereignis auch tatsächlich eintrifft. Er will unbedingt alles richtig machen.
Es hat etwas von einer persönlichen Guerillia-Taktik, einen Scheiss auf die „wissenden“ Blicke der Bürger zu geben und die ganze Zeit nach unten zu schauen, denn während M. sich entlang der S-Bahn-Linie langsam richtung Kudamm vorarbeitet (nicht einfach, wenn man sich immer nur nach unten schaut), hat vermutlich jeder im Umkreis von fünfhundert Metern mitbekommen, dass da einer seiner ersten ernsten Rendezvouz entgegenläuft.
Fundamentalisten spucken bei seinem Anblick angewidert aus, Pharisäer lachen ihn offen unter ihren roten Make-ups an und geben ihm freundlicherweise den einen oder anderen Hinweis, um nicht unter ein Auto zu geraten oder in einen offenen Gulli zu fallen. Einmal nimmt ihn sogar ein besonders freundlicher Pharisäer zur Seite, womit er einer vorbeifliegenden Vase ausweichen kann, die offenbar aus irgendeiner Ehestreitigkeit stammt, von der jeder weiss ausser M. Demonstrativ drehen sich Leute an Strassen-Scannern nach ihm um, so als ob sie ihm sagen wollten „Hier, die Zukunft ist Allgemeingut!“. Doch sie wissen genau, dass er einer der wenigen ist, auf den das nicht zutrifft. „Nur wer beiträgt, darf auch sehen“, lautet das Gesetz, und M.s Hirn ist schlichtweg zu wirr verdrahtet, um von irgendwelchen Computern erfasst zu werden. Die anderen, die ihn hier öffentlich mit Blicken brandmarken, verrichten den Scan wie das Zähneputzen: jeweils morgens und abends. Ihre Gedanken werden Allgemeingut, genauso wie die Kenntnis des Zentralrechners über jedes einzelne unbelebte Molekül auf der Erde, welches von verschiedensten Arten von Materie-Scannern erfasst wird. Die Projektion des Momentan-Ist auf die Nächste halbe Stunde ist für die Bürger wie ein Scheinwerfer in die Nacht. Alle dürfen zweimal pro Tag den hellen Schein des „Noch-Nicht“ einsehen: Morgends und Abends. Alle, ausser Freaks wie M.
Dann
„Irgendwann wird die Zukunft kommen, grausam wie ein Blitz, dann überholt sie alles und dann wird das heute bereits zum Jetzt“
(Worte auf einem Pappkarton auf einem Berliner Hinterhof, 19. August 2096)
„Liebe“
Das Wort liegt M. schwer in der Gurgel und er muss schlucken. Noch ist es nicht soweit mit seiner Liebe, aber er wird sie spüren, das steht schon fest. Bevor er das Bild gesehen hat, war seine Haltung passiv, indifferent so wie die eines normalen Liebes-Jünglings, der sich keine Sorgen zu machen braucht, weil es sich so einfach ergeben wird. Nachdem er das Bild analysiert hat, bekommt M. allerdings leise Zweifel, ob solche Sachen denn 'von selbst' passieren können. Gedanken von Ursache und Wirkung geistern durch seinen Kopf. Wer war zuerst da? Die Henne oder das Ei? Wie kann ich mich verlieben, wenn ich gar nicht will? Das Kleid, die Perücke, und das Make-up, die er unter seinem Lederkittel versteckt hält sind Ausdrücke seines Zweifels und seiner Verwirrung.
Er schaut auf die Uhr. Es fehlen nur noch wenige Schritte und wenige Minuten bis zum Ende der Welt.
Er denkt noch einmal an das Leben zurück, das er geführt hat und bleibt sekundenlang stehen. Es ist weniger Schüchternheit, als das Zögern des Selbstmörders kurz vor dem Sprung. War denn alles Scheisse, was er durchmachen musste oder hatte es doch irgendetwas positives mit seinem Leben auf sich? Krampfhaft sucht er nach guten Momenten und scheint auch einen oder zwei zu finden, während der meiste Rest doch ein einzigen Haufen Scheisse darstellt. Aber dann geht er wieder los, weil er sich erinnert, dass es nicht die Vergangenheit ist, die zählt, sondern die Zukunft. Er kramt das Bild, das der Pharisäers ihm gemalt hat heraus und studiert es einen langen Augenblick lang. Sein mickriger „Scheinwerfer in die Zukunft“.
Wie wäre es, wenn man den begrenzten Scheinwerfer-Strahl von einer halben Stunde in einen unbegrenzten verwandeln würde? Was wäre, wenn man auf einer 4-D-Zeichnung einem Menschen zuschauen würde, wie er sich gerade seine eigene 4-D- Zeichnung anschaut). Was wäre, wenn ich mir mich anschauen würde?
M bleibt stehen, weil die Zeit gekommen ist. Er zieht sich das Kleid an und macht sich mittels Make-up im Gesicht so Feminin, wie es nur geht. Die grünen Augen und das kantige Kinn harmonieren seltsamerweise sofort mit dem Rest, so dass sogar ein Passant verlegen über ihn stolpert. M. tut sich am Knie weh, aber es spielt keine Rolle. Innerhalb einiger Sekunden hat sich M. in die hübscheste Frau verwandelt, die sich sein zerrüttetes Hirn überhaupt vorstellen kann. Es ist jedoch eine etwas andere art von Liebe, die er jetzt sich gegenüber spürt. Denn hauptsächlich rührt M. s Selbstliebe in diesem Augenblick daher, weil er jetzt selbst zu einem Pharisäer geworden ist. Er, der gutmütige M. ist jetzt bereit, der Welt einen Riesen-Gefallen zu tun.
„Endlich“, sagt er und streckt den Mittelfinger in die Höhe, „Eva“
Und der sound von TCP vibriert, eiert, verliert an Tonhöhe und bricht plötzlich in allen Radios gleichzeitig ab, wie vom Messer abgeschnitten.
Viel früher
„Was meinst du, du hättest jetzt keinen Bock auf mich?“
„Ich hab jetzt einfach keinen, ok? Später?“
„Mensch ...“
Zwei Minuten vergehen. Eva kommt mit Elektroden auf dem Kopf aus dem Klo zurück.
„War's nicht so, dass wir im Augenblick des größten Triumphes unser Kind zeugen wollten?“
„Das Ding ist ein Haufen Scheisse, nicht unser Triumph“
Richard schaut entgeistert drein,“Aber wir haben doch Monate gemeinsam an dieser Diplomarbeit geforscht! Und eben hast du doch noch gesagt, es funktioniert!“
„Vergiss es, es funktioniert nicht“
„Wieso das auf einmal?“
„Es erzeugt Stimmungsschwankungen... und Visionen“
„Visionen?“
Eva sagt nichts, sondern denkt an das Bild eines etwa einjährigen Kindes, wie es (eigentlich unglaublich für das Alter) mit erhobenem Mittelfinger immer wieder „Eva! Eva!“ ruft.
„Vergessen wir's also?“
„Ja, vergessen wir's. Der Apparat taugt nichts. Und Sex gibt's heute, wenn überhaupt nur mit Kondom“
„Ok“
FIN