Froschgrün
Claudia rannte schon beinahe, als sie die letzten Stufen hinunter ins Erdgeschoss nahm. Sie schätzte ihren Arzt zwar sehr, dass er sie aber - wie üblich - über eine Stunde hatte warten lassen, hatte sie - wie üblich - geärgert. Gesund war sie glücklicherweise mit ihren 32 Jahren, und daher musste sie nur zur Vorsorgeuntersuchung kommen. Einmal im Jahr verwartete sie also auf diese Art eine Stunde. Ihre Nerven könnten besser sein, hatte ihr Arzt diesmal gemeint, sie sei leicht erregbar, vielleicht etwas überreizt. Das hatte ihr ihr Freund Thomas zwar auch schon gesagt, aber sie hatte es heute mit dem Schwindel, zu viel Kaffee zu trinken und mit dem daher falschen Versprechen, dies zu reduzieren, weggewischt. Aber innerlich wusste sie, dass es stimmte. Vielleicht war es das Zusammenleben mit einem acht Jahren jüngeren Partner, das sie nervös machte.
Sie stieß die schwere Holztüre auf und ging auf die Strasse. Auch hier Hektik – die Fußgänger marschierten eiligen Schrittes in alle Richtungen, sie zeigten Gesichter, die eine Mischung von Anspannung und Müdigkeit verrieten, wie man sie in Großstädten abends immer sieht. „Wie viele von denen sind wohl auch schon zu spät dran und müssen noch ihre Einkäufe erledigen?“, sagte Claudia zu sich.
Sie ging um die Ecke in die Nebenstraße zu ihrem kleinen, froschgrünen Wagen. Ohne aufzusperren öffnete sie die Fahrertür, warf ihre Handtasche wie gewohnt auf den Rücksitz und setzte sich hinein. Natürlich hatte sie wieder nicht zugesperrt, all ihre Freunde und vor allem Thomas regten sich immer wieder darüber auf. „Du wirst dein Auto eines Tages nicht mehr wiederfinden, weil jemand anderer damit weggefahren ist!“ Claudia glaubte aber nicht daran und benahm sich in der Stadt weiterhin so, wie sie es jahrelang bei sich auf dem Land getan hatte.
Es war ja eigentlich noch schlimmer. Denn Claudia entdeckte, dass sie den Schlüssel sogar im Zündschloss hatte stecken lassen! Das war ihr zwar auch schon manchmal passiert, aber Gott sei Dank hatte Thomas es noch nie bemerkt. Sie startete den Motor, schob aus der Parklücke heraus und reihte sich in den Verkehr ein. Während sie sich noch überlegte, welches wohl der schnellste Weg zu ihrem Lebensmittelgeschäft wäre, stach ihr plötzlich ein unbekannter Duft in die Nase. Woher kam der? Es roch nach einem billigen, vulgären Parfum in ihrem Auto! Sie konnte sich das nicht erklären. Wie ein Pfeil schoss es ihr durch den Kopf: „Thomas muss eine andere Freundin haben! Und noch dazu hat er die Stirn, dieses Weibsbild mit ihrem billigen Duftwasser in meinem Auto zu kutschieren!" Sie wurde hochrot, genauso wie die Ampel, die sie gerade noch rechtzeitig wahrnahm. Mit quietschenden Reifen blieb das Auto stehen. Etwas war bei diesem Manöver vom Beifahrersitz gefallen. Sie blickte zwischen ihren Füßen hinunter: Dort lag einer dieser billigen Duftspender, wie man sie an den Rückspiegel hängen konnte. Und davon ging dieser penetrante Duft aus, den sie für ein Parfum einer Nebenbuhlerin gehalten hatte.
Die Ampel war wieder auf Grün gesprungen, und Claudia fuhr kopfschüttelnd an. Hektisch bog sie nach links ab, diese Abkürzung würde sie schneller ans Ziel und damit vielleicht doch noch rechtzeitig ins Geschäft bringen. Woher stammte bloß dieses schreckliche Duftding, sie hatte noch nie so etwas gekauft? Es musste wohl Thomas gewesen sein, als er sie ihn vor kurzem zur Tankstelle geschickt hatte. Aber wozu? Auf einmal kam ihr die Erklärung: Der Kerl hatte wieder zu rauchen angefangen, obwohl er ihr hoch und heilig versprochen hatte, diesmal würde er endgültig aufhören. Und um den Geruch vor ihr zu verheimlichen, hatte er dieses entsetzliche Zeug gekauft. Für wie dumm hielt Thomas sie eigentlich? Sie würde ihn noch heute Abend zur Rede stellen, und wenn er leugnete ...!
Sie packte den Duftspender, öffnete wütend das Handschuhfach und warf ihn hinein. Das heißt, sie hätte ihn hineingeworfen, wenn das Handschuhfach nicht so voll gewesen wäre, dass er davon abprallte. Claudia sah dies aus dem Augenwinkel, und was sie da wahrnahm, erschreckte sie so, dass sie plötzlich in die Bremsen stieg und der Fahrer hinter ihr nur mit größter Mühe einen Auffahrunfall vermeiden konnte und sie zornig anhupte.
Ihr sonst so aufgeräumtes und fast leeres Handschuhfach war vollgestopft mit allem möglichen Krimkrams, gebrauchten Papiertaschentüchern, Fotos, Luftballons, Papieren, in einem unheimlichen Wust hineingeschoben. Vor sich erspähte Claudia einen freien Parkplatz und stellte sich rasch hinein, um das genauer zu untersuchen. Was sie entdeckte, ließ ihr fast das Herz stillstehen. Lauter unbekannte Dinge, die sie nie in ihrem Wagen gesehen hatte, Kinderhandschuhe, ein Schnuller, Büroklammern, ein leerer Plastiksack, ein Hundehalsband. Sie drehte sich instinktiv um, blickte auf den Rücksitz: Ihre nach hinten geworfene Handtasche lag auf einem Kindersitz! Sie zitterte, und was ihr seit ein paar Sekunden zu dämmern begonnen hatte, wurde mit einem Schlag zur Gewissheit: Sie saß in einem fremden Auto!
Es hatte genau die gleiche Farbe, dieses seltene, von ihr so geliebte Froschgrün. Es war das gleiche Modell, mit den gleichen Schutzbezügen. Aber es war nicht ihr Wagen. Wie um sich des bereits Sicheren noch zu vergewissern, stieg Claudia aus, öffnete den Kofferraum, schloss ihn aber ebenso schnell wieder, denn sie hatte auf einen zusammengelegten Kinderwagen geblickt. Panik erfasste sie. Was würde geschehen, wenn die Frau, der dieses Auto gehörte, zu ihrem Parkplatz zurückkam und es nicht vorfand? Womöglich war das schon passiert, und sie hatte schon die Polizei verständigt. Ein Fahndungsbefehl war veranlasst worden, und alle Polizeistreifen der Stadt suchten bereits nach ihr. Was sollte sie bloß tun? Es gab nur eine einzige Möglichkeit; sie musste den versehentlich gestohlenen Wagen so schnell wie möglich unbemerkt zurückstellen.
Claudia setzte sich zurück ins Auto, fummelte mit Tränen in den Augen am Zündschloss, startete den Motor und fuhr wieder los. Alles, was sie im Auto nun berührte, den Schalthebel, das Lenkrad, schien ihr verboten zu sein. Auch fuhr sie wie auf Eiern, aus Angst, sie könnte einen Unfall bauen. In ihrer Hektik verfuhr sie sich, und um Zeit zu gewinnen, drehte sie verbotenerweise auf der Hauptstrasse um und fuhr zurück. Vor einer roten Ampel blieb sie stehen. Und da geschah es: Ein Streifenpolizist kam auf ihr Auto zu und klopfte an ihre Scheibe. Es war vorbei! Er musste sie bei dem verbotenen Manöver gesehen haben, hatte sich an die Fahndung erinnert, und kam, um sie zu verhaften. Sie würde eingesperrt werden, ihren Job verlieren, Thomas würde sie verlassen, und für ihre Eltern am Land wäre die Schande im Dorf sowieso nicht auszudenken. Ihr Leben war in Scherben. Mutlos und zitternd kurbelte sie die Scheibe herunter.
Zu ihrem größten Erstaunen lächelte der Polizist freundlich, als er sie ansprach: „Alles in Ordnung, Fräulein?" Ihre Bejahung krächzte Claudia heiser hinaus. „Entschuldigen sie die Störung, aber wir sammeln gerade für unsere guten Werke und da wollte ich auch sie bitten, ob sie vielleicht ein wenig Kleingeld ..." Weiter kam er nicht, denn schon hatte Claudia ihm mit einem erleichterten, hysterisch gluckernden Lachen einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand geschoben. „Oh, herzlichen Dank, Gott möge es ihnen vergelten!" Die Ampel schaltete auf Grün, Claudia fuhr rasch weiter, den vor so viel spontaner Großzügigkeit immer noch verdutzt blickenden Heilsarmeesoldaten hinter sich lassend.
Endlich bog sie wieder in die Nebenstraße ein, wo sie vorher eingestiegen war. Doch es kam natürlich so, wie sie befürchtet hatte: Der Parkplatz war längst wieder besetzt. Claudia rutschte unbewusst auf dem Fahrersitz nach unten, wie um sich unsichtbar zu machen. Was sollte bloß geschehen, wenn die Eigentümerin des Autos gerade jetzt daher kam und sie sah?
Ihre Parkplatzsuche kam ihr endlos vor. Endlich, endlich fuhr zweihundert Meter weiter vorne ein Auto weg, und Claudia beeilte sich, den Wagen, in dem sie saß dort abzustellen. Sie hielt den Motor an, ließ den Schlüssel so stecken, wie sie ihn vorgefunden hatte, schnappte sich ihre Handtasche vom Kindersitz und sprang aus dem fremden Wagen, nicht ohne einen letzten Blick zu werfen, ob sie wohl niemand gesehen hatte.
Immer noch zitternd stand Claudia am Gehsteig. Obwohl ihr jetzt fast alles in Ordnung schien, wollte sie doch so schnell wie möglich von hier weg. Zum Einkaufen war es nun bereits zu spät, sie würde Thomas eben sagen, dass ihr Arzt sie noch länger als üblich hatte warten lassen, und ihn zum Essen ins Restaurant einladen. Doch zuerst musste sie ihren eigenen Wagen finden. Sie schaute um sich, ging die Strasse entlang. Schließlich, kaum zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo sie ursprünglich eingestiegen war, sah sie das Froschgrün ihres Autos leuchten. Erleichtert ging sie darauf los, doch als sie in die Nähe kam, schritt eine andere Frau in etwa ihrem Alter mit einem kleinen Kind auf dem Arm auch auf ihr Auto zu und öffnete die Fahrertür. „Halt, das ist mein Wagen!“, schrie Claudia und rannte die letzten Meter hin. Die andere zuckte erschrocken zusammen. „Oh, bitte entschuldigen sie vielmals, aber ich habe genau das gleiche Auto, und diese froschgrüne Farbe ist ja sehr selten. Da ich immer den Schlüssel darin vergesse, habe ich mich nicht gewundert, dass offen war.“ Mit diesen Worten ging sie fort, suchend um sich blickend.
Claudia warf sich in den Fahrersitz, schloss die Augen, atmete tief durch, vergewisserte sich, dass kein Kindersitz da und das Handschuhfach aufgeräumt war. Sehr zufrieden mit sich holte sie ihren Zündschlüssel aus ihrer Handtasche, steckte ihn ins Schloss, startete den Motor und sagte: „Ich komme, Thomas!“