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"Frohe" Weihnachten

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24.11.2007
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"Frohe" Weihnachten

Die Orgel spielt festlich. Ich kann mir den Organisten richtig vorstellen, wie er mit feierlicher Miene auf seinem Hocker sitzt und in die Tasten hämmert.
Die Besucher danken es ihm, indem sie ebenfalls ein feierliches Gesicht aufgesetzt haben. Geht in Richtung verklärt-glücklich. Ich bin überzeugt, dass kein Einziger von ihnen auch nur im Geringsten etwas für Orgelmusik übrig hat. Aber heute natürlich. Es ist ja Weihnachten. Da muss der obligatorische Kirchgang sein. Um das Gewissen zu beruhigen, das sagt: Du warst schon ein ganzes Jahr nicht mehr in der Kirche!
Naja wir hatten dieses Jahr aber auch viel um die Ohren. Erst war der Austauschschüler da und dann hat Benni die Windpocken gekriegt.
Und natürlich um den seligen Gesichtsausdruck auszuführen. Seht her wie glücklich wir sind!
Vorne ist das Krippenspiel zu Ende . Neben mir wischt sich eine Frau doch tatsächlich eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit einem Stofftaschentuch, mit Engeln und Tannenzweigen drauf. So gerührt ist sie, ihre Kleine da vorne im reizenden Engelskostüm mit haarsprayverklebten Löckchen zu sehen.
Ich möchte auch heulen. Schreien. Aber bestimmt nicht aus Rührung.
Jetzt erzählt der Pfarrer etwas über Liebe und Besinnung. Das was er jedes Jahr an Weihnachten erzählt. Die Menschen werden schon ein bisschen unruhig. Rutschen auf der harten Holzbank hin und her. Wie lang dauert es denn noch? Das Grinsen auf dem Gesicht ist jetzt festgefroren. Ich sehe richtig wie sie sich aus diesem schmucklosen alten Gemäuer fort wünschen und in ihre eigene kleine weihnachtliche Familienidylle eintauchen möchten.
Ich sehe das Ende des Gottesdienstes schon vor meinem inneren Auge. Wenn jeder erleichtert aufspringt und sich auf den nächsten ihm irgendwie bekannten Menschen stürzt.
Hallo, schön dass du auch da bist. Schöne Weihnachten! Ja ja bei uns gibt’s dieses Jahr wieder mal Raclette. Morgen sind wir bei den Schwiegerleuten. Naja da muss man halt durch. Der Gottesdienst war mal wieder soo schön. Ja, deine Tochter war auch bezaubernd. So ich muss jetzt los, mal sehen ob das Christkindlein schon da war. Hahaha.
Diesen Anblick will und kann ich nicht ertragen. Wenn diese ganzen Menschen ihr Glück zur Schau stellen. Und ich doch die ganze Zeit nur denke: Er stirbt. Er stirbt. Er stirbt.
Ich muss raus hier. Jetzt. Ich stehe auf, quetsche mich durch die vollbesetzten Kirchenbänke, versuche niemandem auf den Fuß zu treten und murmele immer wieder „Tschuldigung.“ Obwohl ich es vermeide den Menschen direkt ins Gesicht zu blicken kann ich doch sehen, dass alle Blicke auf mich gerichtet sind. Wie die Grinsemaske abfällt und der Empörung Platz macht.
Nein so was. Man kann doch nicht einfach mitten im Gottesdienst gehen. Das gehört sich nicht.
Vielleicht sind sie auch nur neidisch. Weil ich hier raus kann und nicht noch eine halbe Stunde mit eingeschlafenen Füßen in der Kälte sitzen muss.
In weiter Ferne sehe ich die Tür. Nach einem endlos scheinenden Spießrutenlauf habe ich sie endlich erreicht.
Draußen hat es angefangen zu schneien. Die perfekte Weihnachtsidylle. Der Schnee verschluckt alle Geräusche. Meine Schritte im Schnee. Es ist ganz still. Ich habe keine Handschuhe dabei und meine Finger schmerzen nach kurzer Zeit. Es tut gut.
Ich stelle mir vor, wie sich die Ärzte im OP gerade über ihn beugen. Eine zwölfstündige Operation. Das ist auch kein schönes Weihnachten für die Ärzte. Vielleicht ist er ja schon tot. Dann können sie früher Feierabend machen.
In meinem Kopf dreht sich alles. Ich laufe durch den Schnee und meine Gefühle brechen aus mir heraus. Ich heule hemmungslos. Meine Tränen vermischen sich mit den Schneeflocken, die an meiner Wange schmelzen. Nein ich kann jetzt nicht nach Hause. Ich würde nur stundenlang mit klopfendem Herzen vor dem Telefon sitzen. Und wahrscheinlich nicht einmal den Mut aufbringen den Hörer abzunehmen, wenn es tatsächlich klingelt. Ich renne durch die Altstadt. Fast alle Fenster sind hell erleuchtet. Zwischen den Häuserreihen sind Lichterketten aufgespannt. Am Marktplatz vor der Apotheke steht ein gigantischer Christbaum. Ich bleibe in der Mitte des verlassenen Marktplatzes stehen. Drehe mich und wimmere und schluchze. Bin froh, dass ich hier alleine bin. Dass die anderen gemütlich unterm Tannenbaum sitzen, Adventslieder singen und sich nicht um mich kümmern. Dann lege ich mich mitten auf der Straße auf den Boden und mache einen Schnee-Engel. Aber dieser Anblick macht mich so wütend, dass ich darüber trampele bis er nicht mehr zu erkennen ist. Und ich schreie dabei. Nicht so laut dass die Fenster aufgehen und sich jemand wegen der Ruhestörung am Heiligen Abend beschwert. Es ist ein stummer Schrei. Und trotzdem schreie ich mir die Seele aus dem Leib und trommele mit meinen Fäusten auf den gefrorenen Boden ein. Irgendwann sticht die kalte Luft in meiner Lunge. Ich kann nicht mehr. Ich stelle mich an die Bushaltestelle und warte bis ein Bus kommt. Keine Ahnung ob am Heiligabend überhaupt einer fährt.
Nach zehn Minuten kommt tatsächlich einer. Er ist leer. Der Busfahrer fragt sich bestimmt auch warum er nicht daheim bei seiner Familie sein kann. Ich steige ein und will meinen Geldbeutel zücken aber der Busfahrer winkt ab. „Ist Weihnachten“ brummt er und deutet auf den Sitz ganz vorne im Bus.
Ich setze mich und schaue wie dunkle Stadt mit ihren vielen Lichtern an uns vorbeizieht. Mich überkommt ein ohnmächtiges Gefühl. Als würde sich alles drehen. Ich will dass es aufhört, aber nichts passiert. Etwas schnürt mir die Kehle zu. Ich drohe zu ersticken. Ich will mich übergeben aber ich fühle mich ganz ausgetrocknet. Wie eine verdorrte Blume. Ich habe einfach zu viel geweint. Ich bin ganz leer.
Als ich die Nachricht erhalten habe kam gerade irgendeine Zeichentrickserie im Fernsehen. Dabei wurde meine unbeschwerte Jugend in diesem Moment zerstört. Ein für alle Mal. Von einer Sekunde auf die andere aus dieser Naivität aufwachen. Aus der heilen Welt. Krebs. Von einer Sekunde auf die andere erwachsen werden. Ich glaube nicht, dass ich dazu schon bereit war...
Der Busfahrer hat eine Weihnachts-CD laufen. Best of Christmas oder so. Gerade singt einer dieser Knabenchöre Jingle Bells. Es duftet nach Lebkuchen.
Der Busfahrer hält mir die halbleere Tüte hin. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust auf Lebkuchen aber ich will nicht unhöflich sein und so nehme ich mir einen. Ich sehe wie der Busfahrer mich im Rückspiegel mustert. Nicht aufdringlich oder verstohlen, er schaut mich einfach direkt an.
Kann man ihm auch nicht übelnehmen. Ich sehe bestimmt schlimm aus. Mit aufgequollenem Gesicht vom vielen weinen, vom Schnee durchnässt.
„Wo willst du denn hin?“
Ich zucke nur mit den Schultern. Beise in den Lebkuchen. „Der ist lecker!“
Ich kann in der Scheibe gespiegelt sehen, dass der Busfahrer lächelt. „Nein. Der schmeckt fürchterlich.“
Ich muss kurz lachen und für eine Sekunde verschwindet dieses ohnmächtige Gefühl in mir. „Ja. Grausam.“
„Wie Pappe“
„Die im Schnee nass aufgeweicht worden ist“
„Und die man dann wieder getrocknet hat.“
„Igitt“
„Wer sagt eigentlich, dass man an Weihnachten Lebkuchen essen und Jingle Bells hören muss?“
„Weiß nicht. Ich nicht. „
„Ich auch nicht.“ Der Busfahrer wechselt die CD. „Das war schon mehr als genug.“
Jetzt ertönt etwas Jazziges. „George Benson. Den mag ich.“
Ich nicke. Das passt. Besser als dieses Weihnachtsgedudel. Wir schauen in die Nacht und nehmen die Musik in uns auf. Langsam entspanne ich mich etwas und der Klos in meinem Hals wird immer kleiner.
Wir reden nicht mehr aber ich habe auch nicht das Gefühl etwas sagen zu müssen. Ich lehne mich zurück. Hätte nicht gedacht dass ein Bussitz so bequem sein kann. Aus der kleinen Heizung an der Seite strömt warme Luft und meine Finger tauen wieder auf. Der Busfahrer summt leise und falsch vor sich hin und trommelt mit seinen Fingern im Takt auf das Lenkrad. Er sieht jetzt richtig glücklich aus. Ich freue mich.
Irgendwann sind wir wieder an der Haltestelle angekommen an der ich eingestiegen bin. Ich weiß, dass ich jetzt aussteigen muss. Auf das Klingeln des Telefons warten. Und dass ich das schaffe.
Ich stehe auf. Der Busfahrer lächelt. „Frohe Weihnachten.“
Ich lächle auch. „Ja. Frohe Weihnachten.“

 

Mir gefällt die Geschichte. Ich kann es quasi selbst fühlen. Das ist eine andere Seite von Weihnachten, die es auch gibt.

LG
Atti

 

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