Frohe Ostern
Frohe Ostern
Herr Keller war heute gut gelaunt. Er hatte fast alleine frühstücken können und ein einsames Frühstück liebte er über alles. Seine Frau wusste das, aber die anderen drei hatten es noch nicht so richtig verstanden. Heute morgen war nur Birol in der Küche gewesen. Und Birol hatte vor sich hin geschwiegen, wie meistens wenn er mit Herrn Keller alleine war.
Herr Keller schritt nun weit ausholend zu seinem Büro in der Pharmafirma Pletee. Im Flur kam er an seiner Sekretärin Isabelle vorbei, die ihn nach seinem gemurmelten „Guten Morgen“ sogleich anhielt. „Ray, da ist eine dringende Mitteilung auf dem Schirm an Dich. Vom Chef.“ „So?“, fragte Herr Keller verwundert und ging hinein. Er liess sich hinter seinem Schreibtisch auf den Sessel fallen und schaltete seinen Computer ein.
Tatsächlich, da war eine Nachricht vom Chef. Er traute seinen Augen nicht als er sie las. Er rief Isabelle zu sich. „Sag mir, dass das ein Scherz ist!“, rief er aufgebracht und zeigte auf den Text:
Liebe Ressortchefs,
wie Sie wissen, bemühen wir uns stets unser Niveau auf dem höchsten Stand zu halten. Leider müssen wir feststellen, dass die Konkurrenz aus Südafrika uns dicht auf den Fersen ist.
Unsere Unternehmensanalytiker glauben einen Grund aufgespürt zu haben: die mangelnde Rückbindung unserer Entscheidungsträger an die Kräfte der Natur.
Wo gerade die Natur für unsere pharmazeutische Firma richtungsweisend sein sollte.
Um diesen Mangel zu beheben, haben wir einen Totemcoach aus Neuseeland engagiert. Er wird Ihnen vorgestellt bei der nächsten Sitzung in drei Tagen. Bitte bringen Sie zu diesem Anlass ein Plüschtier Ihrer eigenen Wahl mit, das Ihren Eigenschaften entsprechen könnte. Der Totemcoach Herr Smith wird alles Weitere dann mit uns besprechen.
gez. Zander
„Na ja, etwas ungewöhnlich das mit den Plüschtieren. Aber Du weißt ja, der Chef hat seine Nase stets im Trend.“, meinte Isabelle. „Den wievielten haben wir heute?“, fragte Herr Keller. „Immer noch den 23. August.“, entgegnete Isabelle „Doch kein Aprilscherz“, knurrte Herr Keller. So schnell wollte er sich jedoch nicht geschlagen geben.
Er rief seine Kollegin Merz auf den Bildschirm. Es erschien das Gesicht einer älteren, hageren Frau mit einem ironischen Zug um die Augen. Bevor Keller etwas sagen konnte, sagte sie: “Ich weiss schon, warum Du mich rufst. Es ist die Mitteilung vom Chef, stimmt´s?“ „Ja“, gab Keller zu „sag, dass sie nicht ernst gemeint ist.“ „Sie ist ernst gemeint.“, erwiderte Merz, „Du kennst doch den Chef. Der gibt eine Menge auf so Psychokram. Erinnere Dich nur an dieses Selbstbewusstseinstraining.“ Herr Keller erinnerte sich nur allzu gut daran. Sie hatten damals ein Auto auf einer gefährlichen Bergstrecke testen müssen. Todesangst hatte er ausgestanden. „Schau,“ meinte Frau Merz beschwichtigend „Plüschtiere sind doch harmlos dagegen. Ich habe bereits eine Idee. Von mir muss noch eine Stoffkatze auf dem Speicher liegen. Sie passt doch gut zu mir: Selbstbewusstsein und Selbständigkeit.“, lachte Frau Merz.
„Ich würde sagen, Du liegst faul in der Sonne herum und verschwindest, wann es Dir passt.“, zischte Herr Keller gehässig, sehr erbost darüber, dass seine Kollegin sich nicht gegen diese absurde Aufforderung auflehnte. „Du solltest eine Giftschlange nehmen.“ kommentierte Frau Merz seine Ausfälligkeit ungerührt. „Sonst noch was!“, schrie Keller jetzt vollends verärgert und drückte auf den Exitknopf. Der Tag war für Herrn Keller gelaufen. Ständig musste er an die neue Idee seines Chefs denken.
Diesen Abend kam er ungewöhnlich früh nach Hause. Er hatte es im Büro schlicht nicht mehr ausgehalten. Unnötigerweise hatte Isabelle auch noch jedes Mal in sich hinein gegrinst, wenn sie ihn sah.
Herrn Kellers Haus lag in einer besseren Gegend. Es stand allein und es gab einen Garten drum herum. Eileen werkelte dort mit Harry als er eintraf. Sie waren schon 18 Jahre verheiratet, aber die letzten fünf Jahre waren turbulent gewesen. Angefangen hatte es mit dieser Gesetzesvorlage der Rentnerpartei AC. Sie war in der folgenden Legislaturperiode angenommen worden. Nun mussten die Kellers, da sie über genügend Einkommen und Platz verfügten und ihre einzige Tochter Alja im Internat war, mindestens einen bedürftigen Rentner aufnehmen.
Sie nahmen Birol von seiner Firma. Er war Laborant gewesen und hatte nichts für das Alter zurück legen können, da er lange seine Eltern unterstützt hatte. Birol selber war Junggeselle. Er stellte sich als Glücksfall für die Kellers heraus. Er konnte hervorragend kochen und abends zog er sich diskret auf sein Zimmer zurück. Eileen hatte da noch ihre Boutique in der Innenstadt. Dann kam Harry zu ihnen. Er war der Sohn einer Kusine von Herrn Keller. Harry hatte mit 23 einen Unfall gehabt und war nun geistig nicht mehr voll da. Die Kusine war berufstätig, konnte sich jedoch eine Betreuung nicht leisten. Eileen gab ihre Arbeit auf und kümmerte sich um Harry. Und letztes Jahr kam Richard dazu. Eileens Friseur hatte ihn den Kellers aufgedrängt. Richard war Busfahrer gewesen und bekam keinerlei Rente. Sein Lohn hatte nur für das Notwendigste gereicht.
Mit Richard war Bewegung in das Ganze gekommen. Er spielte Karten und Schach mit Birol, ging mit Harry was unternehmen, half Eileen mit viel Tatkraft im Garten und hatte sich im Nu im Wohnzimmer breit gemacht. Eileen gefiel das und jetzt sassen sie alle im Wohnzimmer, sahen sich gemeinsam Filme an, spielten was oder redeten miteinander. Wenn Herr Keller Eileen allein sprechen wollte, konnte er das nur noch im Schlafzimmer tun. Er hatte sich an diese Situation nicht gewöhnen können, wiewohl er zugeben musste, dass es Eileen wesentlich besser ging als früher. Sie war zu Hause vereinsamt, in ihrer Boutique hatte sie sich gelangweilt und nicht selten war sie abends verheult auf dem Sofa gesessen, wenn er spät nach Hause gekommen war. Das gab es alles nicht mehr.
Jetzt sah sie ihn kommen und winkte ihm weit ausholend mit dem ganzen Arm. „Schon da?“, rief sie gut gelaunt. „Büro schlecht.“, sagte Harry trocken dazu.
Nachdem sie alle gegessen hatten, erzählte Herr Keller ihnen von seinem Problem mit den Plüschtieren. Noch nie zuvor hatte er etwas aus der Firma erzählt. Nach anfänglichem Unbehagen über die neue Situation kamen die Vorschläge. „Nimm einen Adler“, meinte seine Frau „Du behältst doch oft den Überblick.“ Dann kamen Elefant, Löwe, Bär und Tiger dran. Und Harry rief immer dazwischen: „Genau. genau.“ Den Bären hatten sie schnell wieder verworfen, denn sie waren überzeugt, dass alle mit einem Teddybären ankamen. Birol war für ein Nilpferd, das sei so gefrässig. „Das liegt an Deiner Kochkunst.“, lenkte Eileen ein und tätschelte den Bauch von Herrn Keller. Richard war für ein Nashorn. Ein Nashorn, das wäre was, an dem käme keiner vorbei. „Huhn.“, sagte Harry. „Da meinst Du wohl eher mich.“, lachte Eileen „So wie ich Euch immer bemuttere.“ Birol sei ein Fuchs meinte Richard und bezog das auf ihre Spiele. Das ginge nicht, warf Eileen dazwischen, dann müsse sie als Huhn ja Angst haben. Für Richard einigten sie sich schnell auf einen Stier, so bullig wie er war und Harry wollte ein Vogel sein. Dass das graue Eichhörnchen inzwischen die meisten Singvögel ausgerottet hatte, stimmte ihn stets traurig. Sie fanden den Storch für Birol wegen seinen eckigen Bewegungen und alle machten die Bewegungen nach. Es war sehr lustig geworden.
„Schön und gut“, sagte Herr Keller plötzlich sehr ernst „und ich?“
„Hase.“, plärrte Harry heraus. „Wieso ein Hase?“, fragte Herr Keller erstaunt.
„Schnell weg.“, kam es von Harry und er berührte damit einen wunden Punkt.
Herr Keller hatte die Gemeinschaft so gut es ging gemieden. Sie war für ihn ein notwendiges Übel in der heutigen Zeit. Aber er sehnte sich nach dem leeren Haus, den stillen Abenden, nach dem Alleinsein und wenn er ganz ehrlich war, auch nach den erwartungsvollen Augen von Eileen. Als sie Birol aufgenommen hatten, hatte sein Chef zu ihm gesagt: „ Nehmen Sie es wie es ist, Herr Keller. Das wird sich nicht mehr ändern. Jede Partei ist heute eine Rentnerpartei. Es gibt einfach zu viele davon. Auch unsere Firma lebt im Grunde von den alten Leuten. Sehen Sie es doch mal von dieser Seite: wir gehören eines Tages ebenfalls dazu.“ Und Herr Keller hatte geschluckt und genickt, aber gefallen hatte es ihm nicht.
„Scheues Tierchen“, flüsterte Richard in das Schweigen, das sich ausgebreitet hatte. „Sympathisch und kann gut zuhören. Kein Wunder mit den langen Ohren.“ kam es nun lauter von Eileen. „Hat gerne Möhren,“ schmunzelte Birol und bezog das sich nicht nur auf den Hasen. Herr Keller stibitzte sie oft aus der Küche. „Schnell“, trumpfte Richard auf „er kann bis zu 80 Kilometer schnell laufen.“ Mit Geschwindigkeiten kannte er sich aus. Und wie gern Herr Keller alles zügig erledigen wollte, davon konnten alle ein Lied singen. Er könne Haken schlagen und damit seine Feinde listig in die Irre führen, deckte Eileen einen Zug von ihrem Mann auf, der weniger bekannt war. Er sei eben wirklich schlau. „Weich“ sagte Harry wie zum Abschluss und legte dabei seinen Kopf sanft an die Schulter von Herrn Keller. Er grinste dabei als freue er sich über einen gelungenen Streich. Herr Keller war gerührt und legte seinen Arm um Harry:„Ich nehme den Hasen.“
Alle waren begeistert.
Nur, wo bekam man jetzt einen Stoffhasen her, mitten im August? Er gehörte nicht gerade zum Standardrepertoire der Plüschtiere und es war keine Saison. Ostern war lange vorbei. „Bei meiner Freundin Norma wohnt eine Rentnerin, die nähen kann.“, fiel Eileen ein. „Vielleicht kann sie einen Hasen nähen.“ Am anderen Morgen gab sie den Hasen sogleich in Auftrag und abends konnte sie ihn abholen. Herrn Keller erwartete zu Hause ein kleines braunes Reissäckchen mit zwei langen Ohren und Nylonfäden an einer etwas verdrückten Nase. Das Ganze ähnelte mehr einer Kartoffelknolle als einem Hasen und die Hausgemeinschaft hielt sich mit Kommentaren diskret zurück. Die Rentnerin hatte wohl noch nie einen Hasen gesehen. Herr Keller fand sogar, dass der Stoffhase vor allem ihm ähnelte, wenn er ihn so auf der flachen Hand hielt und in den Spiegel schaute.
Eigentlich gefiel er ihm.
Zur Sitzung jedoch steckte er ihn verschämt in seine Jackentasche. Zu neunt sassen sie um den runden Tisch. Der Chef sass neben Herrn Smith aus Neuseeland und vor ihm war selbstbewusst ein Widder aus Plüsch platziert. Wo der so schnell einen Plüschwidder herbekommen hatte, war für Herrn Keller ein Rätsel. Alle anderen hielten ihre Tiere sonst wo versteckt. Nach der Begrüssungsrunde bat sie Herr Smith, die Tiere vor sich auf den Tisch zu setzen. Verlegen kamen sie seinem Wunsch nach. Herrn Keller fand seinen Hasen nun gar zu armselig. Alle anderen hatten, bis auf Frau Merz mit ihrer Katze, gewichtige Tiere gewählt: Es gab zwei Plüschbären, einen aufblasbaren Elefanten und einen aus Formgel und einen kleinen Plastiklöwen.
Nun hielt Herr Smith einen Vortrag darüber, wie wichtig die Vielfalt in einem Betrieb sei um möglichst flexibel auf jede Situation reagieren zu können. Dann musste jeder etwas zu seinem Tier sagen und weshalb er es gewählt hatte. Herr Keller wiederholte die Argumente seiner Hausgemeinschaft. Herr Smith lobte hinterher Frau Merz für ihre Rückbindung an ihre Kindheit und beglückwünschte sie und Herrn Keller für die Wahl ihrer Tiere. Danach schickte Herr Smith ihn und Frau Merz zurück ins Büro und mit den anderen wollte er erst einmal darüber reden, wie sehr sie Status mit Eigenschaften verwechselt hatten. Selbst der Chef schaute verdutzt. Es warteten wohl noch viele Sitzungen mit dem Totemcoach auf sie.
Als er am Abend nach Hause kam, öffnete Eileen gespannt die Tür: “Und? Wie ist es gelaufen mit Deinem Hasen, Ray?“ „Prima!“, rief er und sie fiel ihm um den Hals.
„Frohe Ostern.“, krähte Harry aus dem Hintergrund.