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Friesenhof
Friesenhof
In einem großen Bauernhaus in Nordfriesland saß eine Familie am Küchentisch.
Nebenan hörte man ab und zu die Kühe, die im Wohnzimmer, welches im Winter zur Hälfte als Stall umfunktioniert war, standen und Heu fraßen. Sie mussten noch gemolken werden.
Doch im Moment hatte niemand Lust und Zeit sie zu melken.
Die Großmutter, welche die wichtigste Person im Haushalt der Familie war, lag im Sterben.
Ihr kleines, mit Stroh bedenktes Bett stand direkt am Ofen, damit sie es in ihren letzten Stunden noch warm hatte.
Die Familie saß bei ihr. Die drei Kinder der Familie wären am liebsten ganz leise ins Bett verschwunden, doch die Großmutter wollte, wie es in der Familie ein alter Brauch war, alle Familienmitglieder, selbst die Enkel, mit am Sterbebett haben.
Draußen fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Die Landschaft war mit einem weißen Teppich überzogen. Kleine Lichter blitzten ab und zu auf, wenn das Schneetreiben ein bisschen nachließ.
Es waren die Lichter der anderen Bauernhäuser, die neben dem großen Anwesen der Familie lagen. Wahrscheinlich brannten auch dort Kerzen ab, und die Familien saßen zusammen an einem alten, rostigen Ofen und wärmten sich.
Doch keiner der anderen Bauern wagte sich herüber, um noch einen gemeinsamen Punsch zu trinken. Alle wussten es. Die Familie musste jetzt unter sich sein.
Der Wind schlug kleine Äste der großen Eiche gegen das Fenster.
Schwach schaute die Großmutter hinaus, bevor sie wieder in einen leichten Schlaf fiel.
So richtig fest hatte sie noch nie geschlafen, sie war immer mit den Problemen des Alltags beschäftigt gewesen. Bald würde sie seelig träumen.
Großvater war schon vor langer Zeit von ihnen gegangen. Er war einst im Krieg gefallen, einem Krieg, den er verabscheute. Er starb mit sorgenvollen Gedanken an seine Frau, die die einzige Tochter allein ernähren musste.
Die Sorgen waren unbegründet. Es gab zwar eine Menge Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, doch dank der großzügigen Hilfe der Nachbarn schaffte sie es ohne ihn.
Die Großmutter hatte ein langes, erfülltes Leben. Sie war bereit zum Sterben, ihre Zeit war abgelaufen.
Ein leises Klopfen ließ sie aufwachen. Ihre Enkelin war eingenickt, ihr Kopf war sanft auf die Tischplatte gesunken.
Sie lächelte schwach.
Ihre Tochter kam mit einer Kerze an ihr Bett und nahm die kalte Hand ihrer Mutter.
Der Schwiegersohn lief vor dem Fenster auf und ab. Seine Schritte hallten in der Stille wieder.
Das Schneegestöber wurde immer dichter.
Ein leises Klopfen ließ die Familie aufschrecken. Die Bäuerin löste sich von ihrer sterbenden Mutter und ging zur Tür.
Es war der Kaplan. Leise trat er ein und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem die Bäuerin gerade noch gesessen hatte. Er küsste die Großmutter auf die Stirn und segnete sie. Die Familie verließ solange den Raum. Sie ging ins Wohnzimmer, wo der andere geheizte Ofen stand. Dort lag die Hofkatze in einem tiefen Schlaf versunken. Ihre Pfoten bewegten sich, wahrscheinlich lief sie in ihrem Traum gerade über eine grüne Wiese.
Der Kaplan blieb lange bei der Großmutter. Immer wieder drangen leise gemurmelte Wörter zu der Familie hinüber.
Dann ging die Tür auf. Der alte Kaplan trat heraus. „Bald ist es so weit“, sagte er leise. Am nächsten morgen wollte er wiederkommen.
Die Kinder schliefen mittlerweile tief, direkt neben der Katze, am warmen Ofen, auf einem von der Großmutter geknüpften Teppich. Der Bauer und die Bäuerin traten wieder in die Küche. Sie ließen ausnahmsweise die Tür zum Wohnzimmer offen.
Die Bäuerin nahm wieder Platz und hielt die Hand ihrer Mutter, während ihr Mann gedankenverloren aus dem Fenster starrte.
Ein dunkler Schatten zog an der Nase der Großmutter herauf. Ihr Herz hatte nicht mehr die Kraft alles gleichmäßig zu durchbluten. Die langen grauen Haare betteten ihren schwachen Kopf sanft auf das Kissen.
Die Bäuerin schaute auf jeden Gesichtszug der Großmutter.
Langsam und sanft entschlief sie.
Über das Gesicht der Bäuerin lief eine kleine Träne im Gedenken an ihre Mutter.