Friesendämmerung
Nieselnder, kalter Regen fegte über den violetten Geestboden, der Himmel zog sich zu einem dunklen Gebilde zusammen, das sich wie ein Leichentuch über das unwirtliche, von Sturmfluten gepeinigte Land zu spannen schien. Der schlammige, sandige Priel schlängelte sich durch die karge, fruchtlose Landschaft und mündete in das vom Nebel gefangene Wattenmeer. Hinter dessen Vorhang zeichneten sich die gespenstischen Silhouetten der großen Brachvögel ab, die Schnäbel geformt wie Sensen.
Zerfurcht war das Gesicht des Hünen, der wie ein Fels auf dem Geestboden stand, das ehemals flachsblonde, nun weiße Haar nass ins harte, von Bartstoppeln bedeckte Gesicht geklatscht. Die Wangen waren hohl, die Augenwinkel und der Mund von Falten eingerahmt. Seine stahlgrauen Augen funkelten grimmig, die kräftigen Hände, aus denen die Venen hervortraten, umklammerten eisern den gewaltigen, schartigen Zweihänder, den er am Gürtel seines Lederwamses festgeschnallt hatte. Der Regen tröpfelte von seiner Flachskleidung ab, der Reiseumhang mutete nass und schwer an. Eine Möwe, vom schneidigen, heulenden Wind in ihrer Flugbahn irritiert, manövrierte sich durch den Sturm. Der Hüne folgte mit den Augen kurz ihrer Flugbahn, dann schritt er auf eine niedrig gebaute Hütte aus dunklem Holz und modrigem Reed zu, das einzige Indiz in der weiten Geestlandschaft, welches auf menschliches Leben hinwies. Vorsichtig betrat er die offensichtlich verlassene Hütte durch den niedrigen Eingang, in dem er sich bücken musste. Das fahle Licht, welches über die Türschwelle in das Innere hinein schimmerte, wurde jäh unterbrochen, als der Kerl, in die Kapuze seines klitschnassen Umhangs gehüllt, den Eingang ausfüllte. Vorsichtig tastete er sich ins Dunkel vor, der sandige Boden unter seinen in abgewetzte Lederstiefel gekleideten Füße knirschte. Der Sturm hämmerte gegen die behelfsmäßig mit Stoff vernagelten Fensteröffnungen und buchtete sie aus. Knisternd, knirschend und krachend reagierte das morsche Holz wie ein gepeinigtes Ungeheuer auf den Sturmangriff des ungestümen Windes. Der Hüne hatte sich unterdessen auf den Boden gekniet und kramte in den Tiefen eines alten Lederbeutels, welchem er einige Habseligkeiten entnahm. Immer wieder schielte er misstrauisch in Richtung Hütteneingang, während er verschiedene Handgriffe unternahm, um mit Hilfe von getrockneten Kot, einem öligen Stein und etwas trockenem Holz und Stroh ein Feuer in einer extra gegrabenen Kule zu entfachen. Schließlich stieg dünner Rauch auf, das Stroh entzündete sich und der Mann beeilte sich einige trockene Holzscheite aus einer Ecke des Unterstandes heranzuschleppen, dessen Lage ihm vertraut schien. Der Wind heulte weiter.
Der Morgen brach an, das Dunkel der Nacht begann sich langsam zugunsten des trostlosen Graus der Geestlandschaft zurückzuziehen. Noch immer prasselte der Regen vom Himmel , der Sturm hatte sich zu einem moderateren Wind abgeflacht. Dass kleine Feuer war inzwischen heruntergebrannt, verkohlte Holzreste knisterten träge vor sich her, ab und zu entwichen Funken. Der Hüne saß mit dem Rücken zur Wand, gehüllt in einen zweiten, trockeneren Umhang. Eine hölzerne Schüssel mit Resten von Hirsebrei lag ihm zu Füßen, mit der Hand hatte er sie entleert. Seit Wochen, Monaten, Jahren lebte er schon auf diese kärgliche Weise. Wem konnte er trauen, wem nicht ?
Aus dem Nebel seiner Träume stiegen die Gestalten längst vergessener Mitstreiter hervor. Er wollte ihnen etwas zurufen, doch sie verschwanden an einem bleigrauen Horizont.
Seine Hand griff unwillkürlich zum Schwertknauf, jäh wurde aus der morgendlichen Müdigkeit entrissen. Seine Muskeln spannten sich an, hörte er nicht gedämpfte Hufschläge, das Schnauben eines Pferdes ? Vorsichtig schlich er zur Türöffnung und riskierte einen Blick nach draußen. Ein Reiter auf einem weißen Schimmel war nicht mehr weit entfernt von der Kate und steuerte direkt auf diese zu. Ein blässlicher, hagerer Mann, dessen Glatze nur noch an den Seiten von graugelben, langen Haaren bedeckt wurde, ritt das Pferd. Eine Warze zierte seine hakenförmige Nase. Er trug ein kostbares rotes Gewand, sein lilafarbener Umhang wurde von einer goldenen Fibel zusammengehalten. Ein selbstzufriedener Ausdruck stand dem Mann ins Gesicht geschrieben. „Der Schulze!“, murmelte der Hüne zornig und verfluchte all jene die mit den Feinden zusammenarbeiteten. Er erinnerte sich an seine Jugend, an die Zeit als seinesgleichen sich noch frei von Knechtschaft und Steuerlast wähnen konnten. Er liebte sein Land, seine Freiheit und war bereit dafür zu sterben. Er stand unter Anspannung, er würde sein Leben teuer verkaufen müssen, seinen Tod so lange wie möglich hinauszögern, den Kollaborateur mit sich in den Abgrund reißen. Er griff mit der Linken unter seinen Hemdkragen und knetete einen hölzernen Talisman. Er flüsterte einige Worte heidnischen Gebetes zu der Götterfigur, wie es schon sein Vater, sein Großvater und alle Altvorderen getan hatten.
Hinter dem berittenen Schulzen tauchten nun drei baumhohe Kerle auf, augenscheinlich Krieger, wie der in der Kate Kauernde gleich für sich feststellte. Sie trugen graue, knielange Kettenhemden und gusseiserne Helme mit Visieren. Ihre blonden Bärte waren lang und zu Zöpfen geflochten, in ihren kräftigen Pranken gewaltige Langäxte nordischer Bauart. „Huskarls !“, knurrte er und musste sich seine just in diesen Moment laufende Nase abwischen. „Sooke Ukena!“, rief der Schulze in befehlenden Ton. Der Mann in der Kate war hin und her gerissen zwischen dem Gedanken, in der Hütte zu verweilen und seinen Gegnern aufzulauern oder sich einfach erkennen zu geben. Nach einer kurzen Atempause, in welcher Sooke seinen Herzschlag hätte spüren können, trat er aus dem Dunkel der Hütte in das nieselige Grau des Morgens. Seine Feinde sollten sehen, womit sie es zu tun hatten, er würde wie ein Mann sterben. Er hielt sein Schwert bereit und warf dem Berittenen grimmige Worte in ihrer gemeinsamen Sprache zu: „Schulze Djurken, ihr seid ein elender Verräter, ihr habt die Heimat verraten, möge euch der Zorn der Götter dieses Landes treffen!“. Der Schulze lächelte hämisch: „Deine Götter konnten deine Rebellenfreunde nicht schützen, nun sind sie ausgelöscht worden, nicht alle starben eines schnellen Todes !“ Zornig durchbohrten Sookes Augen die des Schulzen, seine Blicke schweiften zu den Nordmannkriegern. Es handelte sich um Elitesoldaten, diszipliniert und privilegiert, das wusste Sooke. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er unter ihren Hieben zusammenbrechen würde. Vergeblich versuchte er eine Regung in ihrer Mimik oder ihren Augen zu lesen, doch die Nordmänner starrten ihn nur mit tödlicher Ruhe an. Gewissermaßen hatte er Respekt vor diesen Riesen, nie zuvor war er ihnen im gleichberechtigten Nahkampf begegnet. Er und seine Bauernfreunde hatte sich zusammengetan und hatten die Eindringlinge mit aller Macht bekämpft. Niemals hätten sie ihr Land Fremden preisgegeben, Sookes Volk hatte schon immer gegen die fremden Heerscharen und ihre eingeschleppten Sitten gekämpft, die nur dazu taugten den Frieden in seinem Friesenland zu zerstören.
Der Schulze richtete wieder das Wort an ihn: „Einige Eurer Freunde, derer wir habhaft wurden, haben dich verflucht bei ihrer Vierteilung, weil du sie nicht retten konntest.“ Er machte eine Pause, um diese unerträgliche Schilderung auf Sooke wirken zu lassen. „Niemals…ihr seid ein mieser… !“ „Nun, es ist wahr und ihr fragt euch sicherlich wie wir von deinem Aufenthaltsort erfuhren, Fischer Ukena?“. Sooke fühlte sich einsam und verlassen, völlig desillusioniert ertränkte ihn die Wahrheit, die er bereits erahnte. „Dein eigener Bruder hatte sieben Mäuler zu stopfen und war bereit euren Schlupfwinkel zu verraten. Er war des Wiederstandes müde und behielt lieber sein Leben als in den Abgrund vorauszugehen!“. „Sagt mir, Djurken, wieso verdirbt ihr den Geist unseres Volkes, den Geist des Meeres und der Freiheit ? Ihr hattet eine richterliche Funktion, euer Hof und euer Geschlecht hoch angesehen ! Wieso kollaboriert ihr mit den Eindringlingen, den Nordmännern. Wieso verderbt ihr unsere Söhne?“, die letzten Worte schrie Sooke und atmete schwer. „Ich habe die Zeichen der Zeit erkannt und mich der Feudalherrschaft gefügt ! Wie vielen Söhnen unseres Volkes hätte ein Grab im kargen Geestboden erspart werden können, hättet ihr nicht diesen wahnwitzigen Guerillakrieg geführt, dem auf Dauer kein Erfolg beschieden war !“. Die Worte des Schulzen hörten sich nicht mehr hämisch an, sondern klangen eher wie ein Tadel, ein Vorwurf. „ Es ist nicht zu spät, dich zu ergeben, vielleicht wird es Milde für dich geben oder dich ereilt zumindest ein schneller Tod !“. Sookes Energie schwand, er stützte sich auf seinen schartigen Zweihänder ab und sank schließlich mit den Knien in den Sand. Ein Schwindel überfiel ihn und seine Sinne waren nicht mehr klar. Die nordischen Krieger schritten auf ihn zu, die Äxte im Anschlag. Würden sie ihn gefangen nehmen, foltern oder hinrichten? Er hatte viele schlimme Dinge über die Bestien aus dem ewigen Eis gehört, all sein Elan hatte darin gelegen, sie aus den Land zu vertreiben, ja, sie zu vernichten. Er sah aber auch die kunstvoll geschnitzten Gürtelschnallen der Nordkrieger, er hatte nie Zeit gehabt sich mit der Kultur dieser Leute auseinanderzusetzen. Wollten sie vielleicht einfach nur nach Hause, sehnten sie sich vielleicht auch auf ihren heimatlichen Hof zurück, wo sie mit banger Ungewissheit erwartet wurden? Waren diese Männer wirklich Untermenschen, die es für ihn immer wert gewesen waren, aus dem Hinterhalt abgeschlachtet zu werden ? Sooke hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen, seine fünfzig Winter und sein schartiger Zweihänder würden gegen die schwergepanzerten, jüngeren Krieger nicht ankommen. Er legte sein Waffe hin und wartete auf die Huskarls, die sich bedrohlich vor ihm aufbauten. Er schaute ihnen ins Gesicht. Er würde im Angesicht des Feindes sterben, Zeichen von Furcht würde er ihnen nicht bieten.
Einer der Krieger brachte ein verziertes Trinkhorn zum Vorschein und bot ihm etwas zu Trinken an. Und der Priel schlängelte sich durch die Geest.