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Frieden im Herzen
In meiner Nase duftet es ganz herrlich nach Mandarinen und Zimt. Ich bin schon ganz aufgeregt. Bald kommt der Weihnachtsmann und bringt die Geschenke!
„Adrian, gehst Du bitte auf Dein Zimmer?“
„Aber Mama“, erwidere ich. „ich möchte so gerne den Weihnachtsmann sehen! Bitte!“
Meine Mutter schüttelt lächelnd den Kopf. „Du weißt doch, dass er an Heiligabend immer ganz viel zu tun hat. Er kann sich leider nicht mit jedem Kind unterhalten, weißt Du?“
„Ach menno! Mit mir hat er sich noch nie unterhalten!“ Wütend und enttäuscht gehorche ich und verschwinde.
In meinem Zimmer schaue ich aus dem Fenster und halte nach dem Weihnachtsmann Ausschau. Aber so lange ich auch schaue, er lässt sich nicht blicken. Schon nach wenigen Minuten höre ich meine Mutter rufen. „Adrian! Du kannst jetzt kommen!“
Schon ist meine Enttäuschung vergessen und ich kann es kaum noch erwarten, die Geschenke auszupacken. Ich stürme aus meinem Zimmer, laufe die Treppen hinunter und dann stehe ich im Wohnzimmer. In der Ecke steht der festlich geschmückte Weihnachtsbaum und darunter sind die Geschenke. Mit leuchtenden Augen gehe ich hin und ...
Ein Geräusch reißt mich aus meinem Schlaf. Im ersten Moment bin ich noch ein wenig verwirrt, habe ich doch gerade eben noch geträumt. Ich habe das Gefühl, noch immer den Duft von Mandarinen und Zimt in der Nase zu haben. Ich sitze in meinem gemütlichen Schaukelstuhl, vor mir prasselt das Kaminfeuer. Ich stehe auf und gehe zu dem Schrank, der neben dem Kamin steht. Dort nehme ich eine Schatulle aus massivem Holz heraus. Hier sind meine Erinnerungen aufbewahrt. Als Oberstes liegt ein Schwarzweiß-Foto aus früher Kindheit. Neben mir sind meine Eltern abgebildet, die fröhlich in die Kamera schauen. Ich habe ein großes Spielzeugauto in der Hand. Hinter uns ist der Weihnachtsbaum zu sehen, den meine Mutter und meine Schwester immer so schön geschmückt hatten. Eine zeitlang bleibe ich so stehen, das Foto in der Hand. Ich meine, wieder den Duft von Zimt in der Nase zu haben.
Wie es wohl wäre, wenn meine Kinder und Enkel mich besuchen würden? Dann wäre hier in meiner Hütte wieder etwas mehr Leben. Eigentlich vermisse ich mein früheres Leben nicht, doch der Traum und die Fotos haben meine Erinnerungen wieder hochgespült.
Dann schaue ich mir weitere Fotos an, die verschiedene Lebensabschnitte von mir festhalten. Irgendwann kommt auch eine Aufnahme, die mich mit meiner Frau zeigt. Der Gedanke an sie macht mich traurig, vor fünfzehn Jahren ist sie an Krebs gestorben. Ein paar Jahre später beschloss ich, einen Schlussstrich zu ziehen, ein neues Leben anzufangen. Fern von der Hektik des Alltags und den Erinnerungen, die mich mit meiner Frau verbanden. Dennoch brachte ich es nicht übers Herz, die Fotos zu zerstören. Und so zog ich mich in die Einsamkeit der Berge im kalten Finnland zurück. Hier möchte ich meinen Lebensabend verbringen.
Da! Ich höre wieder dieses Geräusch. Es kommt von draußen. Was das wohl sein mag? Ich stelle mich ans Fenster und schaue nach draußen. Möglicherweise ist es ein Bär. Etwa einen halben Kilometer von meiner Hütte entfernt steht ein Wald. Von dort verirrt sich hin und wieder eines der Raubtiere hierher. Die Nacht ist sternenklar und der Mond scheint hell auf den Schnee, so dass es nicht völlig dunkel ist. Ein paar Meter weiter links ist tatsächlich Silhouette einer Gestalt zu erkennen. Ich bleibe am Fenster stehen und beobachte das Tier. Schließlich setzt es sich in Bewegung und erscheint im Licht, das aus meinem Fenster nach draußen scheint. Es ist ein Rentier. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Heute, an Heiligabend verirrt sich doch tatsächlich ein Schlittentier des Weihnachtsmannes hierher! Abrupt hält es inne und blinzelt mich an. Hin und wieder macht sein Maul kauende Bewegungen.
So stehen wir beide einige Minuten da und beobachten uns gegenseitig. Ich genieße den magischen Moment und ein Gefühl von tiefem Frieden breitet sich in meinem Herzen aus. Doch dann wendet sich das Tier von mir ab, verschwindet aus dem Licht und trottet in Richtung Wald.
Auch ich gehe vom Fenster weg und lege das Gewehr wieder in die Halterung. Ich lege eine CD ein und „Stille Nacht, heilige Nacht“ erklingt.
Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh!
Schlaf in himmlischer Ruh.
Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel Halleluja,
Tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da!
Christ, der Retter ist da!
...
Ich liebe dieses Lied, denn es passt wie kaum ein anderes zu Nächten wie dieser. Mit einem leisen Seufzer lasse ich mich wieder auf meinen Schaukelstuhl nieder und beobachte das Feuer. Ich nehme mir fest vor, im nächsten Jahr nach Deutschland zu reisen, um meine Enkel zu sehen. Still lächle ich in mich hinein.
Täusche ich mich, oder hatte das Rentier tatsächlich eine gerötete Nase?