Friede mit Dir!
Er hatte das Gesicht von mir abgewandt und schaute hinab auf die Dächer der Stadt. Die untergehende Sonne hatte den Himmel orangerot gefärbt. Einzelne Wolkenfetzen leuchteten goldgelb.
Ganz vorsichtig um ihn nicht zu erschrecken trat ich zu ihm und legte ihm behutsam meine Hand auf die Schulter.
„Sie sind gekommen um mich davon abzuhalten, nicht wahr?“ fragte er und blickte mir dabei mit seinen hellblauen Augen direkt in die meinen. „Ich brauche niemanden, der mich davon abhält. Ich weiß genau, was ich tue. Ich habe es mir gut überlegt. Machen Sie Sich keine Sorgen. Ich werde es nicht bereuen.“
Er lächelte, lächelte mich an, und wir schwiegen gemeinsam. Über den Dächern der Stadt neigte sich die Sonne immer mehr zum Horizont, doch wir schwiegen. Dann plötzlich sagte er: „Es ist schön, dass sie hier sind. Ausblicke wie dieser sind zu schade, um sie alleine zu betrachten. Sie werden erst wirklich zu dem, was sie sind, wenn man ihren Anblick mit jemandem teilt. Und sie sind es wert, dass man ihn mit Ihnen teilt.“
„Sie klingen, als würden Sie das Leben zu schätzen wissen, nicht wie einer, dem es nichts mehr bedeutet.“ „Ja, es stimmt,“ sagte er ruhig, „ich weiß es zu schätzen. Aber der Tod ist nicht mehr und nicht weniger als ein Teil davon. Er gehört dazu. Ich schätze ihn genauso wie den Rest meines Lebens!“
In weiter ferne die Sirene eines Polizeiautos und das Martinshorn eines Krankenwagens. Er und ich, wir standen da, blickten hinab auf die Dächer der Stadt und schwiegen. Dann sagte er plötzlich: „Es ist Zeit Abschied zu nehmen von diesem Leben in dieser Welt. Es ist Zeit aufzubrechen in eine andere Dimension.“ Noch einmal blickte er in meine Augen. „Haben Sie keine Angst?“ fragte ich. Er trat zum Rand und sagte: „Nein, keine Angst vor dem Tod, nur Angst vor dem Sterben. Der kurze Moment des Aufpralls, ihn fürchte ich, weiter nichts. Ich werde fliegen, mitten hinein in ein neues Leben, fliegen wie ein Vogel im Abendrot.“
Dann wandte er sich noch einmal mir zu und legte mir seine Hände auf die Schultern während er mir ernst ins Gesicht sah: „Machen Sie Sich keine Vorwürfe. Sie hätten mich nicht halten können. Alles was Sie tun konnten, haben Sie getan. Hätte ich aus Verzweiflung springen wollen, ich hätte es Dank ihnen nicht getan. In meinen Augen sind Sie eine Heldin. Verlieren Sie niemals den Mut!“
Er trat an den Rand und sprang, mitten hinein in das glühende Abendrot. Unten blinkte das blaue Licht eines Krankenwagens. Ich setzte mich auf den Rand, ließ die Beine baumeln und schaute zu, wie die Sonne im Meer versank. Ich genoss die frische Abendluft, die ich in vollen Zügen in mich aufsog, und die Stille hier auf den Dach.
„Annette! Annette! Bist Du noch hier?“ Mein Kollege Jean erschien auf dem Dach. „Machst Du Dir etwa Vorwürfe, weil er gesprungen ist? Du und ich, wir beide wissen es, dass Du Dein Bestes gegeben hast. Du bist nicht Schuld an seinem Tod. Mach Dir also keine Vorwürfe. Du hast Dein Bestes getan!“
„Ich mache mir keine Vorwürfe, Jean. Ich sitze nur hier und genieße den Sonnenuntergang. Siehst Du diese wunderschöne glutrote Wolke da drüben. Ausblicke wie dieser sind zu schade, um sie alleine zu betrachten. Sie werden erst wirklich zu dem, was sie sind, wenn man ihren Anblick mit jemandem teilt. Schön, dass es dich gibt!“
DL 2002