- Anmerkungen zum Text
Ich hatte eine sehr intensive Freundschaft und habe über mehrere Monate meine Erfahrungen in dieser Kurzgeschichte verarbeitet.
Freundschaft
Er hatte ihn schon von weitem gesehen. Er hatte ihn beobachtet, immer nur sein Spiegelbild. Die großen Spiegel des Fitnessstudios zeigten die ganze Szenerie, der sich tummelnden und schwitzenden Leute, so dass er sich nicht einmal umdrehen musste und so tun konnte, als ob er gedankenverloren in die Menge schaute. Schon vor längerer Zeit war er ihm aufgefallen. Nicht etwa, weil er besonders aussah, oder besondere körperliche Merkmale zeigte, nein, er hatte dieses Etwas. Dieses Etwas, dass seine Blicke auf ihn zog.
Wer schon einmal durch eine belebte Straße gegangen war, ohne Eile, ohne Hast, dafür mit Zeit und fliegenden Gedanken, der kennt diese Leute, die dieses etwas haben. Wenn der Blick im Vorübergehen an den Leuten haften bleibt. Dieses Etwas, dass so viele Geschichten erzählt. Dieses Etwas, das wie Farbe auf einem Gemälde wirkt, das sonst nur seinem Betrachter ein weißes Nichts entgegenwerfen würde.
Der Junge, den er beobachte hatte diese Farbe. Er wirkte interessant, einfach wie ein Gemälde, dass man gerne betrachten würde, dass seinem Betrachter viele Geschichten erzählt.
Die Farben dieses Gemäldes wirkten auf ihn. Er wusste nicht wieso, er kannte ihn nicht, aber er empfand Sympathie für ihn. Vielleicht, weil er ihn schon seit so vielen Monaten Im Spiegel beobachtete, heimlich Ausschau nach ihm hielt, und, wie er es so oft mit Leuten tat, die dieses Etwas hatten, sich deren Geschichten vorstellte, die sie ihm erzählen könnten.
Und als er so schaute, als sich seine Gedanken aus der Struktur des Alltags lösten und sie begannen wie Schnee, an einem warmen Wintertag davon zu gleiten, glomm ein Gedanke hell auf. Er sah sich, wie er ihn ansprach. Einfach zu ihm hin ging und ihn ansprach. Er würde über banales reden, über Banales eben.
Seit längerem waren sie nun befreundet. Trafen sich regelmäßig. Es tat ihm gut jemanden zu haben, der die gleichen Interessen teilte. Es tat ihm gut ihn an seiner Seite zu wissen. Das Etwas, dass er in ihm sah erleichterte ihm das Schließen der Freundschaft. Sie beide hatten nach diesem jemand gesucht, der anders war. Anders als die anderen, die man auf der Straße trifft, die dieses gewisse Etwas nicht haben. Diese Leute, an denen der Blick nicht haften bleibt und die keine Geschichten zu erzählen hatten.
Schon kurz nachdem er ihn ansprach lud er ihn zu sich ein. Vielleicht weil er ihn schon so lange durch den Spiegel beobachtet hatte, war er ihm vertrau gewesen.
Er war für ihn kein Fremder, den er in sein Haus ließ. Er war für ihn der, den er schon lange kannte, ohne Monate lang ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.
Sie erzählten sich einiges voneinander und öffneten ihre Gedanken. Manche Geheimnisse jedoch hütete jeder für sich und verbarg sie selbst vor dem anderen. Die Welt hatte sie gelehrt diese besondere Art von Geheimnissen für sich zu behalten und zu verstecken.
Aber was sie sich erzählten ließ Farben sprießen.
Wenn der Junge sprach hing er an seinen Worten. Er sprach von so vielem, dass ihm zuvor unbekannt war, dass er ignoriert hatte und ihm unwichtig erschien. Er genoss es ihm zuzuhören und in diesem Gedankenstrom abzutauchen, in dem er sich so wohl fühlte. Und als er ihm so zuhörte, entglitten ihm wieder seine Gedanken und begannen ihm davon zu schwimmen. Sie schwammen im Gedankenstrom des Jungen und badeten in dem Unbekannten, reicherten ihr Sein mit den Farben seiner Geschichten und Erzählungen an.
Diese Farben erfüllten ihn. Sie erfüllten seine Fantasien und boten ihm noch mehr Möglichkeiten dem Leben um ihn herum zu entfliehen und sich in seinen Vorstellungen zu verlieren.
Doch die Farben des Gemäldes verblassten, die Erzählungen der Geschichten verstummten, als der Junge tief fiel. Die hellsten Farben und die spannendsten Geschichte erreichten nicht seine Ohren und Augen, denn wenn der, der sie erzählt sich am tiefsten Ort befindet, können sie nicht erhört werden.
Er suchte nach den Farben des Jungen, doch das Schwarz, in dem er saß erstickte jeden Rest. Er suchte nach dem Jungen, doch das, was der Junge ihm nicht erzählt hatte, dass, was die beiden voreinander verbargen, machte es ihm unmöglich ihn zu finden.
So vergingen die Tage. Die Farben seiner Gedanken verloren ihren Glanz und wurden matt. Die Geschichten wurden zu Erinnerungen von Erinnerungen. Er konnte ihn nicht erreichen, er konnte ihm nicht helfen, denn das Loch, in dem der Junge saß wurde mit jedem Tag tiefer und tiefer.
Auch er kannte dieses Loch, aus dem keine Farben mehr glommen. Er kannte die Stille, die in den Ohren hämmerte, wenn man in diesem Loch saß. Die eigene Stimme, die einem bald so fremd werden und wie eine Schlange ins Ohr zischen würde. Und als der Junge das Schreien um Hilfe aufgab und sich seinem Schicksal ergab, hörte auch er auf nach ihm zu suchen. Er hatte Angst. Angst vor seinem eigenen schwarzen Loch, in das er selbst zu stürzen drohte.
Er klammerte sich an jede Farbe, die er erreichen konnte. Er lauschte, in der Hoffnung auch nur ein Wort zu finden, dass ein Teil der Geschichte des Jungen sein könnte.
Die Farben rissen und die Worte erstarben und er fiel tief. Im Schwarz, ganz unten, fing seine Stimme an gegen die Stille anzuschreiben. Auch das Schreien erstarb und wurde zu einem Zischen, das seine Gedanken vergiftete.
An guten Tagen, wenn das Schwarz, dass den Jungen und ihn umgab nicht so dicht war, nicht alles Licht verschluckte und das Loch nicht so tief erschien, dann erreichten sie sich. Nur flüchtig. Kleine Farben, kaum merklich, glommen auf, und Worte, die ein Zeichen von Leben verhießen ertönten in der Stille. Sie fütterten die Farben, behüteten sie vor dem Sterben und wiederholten die Worte, in der Hoffnung, dass sie eines Tages Gehör finden würden.
Und als an einem besonders guten Tag die Worte, die sie wiederholten, zum anderen vordrangen, und die Farben für beide sichtbar wurden, schaffte er es dem Loch, das ihn so lange gefangen hielt, zu entkommen und dem Jungen, den er schon fast vergessen hatte die Hand zu reichen. Er berührte den Jungen. Die Berührung tat ihm gut. Und als der Junge seine Hand ergriff und sich zu ihm hochzog, weg aus dem schwarzen Loch, hin in das Reich der Farben und der Worte, lagen sie sich in den Armen. Er spürte, wie der Junge Geborgenheit bei ihm suchte, wie er den Schutz, den er ihm bot genoss und die Schwärze von den beiden abließ.