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Freundschaft
„Und daher freue ich mich besonders, heute vor 52 jungen Menschen stehen zu dürfen und ihnen ihre Abschlusszeugnisse ...“
Peter hörte dem Direktor nur noch mit halbem Ohr zu. Er saß in der zweiten Reihe und sah sich um. Die Aula war zum Bersten gefüllt. Hinter ihm seine Klassenkameraden, mit denen er die vergangenen fünf Jahre verbracht hatte, mit denen er „durch dick und dünn“ gegangen war, wie man so treffend sagt. Wenige Plätze neben ihm, in der selben Reihe, saß Max. Ihn kannte Peter schon länger; um genau zu sein zehn Jahre, also seit sie zusammen eingeschult worden waren. Trotzdem hatten sie die letzten Jahre kein Wort miteinander gesprochen.
Max war in Peters Parallelklasse, sie sahen sich oft auf dem Schulhof. Schweigend gingen sie dann aneinander vorbei. Damals war das noch anders. Peter dachte an früher, an die Zeit vor 8 Jahren …
Es muss so im späten Frühling gewesen sein, lange vor den Sommerferien. Peter konnte sich nicht mehr richtig erinnern – dafür waren die Erlebnisse zu schrecklich gewesen.
Er war mit Max und Karl unterwegs. Die beiden waren seine besten Freunde, zusammen waren die drei unzertrennlich. Max hatte reiche Eltern und war nicht sehr streng erzogen worden: Er durfte sich draußen herumtreiben, wann immer er wollte. Auch wenn es abends mal später wurde, brauchte er keine Angst vor Strafen zu haben – seine Eltern ließen ihm den Freiraum, den sich ein Junge in seinem Alter wünschte.
Bei Karl war das anders: Seine Eltern waren einfache Arbeiter, hatten sich ihren kleinen Bungalow am Rande des Dorfes mühsam zusammengespart. Natürlich musste sich Karl in der Schule den einen oder anderen blöden Spruch anhören, aber dank seiner beiden Freunde war er gut in die Gemeinschaft integriert. Konnte er sich keine Süßigkeiten leisten, half Max ihm immer aus. Es war eine liebevolle Freundschaft unter drei kleinen Jungen.
An diesem Tag im Frühling waren sie wieder einmal in den Wald gegangen. Max hatte ein neues Taschenmesser zum Geburtstag bekommen, Peter nahm sein Zelt mit. Diese Ausrüstung reichte ihnen – mit ein bisschen Fantasie und Kreativität konnten sie so ihr Räuberlager aufschlagen und den Wald unsicher machen.
Im Wald gab es eine Lichtung, die zum Zelten bestens geeignet war. Gleich nebenan floss ein schmaler Bach, der in einen kleinen See mündete. Hier waren sie schön öfter gewesen, hier wollten sie auch heute wieder spielen.
Es dauerte nicht lange, da rief Karl ganz aufgeregt über die Lichtung: „Hey Jungs, kommt mal her!“
Peter und Max ließen ihre halb fertig geschnitzten Räuberpistolen fallen und rannten in Richtung See. Karl stand schon am Ufer, ein Bein in einem kleinen Holzboot. Er wollte gerade einsteigen.
„Paddel sind hier auch, los, rein mit euch!“
Das brauchte er nicht zweimal zu sagen, seine beiden Freunde sprangen zu ihm ins Boot und paddelten, was das Zeug hielt.
Es waren wirklich schöne Zeiten damals. So ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hatte Peter seitdem nicht mehr erlebt – auch seine erste Liebe Maja hatte Jahre später nicht das in ihm auslösen können, was er als Kind empfunden hatte. Sie waren drei Jungs, die nichts trennen konnte.
In der Mitte des Sees hielten sie an. Die Sonne schien an dieser Stelle nur schwach durch das dichte Blätterdach des Waldes, eine kühle Brise schaukelte das Boot ein wenig hin und her.
„Mal sehen, ob hier Fische drin sind.“ Karl beugte sich über den Rand des Bootes und schaute direkt ins Wasser. Mit den Händen griff er hinein und verzerrte so sein Spiegelbild.
„Mir wird kalt, können wir zurückrudern?“ fragte Max. Er schien plötzlich nicht mehr so begeistert zu sein.
„Ja, Augenblick noch, ich hab gleich einen gefangen!“ Karl schnappte ins Wasser und tat so, als würde er einen Fisch greifen. „Oh, hier ist ein Großer!“
Er holte weit aus und schlug ins Wasser.
Peter erinnerte sich an diesen Moment noch genau – er erschrak damals durch Karls Bewegung so sehr, dass er zusammenzuckte und dabei das Boot zum Wackeln brachte.
An alles Weitere erinnerte sich Peter dagegen nur noch ungenau: Plötzlich saß Karl nicht mehr im Boot, Max riss die Augen weit auf und ließ einen erstickten Schrei los. Bis er und Peter die Situation begriffen hatten, war Karl schon mehrere Male untergetaucht und hatte verzweifelt nach dem algenbewachsenen Bootsrand gegriffen.
Natürlich konnten sie mit solch einer Lage nicht umgehen. Hektisch fuchtelten sie mit den Armen und versuchten, Karl zu greifen. Das Boot wackelte gefährlich, Karl wurde durch die Wellen immer wieder unter Wasser gedrückt. Er strampelte panisch im Wasser – er konnte doch nicht schwimmen! - und tauchte immer wieder unter; schließlich tauchte er gar nicht mehr auf.
Als nächstes weiß Peter nur noch, wie sie am Ufer ausstiegen, zitternd und wie ferngesteuert - wie im Traum. Sie packten ihre Sachen ein und verließen den Wald in Richtung Dorf. Unterwegs sprachen sie nicht miteinander – einmal trafen sich ihre Blicke, doch schnell wandten beide ihre Köpfe ab ...
„Peter Hoffmann! … Peter … Peter, möchtest du nicht heraufkommen?“
Die Stimme des Direktors riss Peter aus seinen Gedanken. Was war los? Wo sollte er hinkommen? Benommen stand er auf und sah sich um. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Nach einem kurzen Augenblick war er wieder Herr seiner Sinne. Er ging auf die Bühne, sah in die Aula hinab und setzte ein höfliches Lächeln auf. Der Direktor schüttelte ihm die Hand und überreichte eine kleine Mappe.
„Peter, dein Abschlusszeugnis, bitte sehr!“
„Danke, Herr Rieß, danke.“
Dann reihte er sich in die Gruppe der anderen Schüler ein, die bereits ihre Zeugnisse erhalten hatten und stolz, mit Blumensträußen in der Hand, auf der Bühne standen.
Plötzlich hörte er neben sich eine Stimme. Er sah zur Seite.
„Wir sollten uns mal wieder treffen.“ Max' Augen waren leicht gerötet und schimmerten im Licht der Aula. „Um drei bei der Friedhofskapelle?“
Peter musste schlucken.
„Gerne.“