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Freundschaft aus Lüge
Dörte lernte ich am ersten Schultag kennen. Sie war, genau wie ich, eine Außenseiterin im Klassenverband. Oft krank, die Jüngste von acht Geschwistern, ich war auch die Jüngste von drei Geschwistern, meine Mutter wurde 48 Jahre alt, als ich geboren wurde.
Schon in der Kindheit war Dörte von einigen ihrer älteren Brüder gehänselt und verspottet worden.
So wurden wir Freundinnen, bis zur vierten Klasse. Dann wurden wir ab der fünften Klasse getrennt, zwar in der gleichen Schule, aber in verschiedenen Klassen. Wir sahen uns kaum. Ab der siebten Klasse ging Dörte zur Hauptschule, ich in die Realschule.
Gegen Ende der siebten Klasse erfuhr ich von meiner Nachbarin Ute, die mit Dörte in die gleiche Klasse ging, dass Dörte versucht hatte, sich umzubringen.
Wir beschlossen, ihr zu helfen und uns um sie zu kümmern.
Längst hatte ich mitbekommen, dass Dörte ausgerechnet von einigen meiner Klassenkameraden in der Schulbücherei verspottet wurde, indem Jan ihr weisgemacht hatte, das sein Vater Plattenproduzent sei. Dörte, die der Meinung war, sie könnte gut singen, gab also den Schneewalzer zum Besten, in der Hoffnung, als Star entdeckt zu werden. Irgendwie habe ich sie aus der Bücherei herausbekommen.
Für die nächsten zwei Jahre trafen wir uns meistens bei Dörte, sie hatte ein eigenes Zimmer im Haus ihrer Eltern. Im Deutschunterricht hatten wir ein Spiel gemacht, jemand musste sich eine Geschichte ausdenken und erzählen aus von den anderen zugerufenen Hauptwörtern. Das spielten wir oft in abgewandelter Form, meist schrieb eine von uns, die beiden anderen flüsterten ihr die Wörter zu. Was lachten wir über den Quatsch, der dabei herauskam.
Dann begannen Dörte und Ute ihre Ausbildungen, Ute hatte keine Zeit mehr für uns, so hingen Dörte und ich weiterhin zusammen, ich noch in der Schule. Dörte hatte ihren ersten Freund, das ging aber ihres Vaters wegen wieder in die Brüche. Sie schleppte mich mit in Discos, wir hatten ein unbeschwertes Leben.
Dann begann ich meine schulische Ausbildung in Braunschweig. Dörte hatte zum dritten Mal die Sekretärinnenprüfung nicht bestanden und war arbeitslos.
Durch eine Freundin von mir lernte sie ihren nächsten Freund kennen, verlobte sich mit ihm und zog nach Braunschweig.
Auch ich hatte gegen Ende der Ausbildung jemanden kennengelernt und bin zu ihm gezogen, aber er wohnte in der Nähe der elterlichen Wohnung.
Dörte und ich besuchten uns regelmäßig. Wir spielten Karten oder unterhielten uns. Da ich nach Beendigung der Ausbildung keine Stelle finden konnte, entschied ich mich, es übergangsweise als Zeitungszustellerin zu versuchen. Bald merkte ich, dass das der ideale Job für mich war und meldete mich als arbeitssuchend ab.
Dörtes Verlobung ging in die Brüche, sie kam zurück ins Elternhaus. Weiterhin ohne Arbeit nahm sie auch einen Zeitungszustelljob an, allerdings für eins der beiden Wochenendblätter. Manchmal half ich ihr beim Verteilen. Dann begann sie außerhalb eine Umschulung, fand dort den nächsten Freund, dann noch einen und verlobte sich erneut, noch während der Umschulung zog sie mit ihm zusammen. Aber wieder gab es böses Blut und sie kehrte zurück ins Elternhaus, immer noch ohne Arbeit.
Auch in meiner Beziehung kriselte es nach sieben Jahren und ich kehrte zurück zu meiner Mutter, mein Vater war inzwischen verstorben. Immer noch hatte ich meinen Job als Zeitungszustellerin, inzwischen war ich für beide Zeitungsverlage tätig.
Eines Tages saßen wir in meinem Zimmer beim Kartenspiel. Dörte hatte verloren, mit einem Mal fing sie an zu weinen. "Ich bin nichts wert – ich will nicht mehr leben!", rief sie aus. Nur schwer konnte ich sie beruhigen.
Dörte blieb weiterhin ohne Arbeit, ihr Leben bestand aus Maßnahmen und Umschulungen vom Arbeitsamt.
Nach einiger Zeit lernte sie Frank kennen, wieder Verlobung, nach zwei Jahren tatsächlich die Heirat, Dörtes Traum war in Erfüllung gegangen, sie erwartete ein Kind.
Es war eine schwierige Geburt, Max musste letztendlich per Kaiserschnitt geholt werden. Für Dörte begann ein Martyrium im Krankenhaus. Erst nach Wochen stellten die Ärzte fest, dass ihre Blase angeschnitten worden war. Max hatte sich lange vor ihr gut erholt und konnte heim zum Papa. Dörte musste wegen der schweren Krankheit abstillen. Endlich war auch sie daheim - aber nur für einen Tag. Mit Thrombose zurück ins Krankenhaus. Nach weiteren sechs Wochen in der Klinik endlich zuhause.
Im Jahr darauf hatte ich zehn-jähriges Dienstjubiläum bei der ersten Zeitung, für die ich tätig war.
Dörte hatte sich gesundheitlich gut erholt, aber wir merkten bald, dass Max ein "Spätzünder" war. Er entwickelte sich nicht so wie andere Kinder seines Alters.
Ich wollte nie Kinder, so fiel es mir damals nicht auf, dass Max in eine Ecke gesetzt wurde, mit Spielzeug umhäuft - "Ach, Max spielt ja so schön alleine!" Abends wurde er ins Bett gesteckt, ohne zu warten, bis er einschlief, Licht aus, fertig, Ruhe. Das wurde mir erst Jahre später bewusst.
Bis drei oder vier Jahre musste er gefüttert werden, Windeln brauchte er bis sieben Jahre.
Meine Mutter sagte damals zu mir: "Dörte hält den Jungen dumm." Sie waren oft bei uns, oder ich bei ihnen. Oftmals kam Dörte zu mir, wenn sie ein Problem mit Max hatte, und irgendwie fand ich immer eine Lösung. Auch kleidete ich Max ein, machte mir Spaß. Inzwischen konnte ich nach einer Operation selber keine Kinder mehr bekommen, je älter ich wurde, umso mehr wurde mir bewusst, dass ich dadurch niemanden hatte, an den ich mein Wissen weitergeben konnte.
Aber immer öfter gab es Streit zwischen Dörte und mir, sie war irgendwie anders geworden, oberflächlich, abwesend.
Dann verstarb auch Dörtes Vater nach kurzer, schwerer Krankheit.
Nach 20, bzw. 15 Jahren im Zeitungszustelldienst musste ich aus gesundheitlichen Gründen meine geliebte Arbeit aufgeben, bin seitdem Erwerbsminderungsrentnerin.
Dörte schob nun Max vor, um nicht arbeiten gehen zu müssen. Sie hatte sich von Frank getrennt, angeblich hätte er Max geschlagen, aber ich nehme an, dass auch sie ihn geschlagen haben wird, einfach, weil Max es gewagt hatte, etwas zu fragen. Sie hat ihn gar nicht wahrgenommen, und wenn, hat sie gebrüllt: "Was ist denn, Max?" Das habe ich des Öftern beobachten können.
Max wurde mit sieben Jahren in den Vorschulkindergarten eingeschult, da kam er nicht mit, schließlich in eine Spezialschule nach Braunschweig. Als er zwölf Jahre alt war habe ich ihm mit einer eigens für ihn erdachten Methode das Lesen beigebracht. Ich erzielte damit einen Erfolg - "Max hat sein Lesen deutlich verbessert!", las Dörte freudestrahlend aus dem Zeugnis vor.
Leider verstarb dann plötzlich meine Mutter, und ich hatte mit Wohnungssuche, Ausräumen der großen Wohnung und schließlich Umzug so viel zu tun, dass ich mich nicht weiter mit Max' Lesen beschäftigen konnte.
Dörte und ich waren uns mal wieder böse, als plötzlich auch ihre Mutter verstarb. Sie hatte mir beigestanden, also war ich auch für sie da. So stellte ich fest, dass Max nach nur einem Jahr ohne meine Lesehilfe wieder herumstotterte wie ein Leseanfänger.
Da wurde mir bewusst, dass Max keinerlei Förderung von den inzwischen längst versöhnten Eltern erhielt. In Gesprächen drehte sich alles nur um Computerspiele und TV-Programm.
So habe ich versucht, den Kinderschutzbund aufmerksam zu machen, aber ich hatte schon lange bemerkt, dass Dörte sich "das Leben schön lügt". Sie muss Lügen so perfektioniert haben, dass ihr geglaubt wird. Jedenfalls wurde mir kein Glaube geschenkt.
Nachdem ich festgestellt habe, dass Dörte mich auch privat hintergangen hatte und, als ich sie zur Rede stellte, sie sich im Recht sah habe ich den Kontakt endgültig abgebrochen.
Eine Freundschaft nach fast 40 Jahren durch Lüge zerstört.
Ein Kind zum Werkzeug gemacht, ein Kind, ohne die Mutter nicht lebensfähig.
Ist das ihre Rache für die schwere Geburt, die Narben?
Nachtrag
Nach Fertigstellung dieser Geschichte warf ich sie im Kummerbriefkasten des Rathauses ein, in der Hoffnung, es würde eine Änderung für Max bringen.
Vor zwei Jahren habe ich den Kontakt zu Dörte wieder aufgenommen. Seit letztem Jahr reden wir wieder miteinander. Sie ist in Psychotherapie, Max, mittlerweile volljährig, holt seinen Hauptschulabschluss nach und lebt in einer Wohngruppe.
Es wird wohl nie wieder die Freundschaft werden, die es einst war, aber eine andere.