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Freundesdienst

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24.06.2002
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Freundesdienst

Ramona bestieg das Flugzeug. Zum ersten Mal in ihrem nicht mehr ganz jungen Leben hatte sie es gewagt. Eine Flugreise! Noch vor kurzem wäre das Benutzen dieses Transportmittels für sie völlig undenkbar gewesen, aber dann hatten ihre Freunde sie zu einem gemeinsamen Urlaub in Griechenland überredet. Hätte sie geahnt, dass diese Freunde sie im letzten Moment im Stich lassen würden, niemals hätte sie sich darauf eingelassen. Im Stich lassen war eigentlich nicht das richtige Wort. „Sei nicht albern!“ dachte sie. „Vasily‘s Herzinfarkt ist wirklich ein Schicksalsschlag und anstatt darüber zu jammern, dass du nun allein wirst in der Sonne liegen müssen, solltest du dich um deine Freunde sorgen.“ Nach Annettes Anruf vor drei Tagen war Ramona’s erste Reaktion gewesen: „Ich bleibe zu Hause“, aber dann packte sie doch die Abenteuerlust. „Stell dich nicht so mädchenhaft an. Du wirst doch noch in der Lage sein, zwei Wochen allein zurecht zu kommen!“. Also hatte sie all ihren Mut zusammen gerafft und nun stieg sie tatsächlich in das Flugzeug ein, das sie, hoffentlich sicher, nach Thessaloniki bringen würde.

Der Flug verlief ohne Komplikationen. Ramona schaffte es sogar, sich zu entspannen. Allmählich begann die Vorfreude. „Zwei Wochen Nichtstun. Sonne, Sand, Meer, gutes Essen und deine geliebten Bücher. Mensch, das klingt wie der Himmel auf Erden.“ Am Flughafen wurde sie bereits von einem Taxi erwartet. Der Fahrer hielt ein Schild mit ihrem Namen hoch. Er sah irgendwie finster aus, aber Ramona hatte keine Wahl. Sie musste sich diesem Menschen anvertrauen. Während der zweistündigen Fahrt, die Ramona mehr ängstigte als der gefürchtete Flug vorher, musste sie feststellen, dass der Mann, dem sie sich ausgeliefert hatte, sie nicht verstand. Sie versuchte es in Deutsch und Englisch, aber der Mann schien nur seine Muttersprache zu beherrschen. „Warum fliege ich auch ausgerechnet in ein Land, dessen Sprache ich nicht spreche?“ schimpfte Ramona ein wenig mit sich selbst.

Die Ankunft an ihrem endgültigen Ziel entschädigte sie indes für alles. Schon als sie aus dem Taxi ausstieg, hörte Ramona Sirtaki-Klänge, die sie sogleich in Urlaubsstimmung versetzten. Der finstere Taxifahrer schien die Vermieter des Appartements zu kennen, denn nachdem er seinen Fahrgast unter lautem Hallo – zumindest hatte Ramona die griechische Unterhaltung als herzliche Begrüßung gedeutet – abgeliefert hatte, verschwand er mit dem Hausherren irgendwo im oberen Stockwerk. Eine kleine, dunkelhaarige Frau zeigte Ramona ihr künftiges Domizil. Auch sie schien kein Wort zu verstehen. Seufzend fügte sich Ramona in ihr Schicksal. „Zum Schweigen verdammt“, dachte sie sich, aber sie war wild entschlossen, sich nicht die Laune verderben zu lassen. Das Appartement verzichtete auf jeglichen Luxus, wirkte aber dennoch anheimelnd. „Hier werde ich mich wohlfühlen“, dachte Ramona und als sie den großen Balkon betrat, der den Blick auf den herrlichen Sandstrand freigab, fühlte sie sich förmlich wie im Paradies.

Sie fing sofort an, ihre Koffer auszupacken, denn sie wollte so schnell wie möglich die Gegend erkunden, die für die nächsten zwei Wochen ihr Zuhause sein würde. „Sorbas Dance“, die Titelmelodie des uralten Spielfilms mit Anthony Quinn, vor sich hinsummend, gönnte sich Ramona eine erfrischende Dusche und schlüpfte anschließend in ihr brandneues pastellfarbenes Sommerkleid. Gerade als sie die weißen Sandalen anziehen wollte, hörte sie ein Geräusch, das vorher nicht da gewesen war.
Zuerst war es nur ein Raunen gewesen. Ein Raunen, das von „Sorbas‘ Dance“ verdeckt wurde. Ramona verstummte und jetzt hörte sie es deutlicher. Sie konnte Worte erkennen. Leise wispernd. Eindringlich. Warnend. „Du musst hier weg!“ sagte die Stimme. „Bring dich in Sicherheit“. Immer und immer wieder diese beiden Sätze, immer im gleichen Tonfall, immer mit der gleichen Intensität. Ramona schaute sich um. Sie war allein. Natürlich war sie allein. Die kleine Frau war ja längst gegangen. Dennoch vernahm sie diese Stimme. Wer sprach? Lauschend schlich sie vorsichtig durch die beiden kleinen Räume, in der Hoffnung, das Rätsel zu lösen und den Sprecher dieser endlos sich wiederholenden Sätze zu entdecken. Vielleicht im anderen Appartement? Nein, das Haus war absolut ruhig, ihre Nachbarn schienen ausgeflogen zu sein.
„Mir ist die Hitze wohl nicht bekommen“ wischte Ramona das unheimliche Gefühl weg, das sie zu beschleichen drohte und wie auf Befehl verstummte das Flüstern. „Siehst du, du hast eine zu blühende Phantasie, du Möchtegern-Abenteurerin!“. Erleichtert nahm sie das Summen wieder auf, zog nun endlich ihre Sandalen an, packte Handtasche und Zimmerschlüssel und brach zu ihrem ersten Spaziergang auf.

Vasily, selbst Grieche, hatte einen Ort gewählt, der von Deutschen kaum frequentiert wurde. „Peramos scheint die griechische Nordseeküste zu sein“, schmunzelte Ramona. Sie hätte eigentlich ja auch gar nichts dagegen gehabt, Land und Leute kennenzulernen, wenn alles wie geplant verlaufen wäre. Vasily hätte den beiden Frauen sicherlich als Dolmetscher zur Seite gestanden – aber nun war eben alles anders gekommen. An der Strandpromenade tummelten sich Alt und Jung, ganze Familien und Singles, Pärchen und solche, die es werden wollten. Ramona genoss das farbenprächtige Bild, das sich ihr bot. Bunt gekleidete, fröhliche Menschen, azurblauer Himmel, strahlend weiße Gebäude und Straßenlokale überall entlang der endlos erscheinenden Uferpromenade. Mist, die neuen Schuhe drückten ein wenig an ihren nackten Füßen. Im nächstbesten Lokal suchte sie sich einen freien Platz und bereitete sich darauf vor, ihre Bestellung unbeholfen gestikulierend an den Mann zu bringen. An einen gutaussehenden Mann, wie Ramona feststellte. Gerade als sie versuchte, ihren Wunsch nach einer eiskalten Cola in Gesten zu verpacken, fragte der Kellner auf Deutsch nach ihren Wünschen. „Es gibt doch einen Gott“, dachte Ramona und wunderte sich ein wenig darüber, dass man ihr die deutsche Herkunft schon auf den ersten Blick anzusehen schien.

Am Nachbartisch saßen zwei ältere Männer. Offenbar hatten die beiden schon mächtig in die Ouzo-Flasche geschaut, die mittlerweile fast leer zwischen ihnen stand. Sie sprachen Griechisch miteinander und natürlich konnte Ramona kein Wort des Gesagten verstehen. Plötzlich erstarrte sie. Da war sie wieder! Die Stimme!!! „Du musst hier weg!“ und „Bring dich in Sicherheit!“ Ramona schüttelte den Kopf und blickte sich um. Der Kellner? Nein, er stand mindestens zwanzig Meter entfernt hinter seiner Theke und plänkelte mit einem weiblichen Gast herum. „Macho, Macho“ summte Ramona vor sich hin, bis sie sich selbst zur Ordnung rief. „Hey, du hörst eine Stimme, die dich warnt. Eine Stimme, die dich sogar bis hierher verfolgt – und du hast nichts Besseres zu tun, als dümmliche Melodien zu summen? Finde lieber heraus, wo das herkommt!“ Hm, die beiden Männer am Nachbartisch sprachen immer noch Griechisch miteinander. Von dort war die Stimme sicher nicht gekommen. Die beiden Kinder, die lärmend durch das Lokal liefen? Unmöglich! Sie hörte eindeutig die Stimme eines Mannes. Nein, sie musste hier weg! So schnell wie möglich. Ramona beeilte sich, den Kellner an ihren Tisch zu rufen, zahlte und wartete nicht einmal auf Wechselgeld. Panisch verließ sie das Lokal und rannte auf dem kleinen Holzsteg, der über den Sandstrand hinweg vom Lokal weg führte zum Meer. Aber sie schien nicht entkommen zu können. Die Stimme war immer noch da – und diesmal hatte sie den Beweis. Sie stand allein am Ufer, kleine Wellen schienen sich nach ihren Füßen zu strecken und leichter Wind kühlte ihr verschwitztes Gesicht. „Bring dich in Sicherheit!“ und „Du musst hier weg!“. Sie stand allein am Meeresufer, in einem Land, das sie nicht kannte. Ein paar Menschen tummelten sich in einiger Entfernung im Wasser. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag: „Die Stimme ist in meinem Kopf!!!“

„Okay“, versuchte sie krampfhaft, Ruhe zu bewahren. „Du hörst also eine Stimme, die dir sagt, du sollst von hier verschwinden. Hey, altes Mädchen, du verlierst den Verstand!!“ Die Panik ließ sich nicht länger verdrängen. „Oh mein Gott, ich habe eine STIMME in meinem Kopf!“ Psychose, Schizophrenie, Wahnsinn – Begriffe schossen ihr durch den Sinn. „Was mache ich jetzt, was mache ich bloß?“ Panik wich der Verzweiflung, Tränen rannen ungehemmt über ihr Gesicht. „Bring dich in Sicherheit! Du musst hier weg!“ Die Stimme hatte nicht an Intensität verloren. Doch je länger Ramona darauf lauschte, umso vertrauter schien ihr der Tonfall. Sie kannte den Sprecher, auch wenn sie ihn nicht benennen konnte. Immer noch war Angst in ihr, doch wieder zwang sie sich zur Ruhe. „Die Stimme warnt mich – der Sprecher meint es offenbar gut mit mir. Ich sollte versuchen, mich mit „ihm“ anzufreunden.“ Sie wartete, bis Sonne und Wind die salzigen Tränen auf ihrem Gesicht getrocknet hatten und ging dann langsam, nahezu vorsichtig, auf dem Steg zurück in das Lokal, das sie noch vor ein paar Minuten völlig panisch verlassen hatte.

Der gutaussehende Kellner schien bemerkt zu haben, dass es der deutschen Touristin nicht gut ging. Er war in Deutschland aufgewachsen und erst als Erwachsener in sein Heimatland zurück gekehrt. Mit Deutschland verband er nette Erinnerungen. Diese Sympathie übertrug er jetzt auf die attraktive Enddreißigerin. Während Ramona versuchte, bei einer Tasse Tee ihre Fassung zurück zu gewinnen, lächelte Dimitrios sie freundlich an und verwickelte sie in ein Gespräch. „Woher in Deutschland kommen sie?“. Ramona fuhr erschrocken zusammen. Sie war so mit ihrem akustischen Begleiter beschäftigt gewesen, dass eine reale Konversation sie völlig überraschte. „Ach, ich wohne in einem Dorf in der Nähe von Frankfurt“. „Sind Sie allein in Peramos?“ „Nun ja,“ dachte Ramona, ihren Galgenhumor zurück gewinnend, „ganz allein offenbar nicht“. Sie antwortete: „Ja“.
„Darf ich fragen, wo Sie hier wohnen?“ „Ich habe ein kleines Appartement gemietet. Am Ende der Promenade.“ „Bei Takis Panaiotis?“ „Ja, genau – kennen Sie ihn?“ Dimitrios lachte bitter auf, sein Blick verfinsterte sich. „Jeder in Peramos kennt Takis Panaiotis.“ Unvermittelt wandte sich Dimitrios ab und überließ Ramona sich selbst und der Stimme in ihrem Kopf. „Merkwürdig“, dachte sie. „Ein so plötzliches Ende der Unterhaltung hatte ich irgendwie nicht erwartet.“ Wortlos zahlte sie ihren Tee und verließ das Lokal. „So, mein Freund, dann gehen wir beide jetzt mal nach Hause“. Beinahe konnte sie schon wieder über sich selbst lachen.

Erst als sich Ramona auf dem bequemen Liegestuhl auf dem Balkon ihres Appartements ausgestreckt hatte, dachte sie darüber nach, wovor die Stimme sie wohl warnen wollte. Sie konnte beim besten Willen nichts Bedrohliches entdecken. Die Menschen hier schienen freundlich zu sein. Dass sie Ramona nicht verstanden, war ja nicht deren Fehler. Das spartanisch-behagliche Ambiente des Appartements versprach ihr die erhoffte Ruhe und die Sirtaki-Klänge aus dem Tanzlokal nebenan zeugten von fröhlicher Ausgelassenheit. Was, zum Teufel, wollte der Kerl in ihrem Kopf also von ihr? „Sag mal, mein Freund – hast du eigentlich etwas dagegen, wenn ich dir einen Namen gebe? Das ist ein bisschen persönlicher. Wenn du schon in meinem Kopf bist, sollte ich dich wenigstens ansprechen können. Lass mich überlegen, was zu dir passen würde .... hmmm, wie wäre es mit .... Hermes?“ Wozu hatte sie im Flugzeug griechische Mythen gelesen? Hermes war der Götterbote – vielleicht hatte er ihr tatsächlich eine Nachricht „von oben“ zu übermitteln?
Hermes schien von seinem neuen Namen unbeeindruckt. „Bring dich in Sicherheit! Du musst hier weg!“ flüsterte er ohne Pause. Die permanenten Wiederholungen trieben Ramona nicht mehr in Panik, vielmehr sorgten sie dafür, dass Ramona in traumlosen Schlaf fiel.

„Wegbringen... festhalten...Ausweis...verkaufen... Boot ... Insel... Kunden...Deutsche“
Ramona erwachte. Seltsam! Hermes hatte offenbar seinen Sprachschatz erweitert. Statt der unaufhörlichen Warnungen flüsterte er jetzt Wörter, deren Sinn Ramona nicht verstand. Doch jetzt hörte sie noch mehr Stimmen. „Oh je, Hermes hat doch nicht etwa Gesellschaft bekommen?“, dachte Ramona, aber dann erkannte sie, dass die anderen Stimmen nicht aus ihr kamen. Auf dem Balkon, der direkt über ihrem lag und der offenbar zur Wohnung des Vermieterehepaares gehörte, unterhielt sich Takis Panaiotis mit seiner Frau. Takis klang energisch und gelegentlich laut, während seine Frau eher ruhig, nahezu schüchtern antwortete. Ramona verstand kein Wort von dem Gespräch, das die beiden dort oben führten, also konzentrierte sie sich wieder auf das, was Hermes ihr zu sagen hatte.
„Wegbringen... Ausweis...verkaufen... Boot ... Insel... Kunden...Deutsche“
„Hermes“ seufzte Ramona leise. „wenn ich doch nur wüßte, was das jetzt wieder zu bedeuten hat“ – und dann hatte sie eine Idee. Übersetzte Hermes dort gerade Fetzen der Unterhaltung, die direkt über ihren Köpfen geführt wurde? Ja, das musste es sein. „Verflixt. Meinen die beiden mit der Deutschen etwa mich?“ „Wegbringen...festhalten....Ausweis...“ Die Erkenntnis traf sie wie ein Keulenschlag. Die beiden hatten also düstere Pläne mit ihrem deutschen Feriengast. Davor hatte Hermes sie warnen wollen. „Oh NEIN, ich sitze in der Tinte“. Ramona konnte sich nicht wirklich vorstellen, was ihre Vermieter konkret beabsichtigten, aber sie ahnte, dass es wohl klüger wäre, das Haus zu verlassen. „Hm, ich gehe noch mal zu dem netten Kellner. Immerhin spricht er meine Sprache und diesem Takis scheint er selbst ein wenig skeptisch gegenüber zu stehen. Ich werde ihm von meinem Dilemma berichten. Vielleicht kann er mir helfen“.

Während die Sonne langsam der Abenddämmerung wich, versuchte Ramona, die neuen Vokabeln ihres ständigen Begleiters in einen Zusammenhang zu bringen. Wollte man die Deutsche auf einem Boot zu einer Insel bringen? Würde man ihr den Ausweis wegnehmen und zu einem guten Preis verkaufen? „Absurd!“, sagte sich Ramona. „Warum ausgerechnet ich?“ Sie hatte sich aber nun einmal entschlossen, Hermes als Freund zu betrachten und seine Warnungen ernst zu nehmen. Wenn sie sich retten wollte, musste sie also handeln.
Dimitrios stand hinter der Theke. Offenbar verbrachte er zwei Drittel des Tages damit, Gläser zu spülen. Als Ramona an einem der kleinen Tische Platz nahm, warf er einen kurzen nichtssagenden Blick herüber, fuhr aber zunächst unbeirrt in seinem Tun fort. Erst als das letzte Glas zum Abtropfen auf der Spüle stand, bemühte sich Dimitrios an den Tisch der deutschen Touristin. „Guten Abend, was darf ich Ihnen bringen?“ fragte er. Ramona hielt es für besser, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Nur zu gut erinnerte sie sich an Dimitrios merkwürdige Reaktion, als sie am Nachmittag den Namen ihres Vermieters erwähnt hatte. „Einen Bauernsalat und ein Glas trockenen Rotwein, bitte“. Dimitrios nahm ihre Bestellung auf und verschwand wortlos in Richtung Küche. Schon bald darauf servierte er den Wein und schenkte ihr sogar ein kleines Lächeln. Ramona lächelte zurück und zögerte nicht, ihrerseits ein Gespräch mit Dimitrios zu beginnen. „Wo haben sie Deutsch gelernt?“ „Ich habe in Deutschland gelebt, bis ich zwanzig war. Dann wollte ich wieder zurück in die Sonne.“ „Haben sie Familie?“ „Ja, meine Eltern leben hier in Peramos. Entschuldigen Sie, es sind neue Gäste gekommen. Ich muss weiter arbeiten.“ Sprach’s und verschwand in Richtung eines großen Tisches, wo sich unter fröhlichem Gelächter ein Dutzend Jugendlicher niedergelassen hatte.

Hermes hatte inzwischen seinen alten Rhythmus wiedergefunden und setzte seine Warnungen pausenlos fort. Ramona musste handeln. Als Dimitrios die jungen Leute am Nebentisch mit Getränken versorgt hatte, ging sie darum noch einmal in die Offensive. „Mein Vermieter, Sie sagten jeder in Peramos kennt ihn. Ist er ein netter Mensch?“ fragte sie Dimitrios und beobachtete dabei seinen Gesichtsausdruck. Seine Miene verriet Anspannung. „Takis ist ein knallharter Geschäftsmann. Er weiß, wie man zu Geld kommt. Bei den meisten hier ist er trotzdem beliebt.“ „Womit verdient er denn sein Geld?“ hakte Ramona nach und musste sich eingestehen, dass sie für eine derartige Befragung die denkbar schlechteste Person war. Zu sehr brannten ihr Fragen auf den Lippen, als dass sie sich mit der Kunst des unauffälligen Fragens hätte belasten wollen. „Das weiß niemand so ganz genau“. Dimitrios‘ Antwort war nicht wirklich dazu geeignet, ihre Ängste zu zerstreuen. „Er handelt mit allem, was ihm in die Quere kommt.“ setzte Dimitrios noch hinzu, was in Ramona sämtliche Alarmglocken zum Läuten brachte. Ihr Herz begann zu rasen und ihre Angst übertönte den Verstand, als sie ihre nächste Frage stellte. „Verkauft er auch Menschen?“ Dimitrios bitteres Lachen und ein kurzes „Manchmal“ waren die Antwort.
„Hören Sie, sie sind fremd hier und möchten sicher die Gegend kennenlernen. Nach Feierabend will ich mit dem Boot rüberfahren zu einer kleinen Insel. Hätten Sie nicht Lust, mich zu begleiten? Dann kann ich Ihnen in Ruhe erzählen, was Sie wissen möchten.“ Spontan willigte Ramona ein, nicht ohne gleich darauf an der Richtigkeit dieser Entscheidung zu zweifeln. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Vor kurzem hatte sie ein Gespräch belauscht, in dem es darum ging, dass man sie verkaufen wollte – wobei Ramona sich immer noch wunderte, wer in drei Teufels Namen denn so dumm sein würde, einen Kaufpreis für eine mittelalterliche Deutsche auf den Tisch zu blättern – und jetzt war sie bereit mit einem griechischen Kellner, dessen einziger Verdienst war, ihre Sprache zu sprechen, zu einer abgelegenen Insel zu fahren. „Ramona, du musst wirklich verrückt geworden sein“, dachte sie und während sie darauf wartete, dass Dimitrios seine Arbeit beendete, unternahm sie den Versuch eines inneren Zwiegesprächs mit Hermes. Ihr Begleiter indes schien nicht an Smalltalk interessiert. Er stieß unbeirrt seine Warnungen aus. „Du musst hier weg! Bring dich in Sicherheit!“.

Nur zwei Stunden später setzte Ramona den Fuß auf die kleine Insel, die Dimitrios während der Überfahrt als sein persönliches kleines Paradies beschrieben hatte. Hier kam er her, wenn er allein sein wollte. Die Insel war viel zu klein, um bewohnt zu sein. Pflanzen und Insekten bestimmten ihre Vegetation – dennoch besaß sie einen wunderschönen Sandstrand, wo sich die beiden Ausflügler nun niederließen. Ramona fühlte sich noch immer unbehaglich. Dimitrios holte eine Flasche Wein und zwei Gläser aus dem Boot und während er Ramona zuprostete, funkelten seine Augen gefährlich. Das Funkeln konnte alles Mögliche bedeuten und Ramona hoffte inständig, dass ihre Entscheidung hierher zu kommen, nicht die falsche gewesen sein möge. „Takis ist mein Vater“, nahm Dimitrios das Thema wieder auf. Seine Augen funkelten noch immer, aber jetzt konnte Ramona erkennen, dass es blanke Wut war, die sich darin spiegelte. „Sie haben vorhin gefragt, ob er auch mit Menschen handelt. Ja, das tut er!! Er wollte seinen einzigen Sohn verkaufen! Natürlich nicht gegen Bargeld. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mich mit der Tochter eines reichen Geschäftsmannes aus Kavala zu verkuppeln. Reichtum zu Reichtum war seine Devise. Aber er hatte die Rechnung ohne mich gemacht. Diese Helena machte ihrem Namen überhaupt keine Ehre. Sie war ein hässliches Entchen und noch dazu strohdumm. Ich wollte sie nicht heiraten!“ Ramona hörte zu und beobachtete dabei Dimitrios lebhafte Mimik. „Er wollte mich für den Wohlstand der Familie verkaufen, mich zur Hochzeit zwingen. Aber ich lasse mich von NIEMANDEM zwingen. Was soll ich sagen? Mein Vater duldet keinen Widerspruch, also hat er mich enterbt und mich aus der Familie verstoßen. Wenn ich meinen Eltern auf der Straße begegne, schauen sie in die andere Richtung oder wechseln die Straßenseite. Ich bin allein.“ Während Ramona mit Dimitrios litt, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Hermes schwieg. Keine Stimme mehr in ihrem Kopf. War sie nun in Sicherheit, hatte der Wein sie so betäubt, dass sie die Stimme nicht mehr hörte oder war Hermes vom vielen Sprechen heiser geworden? Hermes schwieg, doch bevor Ramona sich noch darüber wundern konnte, erzählte Dimitrios weiter. „Mein Vater handelt jetzt hauptsächlich mit Booten. Er kauft alte Fischerboote, möbelt sie wieder auf und verkauft sie dann wieder – überwiegend an Deutsche.“ Ramona begann zu lachen. Dimitrios schaute sie verständnislos an, aber Ramona lachte weiter, befreit und sich selbst für ihre Dummheit scheltend. „Er handelt mit Booten“ dachte sie „und ich Dummkopf hatte angenommen, ICH soll verkauft werden. Albernes Gänschen!“ Natürlich konnte sie Dimitrios den Grund für ihre plötzliche Heiterkeit unmöglich erklären, ohne sich selbst komplett lächerlich zu machen und ihm noch dazu von Hermes zu erzählen. „Entschuldigen Sie“ sagte sie statt dessen, „ich musste gerade an einen Witz denken“. Eine Weile blieben sie noch am Strand sitzen, den Wein zwischen sich, unbefangen plaudernd und guter Laune. Endlich beim „Du“ angelangt, traten die beiden kurz darauf den Heimweg an. Die Nacht war sternenklar und friedlich und Ramona fühlte sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft völlig entspannt.

Eine Stunde später: Fassungslosigkeit!
Wo noch am Nachmittag Ramonas Ferienwohnung gewesen war, schlugen nun Flammen aus den Fenstern. Vor dem Haus Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen – Menschen, die hektisch umherrannten, verzweifelt bemüht, Hausbewohner in Sicherheit und das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Ramona sah gerade noch, wie Takis Frau in den Krankenwagen gebracht wurde, ihr Gesicht rußgeschwärzt. Ramona konnte ihr schmerzerfülltes Stöhnen hören. Dimitrios, der sehr schnell von dem Unglück gehört hatte, war zur Unglücksstelle geeilt. Er würde der Ambulanz ins Krankenhaus folgen. Nur kurz wandte er sich an Ramona. „Es scheint eine Explosion gewesen zu sein. Vermutlich ist ein Fass mit Dieselkraftstoff für ein Boot in Brand geraten. Mein Vater wollte ja nicht hören. Nur gut, dass wenigstens Du nicht zu Hause warst, als es passierte! “

Ratlos und betroffen stand Ramona vor dem flammenden Etwas, das ihr Feriendomizil hätte sein sollen. Irgendwo zwischen den unzähligen Helfern erkannte sie den finsteren Taxifahrer vom Nachmittag wieder und auch er hatte sie entdeckt. Gestikulierend kam er auf sie zu, legte den Arm um sie und führte sie die Straße entlang zu einer kleinen Pension, wo er der Wirtin klar zu machen schien, was passiert war und dass der deutsche Gast eine Schlafstätte brauchte. Ramona lächelte ihm dankbar zu und deutete dann auf das Telefon. Sie musste Annette anrufen! Als sich die Freundin meldete, war ihre Stimme kaum zu erkennen. Statt des Namens drang ein Schluchzen an Ramonas Ohr. „Annette! Was ist passiert?“ schrie Ramona fast in den Hörer. Unter Aufbietung all ihrer Kraft stammelte Annette: „Ramona, Vasily. Vasily ist ...“ „Vasily ist was???“ „Er ist tot!“ Nein, das war zu viel. Das konnte doch nicht sein. „Wann, Annette – wann ist er gestorben?“ „Heute Morgen. 11.17 Uhr.“ Fassungslos erinnerte sich Ramona. Das war die Zeit, als sie Hermes‘ Stimme zum ersten Mal realisiert hatte. Und nun verstand sie...

 

Hallo whome!

Eine wunderbare Geschichte. Sehr überzeugend und realistisch geschrieben, sodass man sich gut in die Lage der Protagonistin hineinversetzen kann und ängstlich mit ihr fiebert. Mag von der Idee her nicht völlig neu gewesen sein (erinnert mich ein wenig an die Serie "X-Factor"), aber du hast einiges draus gemacht. Auch das Ende hat mir gut gefallen. Überraschend und ein wenig schockierend für Ramona. Also voll und ganz gelungen, die Story.
Weiter so! :thumbsup:

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hallo Michael,

ich danke dir sehr für deinen positiven Kommentar. Stimmt, ich bin möglicherweise wirklich ein wenig X-Faktor infiltriert, aber solange dies dem Spaß am Lesen meiner Geschichte keinen Abbruch tut, sehe ich das nicht als Nachteil an.

Danke, dass du mir Mut gemacht hast, weiter zu machen. Gerade wenn das literarische Schreiben noch ein wenig in den Kinderschuhen steckt, hat ein solch positives Feedback den allerbesten Einfluss auf die persönliche Motivation.

Lieben Gruß
whome?
Gaby

 

Hallo Gaby,

ich kann mich Michael im Prinzip anschließen. Auch mir hat die Geschichte gefallen.

Allerdings denke ich, dass sie durch eine kleine Überarbeitung vielleicht noch besser werden könnte.

Mich haben Ramonas teilweise sachlich-kühlen Gedanken ein bisschen gestört, weil für mich ihr Unbehagen bzw. ihre Angst nicht voll rüberkam. Dazu zwei Beispiele:

„Hey, du hörst eine Stimme, die dich warnt. Eine Stimme, die dich sogar bis hierher verfolgt – und du hast nichts Besseres zu tun, als dümmliche Melodien zu summen? Finde lieber heraus, wo das herkommt!“
Einige Sätze weiter ist Ramona "panisch" und rennt aus dem Lokal. Vom eher nüchternen "Finde lieber heraus..." bis zur Panik ging es mir zu schnell. Das konnte ich nicht ganz nachvollziehen.
„Hm, ich gehe noch mal zu dem netten Kellner. Immerhin spricht er meine Sprache und diesem Takis scheint er selbst ein wenig skeptisch gegenüber zu stehen. Ich werde ihm von meinem Dilemma berichten. Vielleicht kann er mir helfen“.
Auch hier eher sachlich-nüchtern.
Die Gedankenspiele sind natürlich der Kern der Geschichte, aber vielleicht hast du zu viele von diesen längeren Gedankengängen drin. Und die Wortwahl passt meiner Meinung nach nicht immer zum Geschehen, drückt die Angst nicht immer aus, die Ramona ja hat oder haben müsste.
Das mit der Bootsfahrt konnte ich auch nicht ganz nachvollziehen. Das riecht ja quasi nach Falle, bei all dem, was Ramona vermutet. Dass sie trotz ihrer Zweifel und der "Bedenkzeit" mitgeht, erschien mir ein bisschen konstruiert.

Im Deutschen schreibt man "Ramona's" übrigens ohne Apostroph.

Vielleicht kannst du mit meinen Anregungen ja etwas anfangen. Würde mich freuen.

Viele Grüße

Christian

 

Hallo Criss,

danke für deinen Kommentar. Du hast recht - ich bin selbst über diese Stellen gestolpert. "Sachliche Verzweiflung" ist nicht wirklich nachzuvollziehen.

Ich werde mich noch einmal mit dem Text auseinandersetzen und einige Stellen ummodeln. Deine Anmerkungen sind auf jeden Fall sehr hilfreich und können mir vielleicht auch für meine aktuelle Geschichte von Nutzen sein.

Liebe Grüße
whome?
Gaby

 

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