Freunde ohne Gesichter
„Sie haben 15 unbearbeitete Freundschaftsanträge“, meldete mir mein Social Network, als ich nach zwei Wochen Herbstferien wieder mit der virtuellen Außenwelt verbunden war. Ich bereute es schon wieder, dass ich mich eingeloggt hatte an meinem letzten Ferientag. Ich kam mir hier kontrolliert vor wie von meinem Direx an der Schule, Herrn Dr. Wetter-Kronenstein, wenn mein Halbjahres-Klassenbericht wieder verspätet war. Nun ja, jetzt war ich ja nun mal „drin“ in dieser Community, jetzt konnte ich mir auch die News anschauen von den vielen Menschen, die mich offenbar sympathisch fanden. Sympathisch vielleicht nur aufgrund meiner leicht ergrauten, üppigen Stirnlocken, dem ebenfalls grauen Kinnbart und meinem markanten Gesicht oder freundlichen Lächeln auf meinem Profilfoto. Oder aufgrund meiner Zugehörigkeit zur Group „Vargas-Llosa“ und „Garcia Marquez“ sowie „Isabel Allende“. Und zu den „Grateful Dead“. Eingeladen worden war ich einmal von einer bezaubernden Grillparty-Bekannten bei Rolli, meinem ältesten Freund. Ich war dort gerade drei Monate nach meiner Scheidung aus der Versenkung erschienen, und diese Frau faszinierte mich auf den ersten Blick. Auf Facebook hätte ich ihr sofort einen Freundschaftsantrag gemacht, wenn nicht noch Schlimmeres. Sie hatte lange, glatte, glänzende tizianrote Haare bis zur Hüfte, tanzte total selbst vergessen, hatte die Schuhe unter ihrem langen, indischen Seidenrock abgestreift und hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen, die tiefrot geschminkt waren. Als das Lied beendet war, blickte sie auf – und mir direkt in meine starrenden Augen. Aus Verlegenheit hob ich mein Bierglas und prostete ihr zu – und sie erwiderte den Gruß tatsächlich mit ihrem Prosecco-Glas. Leicht verwirrt – ich erröte immer noch wie ein Schuljunge in solchen Situationen – trat ich auf sie zu und stellte mich vor.
„Melody“, nannte sie mit ihrer tiefen rauchigen Stimme ihren Namen. Ja, ich fand, diese Frau klang und roch gut, wie eine Melodie, die extra für mich komponiert war. Und so unterhielten wir uns den ganzen, langen Abend, rauchend auf der Terrasse, entdeckten, dass wir beide begeistert waren von lateinamerikanischer Literatur und der 60er/ 70er Psychedelic Rock Music und beide schon in die selben Länder gereist waren – Mexiko, Peru, Guatemala, Ecuador, Feuerland. Und die gleichen Ansichten teilten über die Politik in diesen Ländern. Zum Schluss gab ich ihr meine Email-Adresse und war sicher, dass sie sich bestimmt nie wieder melden würde. Ich wusste ja nicht mal, ob sie verheiratet war, allein lebte oder überhaupt auf Männer stand.
Drei Tage später hatte ich meine erste Einladung in Facebook von „Bittersweet Melody“ in meinem Posteingang. Normalerweise lösche ich so was gleich als Spam, aber Melody ließ mich aufhorchen, und ich folgte dem Link. Dort erkannte ich ihr Foto, aufgenommen irgendwo am Meer, mit zerzausten Haaren und Sand an der Bluse, konnte sehen, dass sie circa 40 Freunde hatte, in aller Welt, sehr viele lateinamerikanisch aussehende mit entsprechenden, klangvollen Namen. Sie war wohl auch in einigen Groups und Facebook meldete mir, dass ich das und weitere Fotos nur sehen sowie mit ihr in Kontakt treten könne, wenn ich mich einloggte. Ich folgte der Anweisung und erdachte mir einen Login-Namen und ein Passwort, schaute mir zuerst ihre Groups an – Vargas-Llosa und Garcia Marquez waren natürlich dabei – und erstellte dann mit einer gewissen Akribie mein eigenes Profil, stellte den Antrag, in ihre Groups aufgenommen zu werden und stimmte ihrem Freundschaftsantrag zu.
Das war ja total easy! Ich brauchte mir gar nicht erst kunstvoll eine interessante Email auszudenken, mit der ich sie für mich begeistern konnte, alles war so leicht kommuniziert über wenige Mausklicks! Langsam bekam ich Spaß an der Sache.
Das war vier Wochen vor den Herbstferien. Ich hatte mit ihr ein paar Mails ausgetauscht, mich auch mit einigen ihrer Freunde befreundet, die sie mir empfahl, einige Artikel in den Groups geschrieben und ansonsten viel Stress und wenig Zeit wegen der Vorbereitung der Klausuren vor den Ferien. Dann war ich verreist.
Nun saß ich also da, etwas ratlos, vor meinen vielen neuen Freundschaftsanträgen. Ich rief die erste Userin auf: Lena-Jule, angeblich 20 Jahre jung, also über 20 Jahre jünger als ich, die auf dem Foto eher so alt wie kurz nach der Konfirmation aussah und rosa Glitzerhaarspängchen trug. Mal sehen, was dieses kleine Mädel hier so wollte – für mich kam sie wohl kaum in Frage, auch nicht als „Groups“-Freundin, denn mich interessierten nur Menschen, die schon etwas gesehen und erlebt hatten und eine Geschichte in ihren Gesichtern trugen. Dieses Mädel war weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ihre Lieblings-Group war, natürlich, wie könnte es anders sein, „LENA“, dieses Grand-Prix-Starlet aus Hannover, deren Nachnamen ich mir nie richtig merken konnte, den ich deshalb immer als Maier-Landroute verballhornte: eben eine frische, natürliche, unberührte Landstraße, keine belebte City-Autobahn mit Staus und buntem Durcheinander. Lena-Jule hatte ganz „viele, süße Fotos von der süßen Lena (Maier-Landroute)“ auf ihr Fotoalbum downgeloadet, damit jeder, den es interessierte oder auch nicht (so wie meinereiner) sehen konnte, dass sie bei einem Konzert gaaaanz vorne in der ersten Reihe vor ihr gestanden und sogar ihre Hand berührt hatte! Ich lehnte den Freundschaftsantrag von Lena-Jule lieber ab, denn erstens hatten wir komplett andere Vorlieben, und zweitens wollte ich auch nicht wegen Verführung Minderjähriger in Probleme geraten. Dieses Mädchen war eindeutig noch nicht ganz trocken in seinem Tanga-Slip, denn sie interessierte sich für „Pferde“, „Katzenbabys“ und diverse Boy Groups.
Nun, dann unverzagt weiter durch die Freundschaftsanträge geklickt: da schlug mir z.B. User B ohne Bild und den ich nicht kannte, einen User C als Freund vor, auch ohne Bild und ohne sichtbaren, realen Namen, nur mit seinem Login „Das Böse“. Gruselig – in welcher Halb- und Geisterwelt war ich denn hier gelandet? User D, auch ohne Bild und Namen, dafür wenigstens schon mal über 50 Jahre alt, empfahl mir die Group „Kaiser Wilhelm II“ und hatte nur zwei Freunde, die auch schon im Rentenalter waren. Ich schüttelte amüsiert und leicht verärgert den Kopf – was würde ich machen, wenn mir auf der Straße ein Mensch ohne Gesicht und Namen einen anderen Fremden ohne Gesicht und Namen als Freund oder Vereinsmitglied empfehlen würde? Noch dazu zu einem Verein, dem ich nie beitreten würde, zum Beispiel dem Polizei-Hundesportverein Braun-Weiß 1899? Ich schaute noch kurz sehnsüchtig, ob mir Melody eine Nachricht geschickt hatte, wegen ihr war ich ja diesem Sammelsurium an Seltsamkeiten beigetreten, aber nichts. Enttäuscht und verärgert loggte ich mich aus.
Am nächsten Tag strahlte mich auf der Tafel, als ich den Klassenraum betrat, ein leuchtend- roter Kreidephallus mit Grinsegesicht an, neben dem stand „Der Piepers ist schwul“. Die Klasse schaute mich feixend an. Sie waren gespannt auf meine Reaktion. Ich erklärte ihnen den Straftatbestand der Verleumdung, Rufschädigung und üblen Nachrede und betrachtete insgeheim aufmerksam ihre Hände. „Gregor Lukas, komm doch bitte mal nach vorne“, sagte ich eiskalt und leise. Ich ließ ihn die Hände ausstrecken – sie waren voll roter Kreide. Pfiffe und Buhrufe. Dann griff ich zum Handy und rief im Sekretariat vom Direx an. Ich sagte nicht, worum es ging, nur, dass er sicher sehr gerne sehen wolle, was hier Unerhörtes in der Klasse zu sehen war. Tatsächlich kam er nur 10 Minuten später angerannt, Gregor Lukas hatte sich inzwischen pseudo-cool auf das Katheter gefläzt. Die Coolness verging ihm aber rasch, als der Direx zischte „Mitkommen, Gregor Lukas!“, „Und Sie auch, Herr Piepers“.
Das Ende vom Lied war, dass der Direx ihn abmahnte und von der Sekretärin einen blauen Brief mit meiner und seiner Zeugenaussage an seine Eltern in die Tasten hacken ließ. Es war nicht das erste Mal, dass Gregor Lukas unangenehm aufgefallen war.
Abends freute ich mich auf eine pubertätsfreie Zone und hoffentlich eine Mail von Melody. „Sie haben eine neue Message erhalten.“ Mein Herz schlug höher. Melody? Nein: der Absender war der Administrator von Facebook, der mir bekannt gab, dass eine Beschwerde von Lena-Jule gegen mich vorläge, sie habe sich von mir sexuell belästigt gefühlt. Ich dürfe ihr nicht mehr schreiben oder sie zur Freundin ernennen, noch hätte ich weiterhin Einblick auf ihr Profil. Sollte sich mein Verhalten, was gegen die Spielregeln der Community verstoße, an anderer Stelle wiederholen, würde mein Account sofort und unwiderruflich gelöscht. Das war doch der Gipfel! Wozu diese kleinen Giftkröten alles fähig waren, wenn sie nicht genügend beachtet wurden! Ich hatte die Nase voll. Aber- Account löschen: keine so schlechte Idee!
Ich fand nach einigem Suchen den Button „Mitgliedschaft beenden“, drückte bei der Frage „wirklich und unwiderruflich beenden?“, auf „Yes!“, und grinste erleichtert, als ich diesen Schritt getan hatte. Denkste! Es kam aber keine Nachricht „Ihr Account wurde gelöscht“, sondern eine Mitteilung, mein Account sei momentan deaktiviert, ich könne ihn aber jederzeit wieder aktivieren, indem ich mein Login und Passwort eingäbe! Das war doch die Höhe! Jetzt würden mein sympathisches Lächeln und meine virtuellen Freunde inklusive der treulosen Melody auf ewig im Cache des Internet sichtbar bleiben!
Am liebsten hätte ich meinen PC aus dem Fenster geworfen, doch das brachte ja nun auch nichts. Er war ja vorwiegend mein Arbeitsinstrument zur Vorbereitung von Übungen für den Unterricht und Recherche-Arbeiten im Internet. Gerade wollte ich ihn zumindest ausschalten, da klingelte das Telefon. „Hallo Robert, hier ist Gerda“, flötete die Stimme meiner unsympathischen Englisch-Kollegin von der Schule. „Hast du heute schon Mal in ,Spick mich’ geschaut? Da wirst du aber staunen – du hast über 100 miese Ratings bekommen, was war eigentlich heute mit dem Gregor Lukas los, dass der zum Direx musste?“. Ich schmiss fluchend den Hörer auf die Gabel. „Sie kommen, sie sind überall. Sie haben diesen Planeten in ihrer Gewalt. Durchs Internet. Die Menschen ohne Gesichter!“ Oder sollte ich mich doch mal vorsichtshalber in „Spick mich“ einloggen, um zu wissen, wie die nächste Offensive aussah?
Ach was, ich fahr zum Rolli und nehm’ den guten Tullamore Dew mit, den er mir dieses Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Heute ist so ein Tag. Ein Tag für einen alten Freund mit ganz viel Gesicht und Geschichte, bei dem ich nachher im Rausch schnarchend auf der Couch einschlafen werde. Und der mich mal drückt, wenn’ s weh tut. Und einfach „Skol“, sagt und mit mir anstößt und mich versteht. Skol!