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- 21.08.2005
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Fressen und Gefressenwerden und Liebe
Die Bahnstation eines unbekannten, abgelegenen Ortes, umgeben von bergiger Landschaft, an einem scheußlichen Herbstabend.
Jan Kunz stand leicht schwankend und mit in den Nacken gelegtem Kopf da, starrte zu den vereinzelt sichtbaren Sternen hinauf, und dachte spöttisch lächelnd:
In seinem verdammten, naiven Narzissmus hat der Mensch wirklich geglaubt, sein Heimatplanet müsse den Mittelpunkt des Universums darstellen... Ts. Und dann war er tief gekränkt, als Copernicus bewies, dass die Sonne diesen Posten innehatte. Aber hat er irgendwas aus seinem Irrtum gelernt? Vielleicht etwas Demut? Nein, natürlich nicht! Trotzig und borniert denkt er heute, seine Rasse wäre trotz dieses Lapsus immer noch die höchste, intelligenteste, am Weitesten entwickelte…
Ein entferntes Rumpeln riss ihn aus seinen Gedanken, er wandte den Blick vom verhangenen Himmel ab und verspürte Erleichterung, als er in der Dunkelheit die Scheinwerfer des herannahenden Zuges erspähte.
„Oh-Gott-sei-Dank, da isser ja endlich!“, seufzte Gabi Hinrichsen neben ihm etwas zu laut. „Die Wartezeiten hier sin’ unnerträglich. Zum Glück sin’ wir morgen wieder inner Stadt.“ Jan registrierte das Lallen in ihrer Stimme und brummte zustimmend. Sie beide waren hier zu Gast, waren Bibliothekare am letzten Tag einer längeren Fortbildung. Heute Abend würden sie noch ein letztes Mal im Nachbarort übernachten, um morgen wieder nach Hause zurückzukehren. Es war spät geworden, denn nach dem letzten Vortrag („RFID – Erfahrungen aus der Praxis“) hatte noch ein Abschluss-Beisammensein mit allen Teilnehmern, Buffet und Getränken stattgefunden. Sie hatten beide etwas zuviel getrunken, doch im Moment war ihm die daraus resultierende, warme Betäubung durchaus willkommen, denn so störte ihn die unangenehme Kombination aus kaltem Wind und spärlichem Nieselregen nicht so sehr.
Langsam gingen sie, wie der kleine Rest der außer ihnen Wartenden, dem Zug entgegen. Beim Einsteigen stolperte Gabi fast, fing an zu kichern, und Jan stützte sie.
„Tihihi, tut mir Leid, Kollege, ich hatte wohl szuviel von dem Wein…“
„Macht nichts, Kollegin, geht mir genauso. Hier…“ Sie ließen sich einander gegenüber an einem der Fenster nieder, und der Zug setzte sich in Bewegung. Sie kannten sich schon länger und ihre anfänglich scherzhaft gemeinte Anrede, Kollegin und Kollege, war inzwischen Usus geworden und hatte fast ihre Namen ersetzt. Es gongte, und eine Frauenstimme sagte die nächste Station an.
„Haach“, seufzte sie, „Was für ein schöner Abend, oder?“
„Ja, ein netter Abschluss. Nicht so dröge wie sonst meistens…“ Sie kicherten beide, verbunden durch gemeinsame Erinnerungen, und verfielen dann in behagliches Schweigen. Gabi lehnte den Kopf an die Scheibe, schloss die Augen, und Jan musterte sie. Für ihre 44 Jahre war sie ziemlich attraktiv. Natürlich waren da die Falten in ihrem Gesicht, doch die waren eher schmal und flach und wirkten bei ihr wie absichtlich positioniert, wie Schmuck. Ihr glänzendes, kastanienfarbenes Haar war etwas Besonderes, ebenso wie ihre grünen Augen und die perfekte Nase. Er mochte sie sehr, ihre angenehme, lustige Art, ihre Freundlichkeit. Aber sie war natürlich verheiratet und hatte zwei Töchter…
Ph, als ob du irgendwas machen würdest, wenn’s nicht so wär! Ausgerechnet du…, dachte er bitter. Sein Blick glitt zu seinem Spiegelbild in der Scheibe. Ein müdes, etwas aufgedunsenes Gesicht mit braunen, melancholisch verschatteten Augen und Schnauzer sah ihn an. Früher hatte er Sport getrieben, aber irgendwann damit aufgehört.
Du solltest wieder anfangen, dachte er nicht zum ersten Mal, so musst du nicht aussehen. Er schaute durch sein Spiegelbild hindurch nach draußen in die Dunkelheit.
Durch Gabis kleines Missgeschick beim Einsteigen war es ihm nicht gleich aufgefallen, aber jetzt bemerkte er es - im Waggon roch es komisch. Künstlich, nach Plastik, aber auch irgendwie giftig. Er schaute sich nach der Quelle des Geruchs um, bemerkte jedoch nur eine alte Frau mit Hut und Regenschirm, die am anderen Ende des Waggons saß. Wahrscheinlich stammt der Geruch von den Sitzen, dachte er, und als er über die freie Sitzfläche neben sich strich, fühlte es sich eigenartig fremd an, irgendwie gummiartig.
Benutzen sie ein neues Material? Es gongte zum wiederholten Male, und die Frauenstimme unterbrach seine Gedanken:
„Nächster Halt; Bornheim.“ Überhaupt schien der ganze Zug noch recht neu zu sein. Alles glänzte sauber, nirgends waren Schmutz, Kritzeleien oder Kratzer zu sehen, ja nicht einmal normale Gebrauchsspuren. Und irgendwie wirkte alles – wie aus einem Guss.
Eine kleine Welle aus behaglicher Trägheit überkam Jan, er lehnte sich ebenfalls an die Scheibe – und schien ein Stück in sie einzusinken. Erschrocken zuckte er zurück. Skeptisch musterte er das Glas und drückte mit dem Daumen dagegen. Tatsächlich gab das Material etwas nach und schien auch wärmer zu sein, als es Glas normalerweise unter diesen Umständen wäre.
Das bildest du dir bloß ein... Plötzlich hatte er den Gedanken, dass dieser Zug gar kein echter war, sondern bloß ein Replikat, eine Nachbildung, und sie, die Fahrgäste, Testpersonen. Ab und zu hatte er Einfälle solcher Art. Er überlegte auch manchmal, dass das Zugfahren im Grunde auch eine Illusion sein könnte und die Scheiben nur hypermoderne Bildschirme, über die man den Fahrgästen suggerierte, sie würden fahren, weite Strecken zurücklegen, während sie in Wirklichkeit in einem Simulator saßen und… Und das war der Punkt, an dem er jedes Mal dieses Gedankenspiel abbrach, denn er befand sich beim Aussteigen ja unleugbar an einem anderen Ort als beim Einsteigen…
Und ein Attrappenzug? Und wir als Laborratten? Für was? Und von wem sollte das alles ausgehen? Irgendwie war der Alkohol mit dafür verantwortlich, dass sich seine Lippen zu einem dümmlichen Grinsen verzogen und er kurz die Augen schloss. Er hatte manchmal aber auch komische Einfälle… Auf einmal fing alles an, sich leicht zu drehen, ihm wurde schlecht, und so öffnete er die Augen schnell wieder. Es gongte erneut, und die Frauenstimme sagte:
„Nächster Halt; Testodinain“ – und kicherte. Es klang unheimlich, und Jan lief ein kleiner Schauder über den Rücken.
Er sah sich um. Die alte Frau auf der anderen Seite schaute ebenfalls skeptisch umher, während Gabi nichts bemerkt zu haben schien.
„Kollegin“, sprach er sie an. Sie rührte sich nicht, lehnte immer noch mit geschlossenen Augen an der Scheibe, und jetzt glaubte er auch zu sehen, dass ihr Kopf ein Stück weit in das Material eingesunken war.
„Kollegin!“
„Hmwas?“ Sie fuhr auf, und Jan bemerkte erleichtert, dass sie mit dem Kopf nicht festklebte. „Was is’n? Sin’ wir schon da? Oh… ich muss eingenickt sein, tut mir Leid…“
„Kein Problem. Hast du das gerade gehört?“
„Was’n?“
„Die Ansage? Die Frau hat gekichert.“ Gabi musterte ihn, so als wollte sie herausfinden, ob er versuchte, sie zu verschaukeln.
„Mhnein“, sagte sie dann schließlich etwas zögernd. „Gekichert?“
„Ja-“, er verschwieg ihr den Unheimlichkeitsfaktor, „und auch die Station, die sie gesagt hat; Testodinain-“, er zeigte auf das Display an der Rückwand, das die Buchstaben zeigte, „Erinnerst du dich an die?“
„Äh, nein, ich glaub’ nicht, aber das will bei mir nich’ viel heißen…“, entgegnete sie, und ihr Tonfall verriet, dass dieses Thema sie weniger interessierte als die Aussicht, weiterzudösen. Also brummte Jan nur und winkte ab.
„Egal.“
„Ok.“ Sie schloss wieder die Augen, und der Kopf sank ihr langsam und stückweise auf die Brust, während er sich, weil er sonst nichts zu tun hatte, in Gedanken weiter mit der seltsamen Ansage beschäftigte. Testodinain? Gabi und er waren diese Strecke an jedem Tag der Fortbildung hin- und zurückgefahren, aber dieser Name war ihm unbekannt. Die letzte Station war Bornheim gewesen, müsste dann jetzt nicht Wesseltal kommen? Er erhob sich, und trat an einen der angeklebten Fahrpläne heran. Dabei traf sein Blick den der alten Frau, und Jan glaubte, dass sie am liebsten ebenfalls aufgestanden wäre und nachgeschaut hätte. Fast fragte er:
„Kennen Sie diese Station?“, doch er ließ es bleiben. Er betrachtete den Plan, zwinkerte ein paar Mal, bis er ihn scharf sah, und suchte dann die Linie ab. Da - Bornheim, und danach – Wesseltal. Er schaute noch einmal genauer hin, überprüfte die Stationen im näheren Umfeld, doch alles war so, wie er gedacht hatte. Was hatte also die Station Testodinain hier zu suchen? Und was war das überhaupt für ein komischer Name?
Vielleicht ist der Bahnhof neu, und die Station wurde auf den Plänen noch nicht eingefügt? Oder der Computer der Bahn ist falsch programmiert oder hat einen Fehler? Aber Ansage und Display stimmen überein – und was ist mit dem unheimlichen Kichern? Plötzlich verlangsamte sich der Zug, Bremsen kreischten, er verlor fast das Gleichgewicht, und setzte sich zurück auf seinen Platz. Gabi war wieder aufgewacht und sah ihn an.
„Na, was is’ los?“ Der Zug kam zum Stillstand.
„Mh, weiß nicht, die Station steht nicht auf dem Plan...“ In diesem Moment ging das Licht aus. Gabi japste erschrockenen nach Luft. Sie hörten, wie eine Tür am anderen Ende des Waggons, bei der alten Frau, aufging.
Das Licht fällt aus, aber die Türen gehen noch?, schoss es Jan durch den Kopf. Es folgte ein Moment vollkommener Stille.
„Kollege?“, fragte Gabi plötzlich flüsternd, „Kollege?“
„Ja?“
„Da ist nichts…“
„Was?“ Er wandte sich zu ihr. Sie hatte sich zur Scheibe gebeugt und starrte nach draußen, in die Dunkelheit.
„Da draußen ist gar nichts.“ Inzwischen hatten sich auch seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt, einzig die grünen TESTODINAIN-Buchstaben der beiden Displays im Waggon spendeten etwas Helligkeit. Auch er schaute nun nach draußen. Es stimmte. So wie es aussah, hatte der Zug auf offener Strecke gehalten – außerhalb des Zugs befand sich nur Wald.
Plötzlich hörten sie tapsende Schritte am anderen Ende des Wagens, es rumpelte, und eine kreischende, zittrige Stimme - es musste die der alten Frau sein - erklang:
„Oh mein Gott, wer sind Sie, was tun Sie da-
Nein, lassen Sie das, oh, oh, oh mein Gott, neiiin!“ Geräusche wie von einem Kampf ertönten, der Wagen bewegte sich leicht. Jan glaubte, außer der alten Frau ein Atmen zu hören – etwas ist durch die Tür hereingekommen – schoss es ihm durch den Kopf, und gleichzeitig ertönten Schreie und Gepolter aus anderen Teilen des Zuges. Adrenalin durchflutete seinen Körper. Er versuchte, zu erkennen, was drüben bei der Frau vor sich ging, doch sein Blick wurde von dem leuchtenden Display angezogen – dort stand nicht mehr TESTODINAIN. Die Buchstaben hatten sich umgestellt und bildeten jetzt ein neues Wort: DESTINATION.
Ein Anagramm! Irgendetwas an dem Wort war ihm gleich komisch vorgekommen, und auch das unheimliche Kichern der Ansagerin war nun wieder präsent.
Draußen aus dem Wald erklangen jetzt langandauernde, pfeifende Töne, wie Sirenen. Sie hatten etwas Durchdringendes und Fremdartiges an sich.
Gabi hatte sich nicht vom Fleck gerührt, als Jan aufstand und sich dem Fenster zuwandte.
Mag sein, dass ich überreagiere, vielleicht durch den Alkohol, aber…, dachte er, als er gegen die Scheibe trat. Das Material gab etwas nach und fing den Tritt auf. Gabi gab einen erschrockenen Laut von sich. Verdammt, was ist das für ein Zeug? Er trat noch einmal zu, kräftiger. Diesmal löste sich die ganze Scheibe aus dem Rahmen und fiel nach draußen. Kälte schlug herein. Das Poltern drüben hatte aufgehört und nun vernahmen sie ein Schnaufen. Er zog Gabi hoch.
„Großer Gott, was ist das?“, fragte sie aufgeregt. Sie zitterte.
„Weiß nicht, aber wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden!“ Er drängte sie weiter zur Fensteröffnung, doch sie drehte sich noch einmal um und schaute ihm über die Schulter.
„Oh Gott, es kommt, Kollege, es kommt!“
„Dann mach schnell!“, drängte er grob, und hob sie halb nach draußen. Anschließend schwang er ein Bein über den Rand, und riskierte noch schnell einen Blick zurück. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und nun erkannte er Konturen einer großen, leicht gebückten Gestalt, die die alte Frau, welche ohnmächtig zu sein schien - oder etwas Schlimmeres - an der Brust trug, wie manche Mutter ihr Kleinkind in einem Tragesack, und sich ihm näherte. Sein zurückschwenkender Blick glitt über das Display – DESTINATION - Ziel, Bestimmungsort - und dann ließ er sich fallen, landete bei Gabi auf dem Schotterbett der Gleise. Er griff nach ihrem Ellenbogen, und zusammen rannten sie in den Wald.
Während sie hastig Hand in Hand und jeweils den freien Arm schützend vor sich haltend einen leichten Hang erklommen, warf Jan einen Blick über seine Schulter zurück: Da stand der Zug, dunkel, mit ausgeschalteter Beleuchtung mitten auf der Strecke im Wald – eigentlich das Bild einer Panne, vielleicht einer defekten Elektronik - wären da nicht die unheimlichen pfeifenden Töne, deren Herkunft sich nicht ermitteln ließen, weil sie allgegenwärtig waren, und die panischen Schreie, die zu ihnen herüberhallten und sie weiter antrieben.
Hoffentlich schaffen es viele…, dachte er, als Gabi an seinem Arm ruckte.
„Kollege…!“, sie rief, schon etwas außer Atem, um die penetranten Töne zu übertreffen. „Guck mal…“ Er schaute wieder nach vorne, sah, worauf sie zeigte, und gleichzeitig wurden sie langsamer. In einiger Entfernung kam ein kleiner Lichtball auf sie zugeflogen und wich dabei geschickt Stämmen und Ästen aus.
„Was…“, begann Gabi, doch da war der Ball schon bei ihnen und Jan stieß sie zur Seite, wobei er selbst in die Flugbahn des leuchtenden Objekts geriet. Er hatte keine Zeit mehr, auszuweichen, und hielt intuitiv die Luft an. Der Lichtball drang in seine Brust und auf der anderen Seite wieder heraus. Jan wurde von Schmerz und einem fremdartigen, aufwallenden Gefühl überwältigt, und sackte stöhnend zusammen. Gabi stürzte zu ihm.
„Oh Gott, Koll…, Jan, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie panisch.
Nach einem Moment ließ der brennende Schmerz in seiner Brust langsam nach und ging in ein rhythmisches Pulsieren über, dafür verspürte er plötzlich den Drang, sich zu übergeben. Tränen standen in seinen Augen, und er nahm den Geruch nach Verbranntem wahr. Er würgte, aber es kam nichts, nur heißer Speichel, und er spuckte ein paar Mal aus. Dann richtete er sich zittrig auf und schaute an sich herab. An der Stelle, wo der Lichtball eingedrungen war, befand sich ein eingebranntes Loch in seiner Jacke. Hastig knöpfte er sie auf und zog den Pullover hoch. Für so etwas war es eigentlich zu kalt und zu nass, seine Finger waren schon fast komplett fühllos, aber das war jetzt egal. Er wollte wissen, was dieses Ding vielleicht angerichtet hatte. Er drehte sich weg, doch Gabi hielt ihn zurück.
Ungläubig starrten sie im diffusen Sternenlicht auf eine Wunde, die sich vor ihren Augen schloss und nichts zurückließ als eine leichte Rötung und ein einziges Blutrinnsal.
„Was zum…?“, entfuhr es Jan, während Gabis Lippen ein perfektes O formten. „Wie sieht’s hinten aus?“ Er drehte sich, und sie schob Jacke und Pullover hoch, um die Austrittsstelle zu begutachten.
„Genauso. Ein bisschen rot und etwas Blut… Mann, Jan…“, entfuhr es ihr, während er sich wieder umdrehte, „Die sind gerade in Zeitraffer verheilt - das ist wie in Science-Fiction!“ Trotz allem musste er kurz lächeln. Als ob Science-Fiction ein Film wäre, oder ein Buch. Aber sie hatte Recht. „Geht’s dir gut? Wie fühlst du dich?“ Er drückte ein bisschen auf der geröteten Stelle herum und atmete ein paar Mal mit tiefen Zügen.
„Es fühlt sich etwas taub an, und das Atmen geht irgendwie schwerer, so als würde ich nur durch ein Röhrchen Luft kriegen…“
„Oh, Jan…“ Sie griff nach seinem Arm.
„Es geht schon.“ Ein Gefühl von traumhafter Unwirklichkeit überkam ihn, und kurz war ihm schwindelig. War das gerade eben wirklich passiert? Die sirenenartigen Pfeiftöne zerrten an seinen Nerven, und dass sie lauter sprechen mussten, um sich zu verständigen, strengte an. „Das Ding ist durch mich durch… Oder? Ich meine, es ist quasi wie ein Geschoss glatt durch mich durch, oder?“
„Ich… äh… ja!“
„Meinst du, es hat das mit Absicht gemacht?“
„Was? Keine Ahnung, ich glaube nicht…“
„Und es ist wieder verheilt… Und täusche ich mich, oder kam einer dieser Töne aus dem Ding?“
„Ja…, kann sein, aber Jan, was…?“
„Ich habe keine Ahnung, Gabi. Aber guck – da sind noch mehr von den Dingern.“ Er machte seine Jacke wieder zu, und sie betrachteten einen Moment lang stumm die vereinzelten Lichtbälle, die an ihnen vorbei durch den Wald strebten, zu einem Punkt hinter ihnen.
„Jan?“, fragte Gabi zögernd und leise.
„Mh?“
„Diese Narben auf deiner Brust – wie ist das passiert? Wer hat dir so wehgetan?“
Er schwieg. Dann sagte er:
„Unwichtig.
Irgendwie hat das Ganze hier mit dem Zug zu tun. Lass uns weiter, weg von ihm.“
Sie setzten sich eilig wieder in Bewegung, waren jedoch noch nicht weit gekommen, als sie hinter sich raschelnde Schritte vernahmen, die schnell aufholten. Sie schauten sich im Laufen um, und bei dem Anblick, der sich ihnen bot, wurden sie wieder langsamer, denn das Wesen war agil und hätte sie in Kürze sowieso eingeholt.
Es ähnelte der Kreatur aus dem Zug, doch die Person, die es an seinen Leib gepresst hielt, war nicht die alte Frau, sondern ein Mann, dem die Brille noch völlig verrutscht im Gesicht hing und dessen Schal fast auf dem Boden schleifte. Es musterte sie aus überdimensionalen, leicht phosphoreszierenden Augen und schien einen Moment lang unschlüssig. Dann hob es den Kopf und stieß einen erschreckend lauten Schrei aus.
So müssen sich prähistorische Vögel angehört haben, dachte Jan zusammenhangslos. Ein ähnlicher Laut, gefolgt von weiteren raschelnden Schritten, erklang von irgendwo links. Eine zweite Kreatur tauchte aus der Dunkelheit auf, mühte sich mit einer übergewichtigen Frau ab. Plötzlich wurde Jan bewusst, dass die Kreaturen vier Arme hatten, von denen jeweils zwei die Personen an ihren Bäuchen (sofern sie welche hatten) umklammerten. Es folgte eine Art Streitgespräch der beiden Wesen in krächzenden Lauten, während sie wild mit ihren freien Armen herumfuchtelten und oft auf Jan, und auch einmal auf Gabi zeigten. Plötzlich hörten die beiden einen der Pfeiftöne schnell hinter sich anschwellen und ein Lichtball schoss zwischen ihnen hindurch. Das Wesen mit der dicken Frau griff mit Klauen nach ihm und drückte ihn in eine Art Anus, der in seinem Schulterbereich saß. Einen Moment lang wurde das Fleisch (wenn es welches war) des Wesens im näheren Umkreis von innen beleuchtet. Es war durchsichtig und mit schwarzen Fäden durchzogen, und außerdem schien etwas unter seiner Oberfläche zu wabern. Dann verblasste der Schein, und auch der Ton erstarb. Die beiden Kreaturen stritten noch einen Augenblick, die dazugestoßene deutete mehrfach auf die dicke Frau in ihren Armen und zog schließlich schimpfend ab. Jan schaute ihr nach. Plötzlich vernahm er schräg hinter sich einen Schlag und wurde umgerempelt. Er rappelte sich wieder auf und sah, wie sich das andere Wesen ebenfalls aus dem Staub machte – mit Gabi in einem seiner Arme.
„He!“, rief er, und begann, die Kreatur zu verfolgen, „He - bleib stehen!“ Das Wesen war nicht sehr schnell, es mühte sich beim Laufen mit den beiden reglosen Körpern ab, die immer wieder herunterzufallen drohten, doch schon bald bekam Jan Atemnot, und musste keuchend stehenbleiben.
„Verdammt“, murmelte er, während er auf der Stelle herumdrückte, wo der Lichtball ihn durchdrungen hatte. Vor ihm lag ein Ast im nassen Laub.
„Bleib stehen - du – Scheißvieh - hab ich gesagt!“, schrie er wütend, schleuderte den Ast nach dem Wesen, verfehlte es aber um mehrere Meter. Verzweifelt nach Luft schnappend schaute er ihm nach, bis es nicht mehr zu sehen war.
Nach einer Weile hatte sich sein Atem wieder beruhigt, und er begann, zügig in die Richtung zu traben, in der die Kreatur verschwunden war.
Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war, hatte aber das Gefühl, es müsse sich um Stunden handeln. Inzwischen hatte es aufgehört zu nieseln und die Gegend um ihn herum war hügeliger geworden, hier und da ragte Fels aus dem Boden. Er erklomm gerade eine Erhebung, ein kleines Tal tat sich vor ihm auf, als der Schmerz in seiner Brust plötzlich wieder aufloderte. Jan krümmte sich am Boden, bis der Schmerz wieder in das kontinuierliche Pochen überging. Es hatte eingesetzt, als er gesehen hatte, was sich in dem Tal befand; nämlich ein Höhleneingang mit einem dieser Monster davor. Er wusste nicht, ob die Kreatur ihn bemerkt hatte, und so kroch er vorsichtig auf allen Vieren hinter einen Baum und schielte an ihm vorbei. Das Wesen lief nur ein bisschen auf der Stelle herum, doch der Höhleneingang - war weg. Jan blinzelte. Hatte er sich die Öffnung in dieser fast senkrechten Felswand etwa nur eingebildet? In seiner Brust zuckte es. Geistesabwesend griff er nach der Stelle und rieb, während er angestrengt auf den Fels starrte. Plötzlich war der Höhleneingang wieder da, ebenso wie der Schmerz in seiner Brust.
Kann ich ihn etwa nur sehen, weil mich dieses Ding erwischt hat?, fragte sich Jan. Er blieb liegen, wo er war, und versuchte vergeblich, Erklärungen für dieses Phänomen zu finden. Auf einmal brach etwas weiter links eine andere Kreatur durch die Bäume, mit der an sich gedrückten, schlaffen Person erinnerte sie ihn an ein Känguru, und verschwand in der Felsöffnung. Handelte es sich bei ihr vielleicht um den Eingang zu den Viechern? Die Kreatur, die sich davor herumdrückte, machte jedenfalls ganz den Eindruck einer gelangweilten Wache.
Durch Herumliegen würde er nichts herausbekommen, sondern höchstens noch entdeckt werden, und so arbeitete Jan sich Baum für Baum weiter zu der Höhle heran und verharrte schließlich. An dem Wesen würde er nicht ungesehen vorbeikommen, dafür bewegte es sich zuviel und zu unberechenbar. Er musste es ausschalten.
Vor dem Baum, hinter dem er kauerte, lag ein handliches Stück Fels, und als die Kreatur ihm das nächste Mal den Rücken zudrehte, wagte er sich halb aus seiner Deckung und schnappte es sich. Dann wartete er wieder einen geeigneten Augenblick ab, sprintete los, und schlug der herumfahrenden Kreatur mit voller Kraft den Stein auf den Kopf. Das Wesen fiel mit einem kehligen Stöhnen zu Boden und rührte sich nicht mehr. Der kurze Sprint hatte Jan wieder aus der Puste gebracht und während er wieder zu Atem kam, schwebte ein flaches, rechteckiges Objekt, das aussah wie Milchglas, aus der Höhle über den Boden hin zu der bewusstlosen Kreatur. Dort vergrößerte es sich etwa auf deren Maß, verwandelte sich damit in eine Bahre, und schob sich unter den Körper. Anschließend verschwand es mit seiner Fracht wieder im Fels.
So kümmern sie sich um ihre Verletzten? Sehr praktisch und effektiv. Unsere Krankenwagen sollten sich ein Beispiel daran nehmen, dachte Jan. Er beschloss, sich auf seine Ziele zu konzentrieren, a) Gabi finden und b) Herauskriegen, was zur Hölle hier überhaupt vor sich ging, und sich über nichts mehr zu wundern, was in dieser verrückten Nacht vielleicht noch alles passieren mochte.
Vielleicht haben sie so ein System auch für ihre Polizei… Ich sollte mich besser schleunigst aus dem Staub machen!, dachte er, und betrat den Höhleneingang.
Schon nach ein paar Schritten konnte er nichts mehr sehen.
Wenn ich doch nur etwas Licht hätte, dachte er, während er sich mit ausgestreckten Armen vorantastete. Wie auf Kommando zuckte es kaum merklich in seiner Brust und plötzlich schwebte eine kleine leuchtende Kugel, wie ein Glühwürmchen, vor ihm. Erschrocken zuckte er zurück, weil er glaubte, wieder einen dieser Kamikaze-Lichtbälle vor sich zu haben, doch das kleine Objekt rührte sich nicht vom Fleck und pfiff auch nicht. Jan betrachtete es, doch es leuchtete zu hell, um erkennen zu können, was genau es war. Jedenfalls tauchte es seine Umgebung in klares Licht und enthüllte einige Öffnungen, die vom Gang abzweigten. Vorsichtig setzte Jan seinen Weg fort. In der Ferne hörte er ab und zu Pfeiftöne.
Ist ja schön, dass das Glühwürmchen jetzt da hängt, aber es würde mir mehr nützen, wenn es mir folgen würde, dachte er, als er den hellen Lichtkreis verließ, und als hätte das Objekt ihn gehört, folgte es ihm.
Kann das Ding Gedanken lesen? – Da rüber, dirigierte er, während er in einen Nebengang schaute, und das Licht folgte prompt seinem Wunsch.
Aus, dachte er. Das Leuchten erlosch.
Wieder an. Es entflammte wieder. Jan schüttelte den Kopf. Abgefahren. Doch er hatte jetzt weder Lust noch Zeit für solche Spielereien. Anscheinend waren diese Viecher technologisch weit fortgeschritten, auch wenn sie anscheinend in Höhlen lebten, doch das half ihm nicht dabei, Gabi wiederzufinden. Er setzte seinen Weg in dem Hauptgang fort.
Es schien sich um ein riesiges Höhlensystem zu handeln. Dauernd kam er an Abzweigungen vorbei. Aus manchen drang etwas Licht oder Geräusche, andere waren dunkel und leer. Nach kurzer Zeit dirigierte er sein Glühwürmchen fast gänzlich automatisch und intuitiv. Ein paar Mal hörte er sich nähernde Schritte oder kehlige Stimmen, woraufhin er es schnell löschte und sich hinter Ecken verbarg, bis die Gefahr vorüber war.
Im Nachhinein fragte er sich, ob es tatsächlich Zufall gewesen war, dass er schließlich auf ebendiese grausige Höhle gestoßen war, oder ob vielleicht das Glühwürmchen mit der Zeit gemerkt hatte, dass er anders war und ihn deswegen in die Falle gelockt hatte. Jedenfalls bog er letztlich ein paar Mal ab und stand plötzlich in ihr.
Den Mittelpunkt der Höhle bildete eine Apparatur, die Jan im ersten Moment an eine Gruppendusche erinnerte: ein Stamm aus Rohren stand dort, die Enden, auf denen duschbrauseähnliche Köpfe saßen, jeweils nach unten gebogen. Darunter befanden sich Liegen, aus demselben Material wie die Bahre vom Höhleneingang, mit dem einen Ende etwa auf Gürtellinienhöhe an dem jeweiligen Rohr befestigt, das andere auf dem Boden. Und auf diesen wiederum: nackte, aufgeschlitzte Menschen, Männer und Frauen. Tote Menschen, wie Jan erst dachte, doch die Wahrheit war noch um einiges schlimmer.
Die Körper waren allesamt mit einem sauberen Schnitt vom Brustbein bis zur Schamgegend geöffnet und die überflüssigen Hautlappen zur Seite umgeschlagen worden, wie Seiten eines Buchs. Die ganze Szenerie wurde von mehreren der Glühwürmchenobjekte erhellt. In den tristen Farben, grauer Fels und Erde, die blassen, milchigen Liegen, stachen das rohe, rote Fleisch, die weißen Knochen und die feucht-glitzernden Organe in dem kalten Licht überdeutlich hervor. Ebenso wie die Augen der Menschen, das einzige, was sich momentan in dem Raum bewegte. Alle drehten sich zu Jan, starrten ihn an. Aus ihnen sprach, nein, kreischte, unbändige Qual. Mit einem leisen, zischenden Geräusch wurden weiße Partikel aus einem der Duschköpfe ausgestoßen und sanken langsam wie Schnee in einen der offenen Körper.
Eiskaltes, betäubendes Entsetzen hatte Jan von hinten professionell in den Klammergriff genommen. Er war außerstande zu denken oder etwas anderes als diese brutale Umarmung zu spüren, aus der es kein Entrinnen gab. Auf gefühllosen Beinen machte er ein paar stockende Schritte in den Raum, nachdem er sich erinnert hatte, wie das ging; einen Fuß nach dem anderen. Plötzlich sah er Gabi. Sie lag rechts, und er steuerte seinen Körper etwas um die zentrale Apparatur herum, bis er zwischen ihr und einem älteren Mann stand. Aus den Augenwinkeln sah er eins der Wesen, das vorher von der Apparatur verdeckt worden war; es stand über eine der Liegen gebeugt und richtete sich nun auf, um die Apparatur nach links zu umrunden; es hatte ihn noch nicht bemerkt. Es war Jan unangenehm, Gabi so im wahrsten Sinne des Wortes hüllenlos zu sehen. Er spürte, wie der dunkle Haarbusch zwischen ihren Schenkeln seinen Blick anzog, doch er schalt sich selbst:
Lass das, du verdammtes Tier! Wie kannst du nur… In dieser Situation… Du bist echt das Letzte, Dreck bist du…, und ignorierte ihn, als er sie betrachtete. Auch sie war aufgeschnitten und aufgeklappt worden: zwei Hautlappen, unter denen ihre Brüste ein Stück weit hervorragten, lagen neben ihr, auf ihren Armen. Er konnte ihr verzweifelt pumpendes Herz und die sich aufblähenden und zusammenfallenden Lungenflügel in dem Knochenkorb sehen. Er schaute in ihr ausdrucksloses Gesicht.
„Gabi“, flüsterte er, ein einziger, erstickter Laut. Ihre Augen wurden feucht, und sie öffnete sie etwas weiter und blinzelte.
„Oh, Gabi…“ Sie blinzelte heftiger, zwei Tränen rannen ihre Wangen hinab, und riss die Augen noch weiter auf. Zu spät kam ihm der Gedanke, dass sie nicht blinzelte, um die Tränen loszuwerden, sondern um ihn auf etwas aufmerksam zu machen, etwas hinter ihm! Er fuhr herum – und wurde ohnmächtig.
Als Jan wieder zu sich kam, wurden seine schlimmsten Befürchtungen wahr – er schaute von unten direkt in einen der Duschköpfe. Und er war gelähmt, konnte sich nicht rühren! Egal, was er versuchte - sprechen, einen Finger bewegen, einen Zeh, den Kopf drehen – nichts funktionierte mehr. Das einzige, was er noch tun konnte, war die Augen bewegen und blinzeln. Er war ein Gefangener in seinem eigenen Körper.
Rechts und links neben sich konnte er gerade am Rande seines Gesichtsfeldes jeweils undeutlich einen roten Leib erkennen. Er versuchte, an sich herabzusehen, doch sein Kopf war nicht erhöht und so sah er nur wenig – aber das reichte: jeweils eine rote Ecke Haut lag auf seinen Schultern; auch er war aufgeschlitzt worden! Panik sprang in ihm auf wie ein Kastenteufel und suchte einen Weg, sich zu äußern; in einem Schrei, einem Verkrampfen, irgendwas. Aber da war nichts, es gab keine Möglichkeit! Nur ein paar Tränen, doch das war nicht befriedigend. Also verstärkte sie sich noch, tobte eine Weile in ihm, und flaute schließlich erschöpft wieder ab, ohne jedoch ganz zu verschwinden.
Jan versuchte herauszufinden, ob er Schmerzen hatte. Merkwürdigerweise war das nicht ganz leicht, denn er fühlte sich benebelt, so als hätte er eine leichte Droge genommen, vielleicht ein paar Züge Hasch geraucht oder einige Biere getrunken. Er hatte auch nicht mitbekommen, auf welche Weise die Kreatur ihn ausgeschaltet hatte. Jedenfalls hatte er keine Schmerzen, stellte er jetzt fest, zumindest keine typischen. Er spürte nur diese Klaustrophobie, die Panik, die wie ein Hai dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins ihre Schleifen zog, und die Oberseite seines Rumpfs, die sich unangenehm kühl und zugig anfühlte.
Jan wusste nicht, wie viel Zeit verging, aber er spürte, wie die Benebelung langsam nachließ und der Schmerz zunahm, bis die beiden die Plätze getauscht hatten; die Oberseite seines Rumpfs brannte jetzt, als wäre sie mit Sandpapier aufgescheuert worden. Auch seinen treibenden Herzschlag nahm er jetzt viel deutlicher wahr; es pulste in seinen Ohren.
Gib dir keine Mühe, alter Gefährte, sandte er an seinen Körper, das hier kannst du nicht reparieren. Und nüchtern dachte er weiter: Ich werde sterben. Das hier sind die letzten Minuten meines Lebens... Aber seltsamerweise verspürte er keine Trauer, keinen Zorn, nur eine kribbelnde Aufregung. Es gab sehr wenige solcher Momente, doch in diesem Augenblick war er froh darüber, dass er keine Frau hatte, der er und die ihm fehlen würde, und keine Kinder, die nun ohne ihren Vater würden aufwachsen müssen, wie es auch sein eigenes Schicksal gewesen war.
Schon solange er denken konnte, hatte er mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Manchmal, während der schlimmen Phasen, wenn jede Bewegung, jedes ausgesprochene Wort so kräftezehrend wie ein Bergaufstieg war, konnte er nur zusammengekrampft und sich windend und schluchzend daliegen. Sein Herz tat dann vor Traurigkeit so weh, dass er mit seinen Fingern sein Brustfleisch malträtierte, kratzte, bohrte und kniff, einfach, weil es sonst vor Kummer zerspringen würde. Daher die Narben, die Gabi bemerkt hatte.
Natürlich hatte er sich während dieser Phasen, in denen einfach alles wertlos war, auch mit Selbstmord beschäftigt, aber es gab einfach keine saubere Lösung und auch keine, bei der er nicht möglicherweise einen oder mehrere andere Menschen traumatisieren würde. Außerdem wäre der Schmerz, den er dadurch bei den wenigen Menschen, denen er etwas bedeutete, schaffen würde, größer als sein eigener, jetziger. Wenn sein Leben nur ihm gehören würde und nur ihn etwas anginge, sähe die Sache anders aus, aber es gehörte ihm nicht. Es gehörte Gott, Verwandten, Freunden, sogar Fremden. Nur ihm selbst nicht.
Aber so, wie es jetzt aussah, brauchte er sich darüber keine Gedanken mehr zu machen, denn er würde hier aufgeschlitzt und paralysiert bei diesen Monstern unter der Erde sterben. Und schon in einigen Jahren würde es keine Spuren mehr von ihm geben; es würde sein, als wäre er niemals auf der Erde gewesen. Und das war vollkommen in Ordnung. Er hatte sich nie sonderlich verbunden mit der Welt gefühlt, und glaubte, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Nabelschnur, die ihn mit ihr verband, war im Laufe seines Lebens immer mehr verkümmert.
Die seltsame Beneblung war inzwischen nach und nach vom Schmerz seines Rumpfs verdrängt worden, der inzwischen so stark war, dass Jan die Augen zusammengekniffen hatte und nicht mehr klar zu denken vermochte. Das krampfhafte, immer stockendere Pochen seines geschundenen Herzens erinnerte an einen Läufer, der nicht mehr konnte und sich bei jedem weiteren Schritt näher mit dem Gedanken ans Aufgeben anfreundete. Durch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das dumpfe Wummern hörte er ein Zischen, und öffnete die Augen. Es schneite. Aus dem Duschkopf über ihm sanken weiße Partikel herab, wie er es vorhin an anderer Stelle beobachtet hatte. Und wenn er eben noch gedacht hatte, er hätte starke Schmerzen, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Die Flocken rieselten in seinen offenen Körper, und das war Schmerz! Es fühlte sich an wie winzige Tröpfchen ätzender Säure, die sein Fleisch zischend und dampfend zersetzten, oder wie ein Miniaturschauer aus glühenden Meteoriten, die kauterisierend Krater in seine Organe rissen… Doch neben der Wahrheit mussten alle Metaphern versagen sowie farblos und schal erscheinen.
Plötzlich rückte der Schmerz jedoch in den Hintergrund, wie dieser Piepton, den man manchmal im Ohr hat, und auf einmal fühlte sich Jan leichter und immer leichter, er schien sogar aufzusteigen. Dass er das wirklich tat, bemerkte er jedoch erst, als er seinen Körper unter sich liegen sah. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, was geschehen war; er hatte seinen Körper verlassen und befand sich nun über ihm, im Schneefall. Dokumentationen über Nahtoderfahrungen, in denen Menschen über dieses Phänomen berichteten, fielen ihm ein. Doch keiner von ihnen hatte erwähnt, dass es sich so anfühlte, als ob man eine schwere Last losgeworden war und sich leicht fühlte wie nach einer richtig guten Massage, dass körperliche Einschränkungen und Bedürfnisse wie essen und trinken, ausscheiden, Pflege, schlafen, die Libido, einfach wie weggeblasen waren – was für ein angenehmer Zustand! Das einzige Unangenehme, was Jan verspürte, waren diese Schneeflocken. Sie fielen nicht durch ihn hindurch, sondern legten sich auf ihn, und sie hatten etwas Klebriges, Bindendes. Er spürte, wie etwas ihn anzuziehen begann wie ein schwacher Magnet, doch die Klebrigkeit hielt ihn gefangen.
Er war nun also anscheinend kein Geist – doch was war er dann? Seine Seele vielleicht? Oder wäre sein Sein eine gute Formulierung?
Plötzlich veränderte sich das Zischen des Duschkopfs über ihm zu einem Saugen, und der fast physische Sog, ein anderer, als der magnetische im Hintergrund, erfasste Jan in seinem neuen Zustand, und zog ihn ins Innere des Duschkopfs. Ein paar mechanische Geräusche erklangen, und dann – Stille. Dunkelheit herrschte. Offenbar war er wirklich kein Geist, denn er steckte in einer Art Zylinder, dessen Wände nicht durchlässig waren. Auch sie hatten diese klebrige Eigenschaft.
Der Zylinder wurde anscheinend dem Duschapparat entnommen und auf diverse Arten weitertransportiert. Jan vernahm keinerlei Geräusche von außerhalb seines Gefängnisses, spürte jedoch die Bewegung, die aber nur wenig Einfluss auf ihn selbst hatte.
Es verging eine lange Zeit, bevor der Zylinder wieder geöffnet wurde – viele Stunden, vielleicht sogar Tage, während denen Jan nur das magnetische Ziehen wahrnahm und viel Zeit zum Nachdenken hatte. Es fiel ihm erstaunlicherweise nicht sehr schwer, sein bisheriges Leben loszulassen, sich geistig von allem zu trennen. Er dachte an seine „Freunde“, die im Prinzip nur stereotype Abziehbilder ohne irgendetwas Wertvolles innen drin waren. Andererseits - um ein paar Menschen, die er kannte, war es natürlich schade.
Dann dachte er an seine ganze Habe in seinem Zuhause – Materie; wertlos, unwichtig. Gut, wenn er könnte, hätte er gerne noch ein paar seiner Angelegenheiten geregelt, aber im Prinzip – egal. Jetzt zählte endlich nur noch das wirklich Wesentliche von ihm, und was nun damit passieren würde.
Dann jedoch wurde der Deckel endlich weggenommen und Jan schaute direkt auf ein Wesen, das in einer Art Bett lag und den Zylinder über sich hielt und dabei schüttelte. Es hatte große Augen, die sonst intelligent wirken mochten, jetzt jedoch von Gier beherrscht wurden, einen langen Hinterkopf und Schultern, die fast so hoch reichten wie der Schädel. Sein Körper war lang und dünn, elegant, ebenso wie seine Gliedmaßen (es besaß zusätzlich einen kleinen Arm auf der Brust), und von grauschwarzer Farbe. Stellenweise war es mit einer Art Fell bedeckt. Jan erschrak über die Fremdartigkeit dieser Kreatur, erkannte aber, dass sie auf ihre Weise schön war. Dann bemerkte er, dass das Wesen seinen Körper mit einer Art Reißverschluss geöffnet hatte. Es sah ein bisschen so aus wie die Menschen auf den Liegen. In seinem Inneren arbeiteten Organe und dazwischen opake Objekte, die Quallen ähnelten, obwohl diese in gewisser Weise zu real für diesen Vergleich waren.
Es ist so was wie ein hoch entwickeltes Brückenwesen zwischen Grob- und Feinstofflichkeit!, dachte er.
Das energische Schütteln des Zylinders bewirkte, dass Jan herausrutschte und sofort von etwas zwischen realem Sog und Faszination erfasst wurde, was von diesem für ihn geöffneten Körper ausging. Dieses Etwas lud ihn mit einem Lächeln ein zu betreten, zu finden, zu empfangen, zu vergessen. Jan ließ es zu, dass er angezogen wurde, doch je näher er dem ungeduldigen Körper kam, desto klarer erkannte er, dass es sich um ein falsches Lächeln handelte, ein mechanisches, mit viel Lippenstift, das faulige Zähne und Mundgeruch offenbarte. Jetzt, wo es zu spät war, umzukehren (falls diese Möglichkeit je bestanden hatte) lud es ihn auch ein, aufzugeben, zu verlieren, loszulassen.
Er konnte den Zusammenhang nicht ganz nachvollziehen, doch plötzlich, innerhalb eines einzigen Lidschlags, erkannte er in diesem Augenblick die ultimative, schlichte Wahrheit des Lebens:
Die Welt war nichts anderes als eine Bühne, und die Menschen, ohne es zu wissen, Schauspieler. Eine Bühne, die mit Requisiten derart überfüllt war, dass viele der Akteure ihrer billigen Faszination und dem Irrtum erlagen, alles drehe sich um sie - warum wären sie sonst schließlich da? – und darüber den Plot des Stücks vergaßen.
Der Titel dieses Stücks, das seit der Erschaffung der Bühne vor gut 4,5 Milliarden Jahren bis heute lief, und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, lautete: „Fressen und Gefressen werden“. Sein Dramaturg war entweder ein Genie oder ein Wahnsinniger, denn er hatte ein paradoxes Anliegen: Neben Fressen und Gefressenwerden sollte gleichzeitig auch die Liebe Plot sein, obwohl diese Bühne mit diesem rauen Stück ein denkbar unpassender Platz für sie war. Die beiden Themen waren an einigen Stellen äußerst geschickt miteinander verknüpft und beeinflussten sich gegenseitig, und so lagen Fressen und Gefressenwerden und Liebe in einem ewigen Kampf um die Vorherrschaft, kalte und blutige, hackende Axt gegen warme und gütige, streichelnde Hand…
Das ist die Wahrheit, dachte Jan, erstaunt über seine Erkenntnis.
Mit der Liebe hatte er in seinem Leben nicht viel Glück gehabt, aber gefressen hatte er; massenhaft Tiere, was er bereute, aber auch im übertragenen Sinne: mit Worten, Gedanken, Gesten, Taten. Und immer war dabei jemand anderes gefressen worden, so verlangte es das Gesetz. Und noch viel öfter war er selbst gefressen worden. Trotzdem war er satt, sogar übersättigt. Er wollte nicht mehr fressen, er weigerte sich, war zu müde. Er wollte nicht mehr bei diesem grausamen Spiel mitspielen. Und wer aufgab, nicht mehr fraß, der wurde endgültig gefressen und verschwand damit von der Bühne – so einfach war das.
Jan hatte keine Ahnung, was er für dieses Wesen darstellte, vielleicht eine Droge oder so etwas Ähnliches, aber er wusste, dass es ihn fressen wollte. Auf welche Weise auch immer. Er war Rotkäppchen und dieses Wesen war sein Wolf. Nur würde es hier keinen Jäger geben, der ihn wieder aus dessen Bauch befreite.
Also dann, dachte er, es wird wahrscheinlich weh tun und schrecklich sein, aber zeig mir jetzt das Publikum, das sich dieses Stück, dieses Drama, über 4,5 Milliarden Jahre lang ansieht und anscheinend Gefallen daran findet, denn sonst wäre es doch sicher abgesetzt worden, und zeig mir die Stadt, in dem das Theater steht, und das Land, in dem die Stadt liegt, und die Welt, in der das Land liegt, und zeig mir den Himmel, der sich über all dem spannt, ja, zeig mir den Himmel…
Alles im Universum verändert von Zeit zu Zeit seine Form oder wechselt den Ort. Aber wirklich verloren geht nichts. Und so hatte Jan keine Sorge oder Angst, dass gleich alles einfach vorbei sein könnte, als die fremdartigen Innereien immer schneller auf ihn zugerast kamen und er in sie eintauchte…
Es tat weh und es war schrecklich. So schrecklich, wie Jan es sich nie hätte ausmalen können; es fühlte sich ein wenig an, wie wenn man inmitten einer Masse von Menschen, die man teilweise kannte und die einen angaffte, Stück für Stück bis zuletzt ausgezogen wurde, bis man nackt dastand und sich nicht bedecken konnte, nur tausendmal schlimmer. Ihm fiel ein Traum ein, den er im Laufe seines Lebens ein paar Mal gehabt hatte: Er lag nackt auf einem OP-Tisch, um ihn herum drängten sich Schlächter, alle mit blutbespritzten Schürzen und toten Augen, jeder mit einem Hackebeil, einem Messer, einer Säge, was auch immer bewaffnet. Und jeder von ihnen hackte, schnitt oder sägte einen Teil von ihm ab, Hände, Füße, die Extremitäten und den Rumpf teilten sie sich auf - doch er starb nicht und fühlte alles! Und anschließend tat jeder der Schlächter etwas mit seinem Stück; aß es auf der Stelle roh, kochte es, fror oder legte es in Salz ein, sezierte es.
Und er spürte alles, als sein Sein in dem fremden Organismus aufging und zerfaserte wie eine Silvesterrakete am nächtlichen Himmel, die eine neue Zeit ankündigt, als es seine Form veränderte und den Ort wechselte…
Während die innere Ekstase langsam wieder verebbte, lag das Wesen schwer atmend auf dem Bett, und als es nur noch eine konstante Euphorie verspürte, die es jetzt über einige Tage, vielleicht sogar Wochen, begleiten würde, schloss es seinen Körper wieder, stand auf und ging in eine andere Höhle zu seinem Weib. Es gab ihm einen Kuss und streichelte es kurz, dann legte es sich auf den Boden zu ihren beiden Kindern, strich ihnen über den Kopf und begann, hingebungsvoll mit ihnen zu spielen und Dinge zu erklären.