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Fremde Welten
Vorsichtig setzte er das kleine Papierschiffchen auf das Wasser. Kurz noch hielt er es fest und sah zu, wie sich die Strömung an seinem Rumpf teilte, sich ihren Weg vorbei bahnte und sich schließlich wieder traf und das Wasser munter glucksend weiter floss. Bevor das Papier aufgeweicht werden konnte, ließ er das Boot los und beobachtete, wie es von dem kleinen Bach mitgenommen wurde. Er sah seinem Schiff hinterher, wie es auf den Wellen tanzte und sich schnell entfernte.
In seiner kindlichen Fantasie stellte er sich vor, dass er selbst an Deck des Schiffchens stünde. Das Schiffchen wäre dann kein bloßes Papierboot mehr, sondern ein stolzes Segelschiff auf dem Weg, neue Welten zu entdecken. In eine solche Welt träumte er sich hinein. Eine Welt, die sich von der unseren nur darin unterscheidet, als dass dort allein seine Gesetze gelten. Die Gesetze, die der kleine Junge aufstellte.
In dieser Welt, in der er jetzt an Deck eines großen Dreimasters stand und aufs weite Meer blickte, warteten hinter der Biegung des Baches neue Kontinente. Länder von denen man nur aus Geschichten wusste, in denen wilde Völker lebten und die nur die mutigsten und erfahrensten Abenteurer je betreten hatten. Diese Länder waren plötzlich ganz nah. Aus dem Ausguck erschall der Ausruf „Land in Sicht!“ und sofort herrschte reges Treiben an Deck. Alles eilte zur Reling, um einen Blick auf die Silhouette des Berges zu erhaschen, der sich sanft am Horizont abzeichnete. Seile wurden fallen gelassen, der Küchenjunge unterbrach das Kartoffelnschälen und auch die beiden Streithähne auf dem Achterdeck hielten kurz inne. Jeder wollte das Ziel der Reise sehen. Jenes Ziel, wegen dem sie nun schon seit Wochen unterwegs waren, wegen dem sie ihre Familien daheim zurücklassen mussten und die Ungewissheit einer Reise in die Fremde auf sich genommen hatten. Der Junge kannte den Berg. Er hatte ihn in seinen Bilderbüchern schon oft betrachtet und konnte seinen Umriss mit geschlossenen Augen genau nachzeichnen.
Als das Faltschiffchen von der Strömung ins Ufergestrüpp getragen wurde und sich dort in den herunterhängenden Ästen verfing, brach auf Deck Unruhe aus. Sie waren auf ein Riff aufgelaufen! Schon nahm das Schiff eine bedrohliche Schräglage ein, Wellen fraßen an den Seilen, die bis eben ordentlich aufgerollt am Boden gelegen hatten. Plötzlich schrieen und liefen alle durcheinander. Keiner schien die Rufe des Kapitäns zu beachten, der vergebens versuchte, für Ruhe zu sorgen. Das Schiff neigte sich immer mehr und als schließlich das Wasser begann, in die Kajüten vorzudringen, rettete der Junge sein Boot vor dem Untergang, indem er es aus dem Wasser fischte, ausleerte und wieder in die Mitte des Baches setzte.
Bei strahlendem Sonnenschein konnten die Matrosen das Wirrwarr auf Deck wieder in Ordnung bringen, der Steuermann korrigierte den Kurs und der Junge konnte wieder seinen Beobachtungsposten an der Reling einnehmen. Die Mannschaft schätzte ihn als Experten für fremde Welten und brachte ihm trotz seines jungen Alters viel Respekt entgegen. Friedlich segelte der Dreimaster der fernen Küste entgegen. Allmählich wurden mehr Details sichtbar, der Dunst verzog sich und der Junge beobachtete aufgeregt, wie der Berg immer größer wurde. Sanft landete das Schiff schließlich am flachen Strand und der Junge eilte den Bach entlang zu der kleinen Kiesbank, auf der sein Boot nun lag. Er sah, wie die Mannschaft alles bereitstellte, was für den Landgang benötigt wurde, beobachtete, wie die Güter vom Schiff an den Strand gebracht wurden und wie schließlich am Waldrand einige Zelte aufgestellt wurden, die dem Expeditionstrupp in den letzten Nächten vor dem Aufbruch ins Landesinnere ein Dach über dem Kopf bieten sollten.
Der Junge bezog ein großes Zelt für sich alleine. Noch einmal sortierte er seine Ausrüstung, las in den Aufzeichnungen, die er aus der Heimat mitgebracht hatte, alles nach, was über dieses ferne Land bisher bekannt war und fieberte dem Aufbruch entgegen. So vertieft war er in seine Bücher, dass er sich auch nicht durch den kühlen Luftzug irritieren ließ, der entstand, als die Eingangsplane seines Zeltes zurückgeschlagen wurde. Erst als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte, zuckte der Junge zusammen und blickte auf. Er sah seinem Vater ins Gesicht, der sich zu ihm herab beugte und mit sanfter Stimme sagte: „Das Mittagessen ist fertig. Deine Mutter wartet.“
Also erhob der Junge sich von seinem Feldbett und suchte den Kapitän zwischen all den herumeilenden Mannschaftsmitgliedern. Er schilderte ihm, warum er sich zu einem raschen Aufbruch ins Landesinnere gedrängt sah – schließlich kündeten die dunklen Wolken am Horizont von einem drohenden Unwetter. Schnell wurde das Schiff bereitgemacht, wieder in See stechen zu können und die Matrosen gingen wieder an Bord. Zurück blieben nur der handverlesene Expeditionstrupp, der Bootshund, der sich den Jungen gleich nach dem Auslaufen aus dem Heimathafen zum neuen Herrchen erkoren hatte, und der Junge selbst. Die Seile, die den Segler am Strand vertäut hatten, wurden gekappt, die Segel gehisst und langsam nahm das Schiff an Fahrt auf. Der Junge und seine Truppe blieben am Strand zurück und blickten ihren Kollegen hinterher, die sie in einigen Wochen hier wieder abholen sollten.
Der Junge sah dem Schiffchen nach, bis es hinter der nächsten Biegung des Baches verschwunden war. Als sein Vater ein wenig zurücktrat, um unter einem Baum auf den Jungen zu warten, zerbrachen unter seinen Schritten krachend einige Äste. Exakt acht dieser Salutschüsse hörten die am Strand zurückgelassenen Abenteurer als letzten Gruß aus der Bordkanone des Dreimasters. Dann wurde auch die Spitze des Großmastes vom Horizont verschluckt und das Meer war wieder leer bis auf ein paar Möwen und die Wolken am Himmel.
Der Junge wandte seinen Blick vom weiten Meer ab, drehte sich um und lief zu seinem Vater. Er ergriff seine Hand und gemeinsam gingen sie die Wiese hinauf zum Haus, wo die Mutter mit dem Essen wartete.