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Fremde Therapie

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19.03.2002
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Fremde Therapie

Fremde Therapie

Frau Fein schüttelt mir die Hand und schaut mich einen Moment an.
Ob sie gerade in mir liest, frage ich mich.
Sie schiebt ein leeres Rezept in den Drucker und nach ein paar Tastendrücken fängt die Maschine an zu rattern.
Lachend reicht sie mir den rosa Zettel und öffnet mir die Tür.
„ Auf Wiedersehen, bis zum nächsten mal, und vorsichtig mit den Tabletten sein“
Ich werfe einen Blick auf das Rezept. „Cipramil“ steht da drauf, und ich begrüße Cipramil in Gedanken, denn jetzt habe ich wohl langsam die ganze Familie der Antidepressiva kennengelernt, und auch die näheren Verwandten genannt „ Nebenwirkungen“.
Ich bin schon mal gespannt, was diese Pillen für eine Überraschung für mich bereithalten.
Im Wartezimmer will ich meine Jacke vom Kleiderständer nehmen, da spricht mich ein junges Mädchen an, was auf ihre Stunde bei Miss „ich kenne deine Seele besser als Du“ wartet.
Entschuldigung, aber ist die Alte da drinnen nett? fragt sie mich und zieht beim Reden ihre rechte Augenbraue hoch und schaut mich irgendwie verdutzt an.
Sie ist vielleicht vierzehn, hat das ganze Gesicht voller Ringe und kaut laut schmatzend ein Kaugummi.
„Eigentlich ist sie so Ende dreißig, also noch nicht so alt, aber ich mag sie.“ entgegne ich ihr und will gerade zur Tür raus, als sie mich wieder anspricht.
„Was hast Du denn, warum warst Du bei ihr.“ fragt sie interessiert.
„ Du ich muss gehen, ich habe keine Zeit für Smalltalk. sage ich.
„ Ach komm schon, ich bin einfach neugierig.“
Irgendwie hat dieses Mädchen etwas freches, aber auch unschuldiges an sich, also setze ich mich neben sie und sage: „ Ich gehe zu ihr, weil ich depressiv bin, schon ganz schön lange, aber irgendwie wusste ich den Kram den sie erzählt schon vorher, weißt du ich glaube nicht an Psychotherapie. Ich gehe nur dahin, um meine Familie zu beruhigen. Frau Dr. Fein ist nett, aber es hilft nicht, deshalb verschreibt sie mir immer nur Pillen, ich bin schon süchtig nach den Dingern, und von den Nebenwirkungen fühle ich mich wie ein Zombie. Aber warum erzähle ich Dir das, ich habe gerade schon eine Stunde geredet, und das hat mir gereicht.“ sage ich und will aufstehen.
„ Ich habe versucht mich umzubringen, schon zwei Mal.“ sagt sie in einem derart gelassenen Ton, als erzähle sie von einer Klassenreise.
Ich setze mich wieder hin und höre ihr zu.
„ Weißt du erst ist mein Vater gestorben und dann hat mein Bruder diesen beschissenen Krebs gekriegt und als ich auch noch in der Schule sitzen geblieben bin, da hatte ich die Schnauze voll, und hab mir die Adern aufgeritzt. Meine Ma hatte mich noch rechtzeitig gefunden, und einen Krankenwagen geholt, also hab ich überlebt.“ sagt sie und scheint dabei kein bisschen nachdenklich zu werden.
„ Darf ich Dich fragen wie alt Du bist“ frage ich sie.
„ Vierzehn, in drei Monaten werde ich fünfzehn, und dann nur noch ein Jahr und ich bin sechszehn, ist ja auch nicht mehr so lange, also tu doch so als wäre ich sechszehn, das ist cooler. Weißt du in meiner Schule bin ich immer die Selbstmord Tussi, und jetzt denken die immer ich würde mich im Unterricht umbringen.“
Sie wirkte auf den ersten Blick so naiv und so kindlich, doch sie war schon weiter als ich dachte, jedenfalls mit dem was sie erlebt hatte.
„ Ich bin jetzt dreißig und ich habe auch schon mal über Selbstmord nachgedacht, eine Zeit lang sogar jeden Tag, doch ich war zu feige, war vielleicht auch ganz gut so, sonst hätte ich nie eine so tolle Familie wie ich jetzt habe. Eigentlich geht es mir besser als damals, als alles anfing. Man kann sagen ich habe Fortschritte gemacht, aber irgendwie bin ich diese Zustände immer noch nicht richtig los. Manchmal wenn ich es überhaupt nicht gebrauchen kann bekomme ich Angstzustände und mein Körper lässt sich von meiner Seele steuern, und ich fühle mich als wenn ich sterben muss.“ sage ich zu ihr, und merke wie gut es tut mit ihr zu reden, auch wenn es nur kurz ist, aber es ist anders als mit Frau Dr. Fein.
„ Das Gefühl kenne ich, es frisst einen auf, sage ich immer, denn ich fühle mich dann so klein und hilflos als wenn Teile von mir verloren gehen und ich sie nicht mehr zurückholen kann.“ sagt sie und guckt zur Decke hoch.
Wieder hebt sie ihr Augenbraue an und beißt auf ihre Lippe.
Einen Moment lang herrscht Stille im Wartezimmer und wir gucken uns nicht an.
„ Hast Du es noch einmal vor, oder denkst du noch oft darüber nach?“ frage ich sie und hoffe nicht zu weit zu gehen mit meiner Frage.
„ Nö, meine Mama hat mir so viel beigestanden, und sie hat gesagt, sie könne ohne mich auch nicht mehr leben, das hat mich irgendwie wachgerüttelt. Ich liebe meine Mama und will nicht das sie sich auch was antut. Aber sie will das ich diese Therapie mach, falls noch mal schwere Zeiten kommen, damit ich besser damit umgehen kann. Weißt Du, ich war schon bei fünf Therapeuten, alles Wichser, warum bist Du kein Therapeut geworden, Dich mag ich, mir gefällt Dein Kinnbart, du siehst aus wie ein Rockstar.“ sagt sie und grinst mich an.
„ Na dann würde das mit den Depressionen ja klischeemäßig passen.“ sage ich und wir müssen lachen.
Auf einmal öffnet sich die Tür und Frau Dr. Fein guckt heraus.
„ Lisa Müller, du kannst jetzt herein kommen.“ sagt sie
„ Na wenigstens sieht sie nett aus, vielleicht hast du ja recht und sie ist auch nett.“ meint sie und drückt mir einen Kuß auf die Wange.
Ich fühle wie ich rot werde und senke den Kopf.
Bevor sie hineingeht sagt sie: „ Danke für das Gespräch, das war nett, besser als diese doofen Illustrierten zu lesen, die im Wartezimmer liegen. sagt sie und schneidet eine Grimasse, die deutlich macht dass sie Illustrierte zum Kotzen findet.
„ Lass Dir nie sagen, es ist falsch Schmerzen zu haben oder über den Verlust von jemandem bestürzt zu sein, die wollen nur Geld machen, aber zieh das trotzdem durch, du liebst doch deine Mutter. sage ich und sie verschwindet im Gesprächsraum.
Einen Moment lang fühle ich mich gut, so als hätte ich etwas tolles vollbracht, dann wird mir klar was für eine komische Situation das war, und ich hoffe das waren nicht bloß Nebenwirkungen von irgendwelchen Pillen.
Ich geh in das WC und kühl mir das Gesicht. Ich schaue in den Spiegel und sehe mich.
Ganz egal wo ich in den Spiegel schauen werde, ich werde mich sehen, und ich muß damit klarkommen.
Hoffentlich schafft es das Mädchen, und wird glücklich denke ich mir und gehe nach Hause.
Als ich das Gebäude verlasse, schmeiße ich den rosa Zettel in den Papierkorb und nehme mir vor mit meiner Familie zu reden, da es langsam Zeit dafür wird.

[ 17.04.2002, 15:19: Beitrag editiert von: Elliott ]

 

Hallo Elliott,
erstmal herzlich willkommen auf KG.de! :prost:

Zu Deiner Geschichte:
Ein paar kleine Fehler sind mir aufgefallen, wie beispielsweise:

Ob sie gerade in mir liest frage ich mich.
"...liest, frage..."
Und eine Formulierung hat mich gestört:
kaut schnalzend ein Kaugummi.
Meinst Du vielleicht "schmatzend"?

Den Inhalt fand ich richtig gut. Der Gedanke, dass ein gutes Gespräch mehr hilft, als Mittel wie Cipramil oder auch andere Antidepressiva, Remotiva, etc. hilft, ist einfach wahr und gut umgesetzt. Ohne in Kitsch oder Selbstmitleidstiraden abzuschweifen, hast Du das verdeutlicht.
Schade fand ich jedoch, dass Frau Fein und die anderen Psychologen in dieser Geschichte als völlig unnötig dargestellt werden. Wenn sie natürlich nur Medikamente verschreiben, sind sie das auch, aber es gibt auch gute Fachkräfte, die die Notwendigkeit vom Zuhören erkannt haben.

Insgesamt ein guter Einstieg, Elliott.

Ansonsten ein Hoch auf die Selbsthilfegruppen!

Ugh

 

Hallo Bibliothekar,

danke erstmal für Deine Kritik.
Die zwei Punkte habe ich gleich verbessert.
Ich gebe Dir recht, dass es nicht nur Therapeuten gibt, die Medikamente verschreiben, doch in der Geschichte sollte das bei Frau Dr. Fein der Fall sein.
Die Figuren glauben nicht an die Therapie, was sie natürlich negativ darüber denken lässt, sonst wäre der eigentliche Sinn der Geschichte meiner Meinung nach, nicht richtig durchgekommen, nähmlich das Gespräch der zwei Patienten.

Danke nochmal,

Bis dann

ELLIOTT :D

 

Hallo Elliott,

gut, flüssig und spannend geschrieben; das Beste: Dein Anliegen, der Knackpunkt der Geschichte, steht im letzten Satz, das freut den interessierten Leser, weil die Spannung steigt, vor allem aber hilft es dem, der deiner Erkenntnis wirklich bedarf - der Paukenschlag am Ende wird ihm hoffentlich so lange in den Ohren dröhnen, bis er sich auf seinen Weg der Besserung gemacht hat.

Bin gespannt auf weitere Geschichten von dir.

Servus, Georg

 

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