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Fremde Straßen in fremder Stadt

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29.03.2015
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Fremde Straßen in fremder Stadt

Georg stand im Badezimmer vor dem über dem Waschbecken hängenden Spiegel. Mit beiden Händen am Waschbeckenrand gestützt, beugte er sich leicht nach vorn, näher zum Spiegel, und betrachtete sich im Silber des Glases. "Es muss sich etwas ändern". Er schaute sich noch ein Mal für einen Moment an, dann beugte er sich tiefer über das Waschbecken. Das Wasser überschwemmte seinen Kopf. Er schäumte eine Stelle an seiner linken Schläfe mit dem Rasiergel ein. Der Rasierhobel kam geradeso zwei Millimeter vom Ohr abwärts voran, als die Klinge gänzlich mit den Haaren verstopft war. Verärgert nahm er einen weiteren Schluck vom trockenen Rotwein aus der Flasche und wechselte die Klinge. Dann ging er in sein Schlafzimmer. Im Zimmer herrschte ein Chaos. Georg suchte hektisch auf dem zugemüllten Tisch nach einer Schere.

Die Schere erwies sich als hilfreich und schon bald konnte er seine Kopfhaut durch das stoppeliges Haar sehen. Der Kopf war mal mit helleren, mal mit dunkleren Streifen übersät, die durch zufällige Griffe der Schere entstanden waren. Er schäumte seinen Kopf erneut mit dem Rasiergel ein, diesmal ganz-flächig. Dann fuhr er mit dem Rasierer vom Kopfscheitel bis ganz nach vorn. Der Rasierer hinterließ einen hellen Streifen. In weniger als zehn Minuten hatte er einen komplett kahlen Kopf. Er fuhr mit der Handfläche drüber. Die Haut war immer noch kratzig und stoppelig. Georg wechselte erneut die Klinge und wiederholte die ganze Aktion. Nun schaute ihm ein völlig unbekannter glatzköpfiger Mann aus dem Spiegel entgegen. Er betrachtete sich noch eine ganze Weile, dann trank er den restlichen Wein aus und verließ das Bad.

Im Bett konnte er lange Zeit nicht einschlafen. Er dachte über das Schöne, über das Treue, über das grundlos Verlassene nach. "Keine Erklärung. Kein Hinweis. Ob ich mich wieder bei ihr melden sollte?"

Als er am nächsten Morgen endlich aus dem Bett kam, steuerte er, wie an jedem anderen Morgen auch, als erstes Ziel das Bad an. Das Sonnenlicht brach bereits durch das Fenster und erfüllte das relativ große Zimmer mit Licht, was das gesamte Bild nach einem fröhlichen Samstagmorgen aussehen ließ. Nach der Morgentoilette begab sich Georg in die Küche. Die Küche sah wie immer schrecklich aus. Das dreckige Geschirr stapelte sich auf dem dafür vorgesehenem Platz neben dem Gasherd und glich dabei einem skurrilen Kunstwerk. Es schien so, als versuchte er einen weiteren benutzten Teller, entgegen allen Gesetzen der Statik, auf der Fläche platzieren zu können, wodurch ein ziemlich groteskes, dennoch auf eine erstaunliche Art stabiles, Getürm aus dreckigem Geschirr entstand. Als es ihm doch nicht mehr gelang, den nächsten Teller darauf zu setzen, stellte er seine Sachen einfach auf dem Esstisch daneben ab, wodurch das Kunstwerk sich auch auf dem Tisch fortzupflanzen begann. Einem Pilz ähnlich schien es bald die ganze Küche einnehmen zu wollen.

Georg bereitete sich einen Kaffee auf polnische Art und begab sich, mangels freien Platzes in der Küche, zurück in sein Schlafzimmer. Dort legte er sich wieder in sein Bett und trank seinen Kaffee im Halb-liegen. Als der Kaffee zu wirken anfing und seine Gedanken klarer wurden, fing Georg an zu überlegen, wie der weitere Verlauf seines Tages auszusehen hatte. Er entschied sich dafür, das schöne Wetter zu nutzen und die Stadt, in der er neuerdings lebte, besser kennenzulernen.

Georg setzte sich an seinen Schreibtisch, auf dem bereits die Gelben Seiten lagen, nahm sich ein DIN-A4-Blatt aus dem Drucker daneben und schlug das Straßenverzeichnis auf. Er ging das Verzeichnis alphabetisch durch und schrieb sich je einen Straßennamen für je einen Buchstaben des Alphabets auf. Auf diese Weise bekam er eine überschaubare Straßensammlung, die gleichmäßig über die ganze Stadt verteilt war. Es kam ihm interessanter vor, ein Foto in der jeweiligen Straße aufzunehmen, anstatt einfach ein Häkchen auf der Liste zu setzen, zumal die kahlen Wände seiner neuen Wohnung hätten ein paar Bilder vertragen können.

Schon bald zählten die Reifen seines Fahrrads hastig die Steine der gepflasterten Straße ab, bis er schließlich "A.-Straße" in weißen, leuchtenden Buchstaben lesen konnte. Die erste Straße in seinem Katalog. Das blaue, Licht-reflektierende Schild war an einem sehenswerten Jugendstilhaus angebracht. Darunter hing ein weiteres Schild in weißer Farbe, mit schwarzer Aufschrift: "Arztpraxis".

Als Georg seine Kamera zog, ging die Tür der Praxis auf und ein Mädchen etwa seines Alters erschien im Rahmen der Tür. Sie schrie ihn an, beschimpfte ihn und verlangte schließlich, dass er verschwinden solle, sonst rufe sie die Polizei. Georg war verblüfft, packte seine Kamera wieder ein, sattelte sein Fahrrad und machte sich davon.

An diesem Tag besuchte Georg die meisten Straßen seiner Liste und machte einige Aufnahmen. Eine Gruppe der Straßen befand sich in einem entlegenen Teil der Stadt, und da es bereits dämmerte, entschied sich Georg, diese erst morgen aufzusuchen, um bessere Lichtverhältnisse für seine Aufnahmen zu haben.

Am nächsten Tag, gleich nachdem er das Bad aufsuchte, sich in der grotesken Küche einen Kaffee aufbrühte, auf polnische Art, um diesen dann im Halb-liegen in seinem Bett zu trinken, machte sich Georg wieder auf den Weg Richtung "A.-Straße". Er packte seine Kamera und die Straßenliste ein, und schon klapperten die wackligen Pflastersteine der Straße unter den Rädern seines Fahrrads.

Diesmal konnte er ungehindert das Haus mit der Arztpraxis im Erdgeschoss photographieren und erledigte auch die restlichen Straßen im abgelegen Stadtteil. Doch als alles im Kasten war, besuchte Georg erneut die "A.-Straße", anstatt direkt nach Hause zu fahren. Das seltsame Vorkommnis von gestern hatte ihn gewissermaßen intrigiert.

Erneut vor der Praxis angekommen betrachtete er das Haus in aller Ruhe. Er sah darin nichts Auffälliges, ein zwar schönes, aber ganz normales Haus von denen er mittlerweile einige in der Stadt gesehen hatte. Schon wollte Georg nach Hause fahren, als die Tür der Praxis mit leichtem und kurzem Kreischen aufging. Darin erschien das Mädchen von gestern.

Sie schien ihn nicht zu bemerken und machte sich mit schnellen und zielstrebigen Schritten davon. Doch kaum konnte sie ein Paar Schritte machen, da stolperte sie über einen ausgehebelten, auf der Straße liegenden Pflasterstein. Sie konnte noch geradeso ihren Fall verhindern, drehte sich um und schaute den Pflasterstein kurz an. Dann hob sie ihre Augen und bemerkte Georg.

Georg hatte sich bereits auf einen weiteren Angriff gefasst gemacht, doch diesmal sagte sie nichts, drehte sich wieder um und setzte ihren Weg fort. Georg rief ihr nach. Sie blieb stehen.

Auf sein Verlangen nach Erklärung erwiderte das Mädchen nichts und zeigte nur mit der von langen Ärmeln ihres Strickpullovers verdeckten Hand auf das Haus mit der Arztpraxis im Erdgeschoss. Nun konnte auch Georg es erkennen. An der Seite der Fassade, die nicht mit Efeu bewachsen war, zogen sich durch die dunklen Ziegelsteine der unverputzten Wand, überzogen von abgenutzter Farbe der unzähligen alten Graffiti, Linien von frischer gelber Farbe. Die Linien wurden zu Dreiecken, die Dreiecke wurden zu einem Stern.

Seitdem kam Georg jeden Abend zu der Arztpraxis, wartete auf sie und begleitete sie nach Hause. Zwar erfuhr er, dass sie Lena heißt und in der Praxis als Krankenschwester arbeitet, doch ansonsten waren ihre Gespräche spärlich und die meiste Zeit schwiegen sie. Lena war hübsch, emanzipiert und weiblich zugleich, klein und zierlich, als müsse sie permanent beschützt werden. Eine Falle für jeden Mann. An manchen Tagen hat Georg Lena nicht erwischt und stand bis spät in den Abend vor der Tür der Arztpraxis. Als er eine ganze Woche in Folge nicht auf Lena traf, entschied er sich, in die Praxis hineinzugehen und nach ihr zu fragen. "Eine Lena hat hier nie gearbeitet".

In dieser Nacht konnte Georg nicht schlafen. Er lag eine ganze Weile im Bett und wälzte sich von einer Seite auf die Andere ohne einschlafen zu können. Manchmal schlief er kurz ein, wachte aber sofort wieder auf, ohne es gemerkt zu haben. Er lag auf dem Rücken und richtete seinen Blick an die Decke. Er machte seine Augen zu und sah eine Dunkelheit. Er machte seine Augen auf und sah nach wie vor eine Dunkelheit, welche sich von der zuvor in keinster Weise unterschied. Licht ein, Licht aus. Augen auf, Augen zu. Alles, was von ihr in seinem Kopf geblieben war, war nur eine schemenhafte Silhouette. Die Schultern tief, die Augen klein. Wenn er jetzt einschliefe, hätte er noch sechs Stunden Schlaf... dann noch fünf... dann noch vier... Gegen halb fünf gab Georg seine Versuche einzuschlafen auf. Er stand auf, zog sich an und ging zum Fenster.

Der Himmel am Horizont färbte sich bereits in strahlendes Hellblau. Der neue Tag brach ein. Schon war die Sonne im Vormarsch, um eine weitere Stadt auf ihrem Feldzug zu erobern und nichts konnte sie aufhalten. Noch einen Moment, nur noch einen Augenblick und schon würde eine Armee von Lichtstrahlen durch die Straßen fließen. Schon bald würde das Licht in den Fenstern noch geschlossener Läden spielen und die Denkmäler und die Türme der leblosen Stadt würden anfangen, ihre langen Schatten auf dem Kopfsteinpflaster der Plätze der Stadt zu werfen.

"Es muss sich etwas ändern". Georgs Gedanken rasten. "Wo bleibt mein Mephisto, der mich blind macht, damit meine Augen es nicht mehr sehen? Wo bleibt mein Mephisto, der mich taub macht, damit meine Ohren es nicht mehr hören? Ein Phantom. Ein Phantom. Ich bin niemandes kleiner Held".

 

Hallo Morphin!

Danke für deine ermutigende Worte und konstruktive Vorschläge!

Vorne weg: über den "polnisch zubereiteten Kaffee" lässt es sich streiten. Meiner Meinung nach ist es eine schnelle Art den Kaffee zuzubereiten, indem man einfach einen Löffel gemahlenen Kaffee im heißen Wasser, direkt in der Tasse, aufbrüht. Andere nennen das den "türkisch zubereiteten Kaffee ", doch für mich ist der Kaffee auf türkische Art eher eine sehr aufwendige Art den Kaffee zuzubereiten (mehrmaliges aufkochen und abkühlen am Gasherd).

Es ist mein erster Text. Ich weiß nicht, ob mir alles gelungen ist, was ich mir vorgenommen habe. Was die Sprache angeht, habe ich mich für die Verwendung von Parataxen und für hohe Redundanz entschieden. Es sollte in einer sehr leicht verdaulichen und im Kopf bleibenden Sprache resultieren (eine sehr entfernte Anlehnung an biblische Sprache). Resultierte wohl eher in einem holprigen Text. Ich werde versuchen dieses Problem zu beheben.

Lena ist wohl der interessanteste Charakter in der Erzählung. Ich würde sie gern durch Handeln darstellen und nicht bloss durch die Beschreibung durch das allwissende Ich. Doch dann würde sie das phantomhafte verlieren. Es wird zwar nicht auf den Punkt gebracht, wer von den beiden ein Phantom (natürlich im übertragenen Sinne) ist, doch durch das Nicht-handeln von Lena, habe ich versucht einen Akzent zu setzen. Vielleicht versuche ich es mal eine Geschichte über Lena zu schreiben.

Vielen Dank und frohe Ostern!

Asasello

 

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