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Fremde Klänge
Ich höre sie, die fremden Klänge. Sie dringen auf mich ein, als ob sie sich mir mitteilen möchten. Unterschiedlich mag es sein. Zuerst laut und deutlich, dann wieder leise und unverständlich, bis Stille mich in den Wahnsinn treibt. Und wenn ich meinen Verstand verliere, schlage ich um mich. Doch passiert nichts. Weder kann ich sprechen noch mich bewegen. Nur in meinen Gedanken bin ich frei und muss mein Leid erdulden.
Ich mag die Dunkelheit nicht. Was habe ich getan, das ich diese Folter ertragen muss? Welche Schuld lastet auf mir? In Gedanken verbringe ich Stunden, bohre nach Informationen des längst Vergangenen. Und wenn ich Glück habe, passiert es: Alte Erinnerungen, verpackt in wirren Gedankenfetzen, tauchen auf. Ich sah, dass ich Unglaubliches erreicht hatte. Doch damals schien es mir zu wenig. Voller Empörung schrie ich:
»Das ist es? Das ist alles? Was für eine Vergeudung meiner Zeit. Ich bin für Größeres bestimmt als für das lächerliche Angebot, das Almosen gleichkommt. Ich will die ganze Macht für mich, nicht einen winzigen Teil davon!«
Ich sah Traurigkeit über meine Entscheidung, Fassungslosigkeit über meine Reaktion. Ich fühlte, wie alles um mich herum ins Wanken geriet. Als würde man mir meine ganze Kraft entziehen, die ich mir so hart erkämpft hatte. Ich sehe noch meinen Fall in ein tiefes Loch, eingesperrt in einer kleinen Zelle. Diese Erkenntnis lässt mich trauern, denn meine Gier, mein Verlangen nach vollkommener Macht, hat mich am Ende zu Fall gebracht. Seitdem lebe ich hier und warte auf mein Ende. Ich hoffe, dass Gott Erbarmen zeigt und mir Frieden schenkt. Mich von diesem Albtraum befreit und mir vergibt.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Mögen es Tage, Wochen oder gar Monate sein. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr vergesse ich mein altes Leben. Ich lebe in Dunkelheit und niemand hört mich. Und wenn meine Verzweiflung am größten ist, höre ich wieder jene fremden Klänge. Langsam und schwer durchdringen sie die Wand, die mich von der Welt trennt. Musik, wie sie ineinandergreift und kommuniziert.
»Bitte helft mir! Lasst mich gehen! Es tut mir so Leid!«
Doch niemand hört mich. Niemand schenkt mir Aufmerksamkeit. Verzweifelt versuche ich darüber nachzudenken, welche Tat auf meiner Schulter lastet. Doch mir fällt es nicht mehr ein. Ich bete zu Gott, er möge mir verzeihen, egal, was ich auch getan habe. Flehe um Erbarmen und um den endgültigen Frieden. Und dann zeigt der Herr seine Macht und lässt mich schlafen. Dann weiß ich: Er ist hier bei mir und er liebt mich.
Ich erwache. Trauer erfüllt mein Herz, und mir wird bewusst: Es gibt keinen Gott. Denn so grausam ist kein allmächtiger Herrscher, dass er mich wieder aufwachen lässt. Ich höre abermals Musik, fremde Klänge, von der anderen Seite. Und dann verstehe ich, dass es der Wächter ist, der sich jenseits der Wand verbirgt und König spielt. Er ist es, der mein Leben in der Hand hält und es nicht beenden will. Ich spüre, wie Flüssigkeit in mich eindringt, meinen Magen mit Nahrung füllt. Ich kann nichts dagegen tun, fest steckt ein Schlauch in mir und verhindert mein Ableben. Und mit der Mahlzeit kommt meine Müdigkeit zurück und ich schlafe ein. Ich danke dir, mein Wächter.
Nur in meinen Träumen bin ich frei und ich will nie wieder erwachen. Doch meine Strafe währt ewig, jedenfalls vermute ich das. Wieder bin ich aufgewacht, doch dieses Mal ist etwas anders. Die Wände vibrieren, ich kann regelrecht spüren, dass etwas nicht stimmt. Und dann kommt dieser unsägliche Schmerz. Peinigt meinen Körper, um zu testen, ob ich noch am Leben bin. In diesem Augenblick hoffe ich, dass es die letzten Qualen sind, die ich erdulden muss. Und dann ertönen sie wieder, die fremden Klänge. Dumpf dringen sie an mein Ohr - anders als sonst - als würde ich nun die Aufmerksamkeit vieler Wächtern auf mich ziehen. Ich bin aufgeregt, fühle, wie der Raum sich dreht, wie alles enger wird. Als würde meine Seele aus dem Körper gepresst. Ist das mein Ende? Habe ich meine Schuld endlich abgetan? Ich würde lachen, doch der Schmerz, der mich aufs Neue heimsucht. lässt keine Freude zu. Trotzdem zeige ich Genugtuung, denn ich habe meine Strafe erduldet.
Je stärker der Schmerz wird, desto mehr bereue ich. Der Gedanke, dass ich zuvor ein Leben hatte, scheint mir mehr als utopisch. Dass ich meine kurze Zeit mit Illusionen verschwendet habe, so dumm war, an etwas zu glauben, das es gar nicht geben kann. Erst im Angesicht des Todes beginne ich zu verstehen. Dass es keine Bedeutung hat, was man erreicht hat, solange man mit sich selbst zufrieden ist. Die Angst vor dem Endgültigen brachte mir die Einsicht: Zu spät, denn das Schicksal nimmt seinen Lauf. Mein Herz rast vor Aufregung. Unkontrolliert schlage ich um mich - und sehe meine Hand. Voller Ehrfurcht starre ich sie an. Nun, da das Ende nahe ist, bekomme ich die Kontrolle über meine Sinne zurück. Welche Ironie des Lebens.
Und dann verlasse ich die Dunkelheit. Zwänge mich durch den Tunnel und gleite in das grelle Licht. Es zieht mich zu sich. In den letzten Augenblicken sehe ich eine Hand, hell leuchtend, die mich packt. Nie zuvor trachtete ich sosehr nach dem Leben wie in diesem Augenblick. Stimmen dringen an mein Ohr, die fremden Klänge, die ich so oft vernommen habe, meine Wächter. Das Licht verschluckt mich, ich bin ein Teil davon, eisige Kälte streicht über meine Haut. Ich kann nicht mehr, ich vergesse, ich verliere mich … mit letzter Kraft schrei ich: »Ich will leben!«
Ein Arzt sieht in das Gesicht der Mutter.
»Es ist ein Junge!«