- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Fremde Federn
Fremde Federn
Getreten und geschlagen hatte man sie, Zähne tief in ihr Fleisch gegraben, die Peitsche über ihre Haut getrieben und in blutige Wunden den Speichel des Hohnes gespeit, als sie am Pranger stand. Der Richter, so erinnerte sie sich in lichten Augenblicken, hatte hühnenhaft über ihren gesenkten Schultern gethront wie ein Geier über dem Aas und seine Stimme hallte durch sie hindurch; was war sie schon, sie war nichts, nur eine dünne Membran, ein Resonanzkörper im Innern ihres Gewissens. „Der Schöpfer ist Urheber des Werkes“, raunte es immer und immer wieder durch ihren Schädel, „Der Schöpfer ist Urheber des Werkes“ reizte die Rachenmandel, bis sie würgte, bis die Stimmbänder im Rhythmus jener Worte schwangen und sich die Leere vor ihren Augen verdichtete, bis sie fürchtete daran erbrechen und ersticken zu müssen. „Der Schöpfer ist Urheber des Werkes“. Woher sollte sie, Ihrer Eitelkeit Unschuldslamm, das wissen, als sie an einem frühen Samstagabend leichtfertig vor dem Computer Platz nahm, um ihrer Langeweile ein Ende zu bereiten und den ereignislosen Tag mit dem Balsam geselliger Einsamkeit sinnierend zu beschließen? Sie, wie man sie auch nennen mag, Hanna, Petra oder Alexandra, empfand jedes Mal eine innere Glückseligkeit, wenn sie die eine Seite besuchte, die ihr seit Wochen Trost spendete. Hier fand sie viele arme Seelen, wie sie selbst eine war und wenn ihr einmal das sprunghafte Glück beschieden war, fand sie gar sich selbst. Kurzum, sie war eine Gleiche unter Gleichen, und sie teilte mit ihnen allen jenen gemeinsamen Traum von zartseidenen Romantikklängen und kaltem Geschlechtsverkehr, hoffte, dass dieselben Lippen, mit denen sie soeben gedankenverloren einen Kaugummi mit Himbeergeschmack liebkost hatte, das Feuer des letzten menschlichen Abenteuers Liebe wie ein Heiligtum in Empfang nehmen würden. Wie füllte sich ihr junges Herz bis zum Rande mit bittersüßem Neid, wenn sie spät in der Nacht das schwere Gift der Leidenschaft aus fremden Zeilen sog und sich daran berauschte, wenn ihrer Seele Engelsschwingen wuchsen und die einsame Stille ihres nächtlichen Zimmers durchbrochen wurde, wenn die bunten Wände, beklebt mit Postern von Daily-Soap-Helden, die ihre einzigen Freunde waren, vor ihrem fernen Blick verschwanden. Manchmal schaute sie in ihren hohen Spiegel und entdeckte einen weiteren eitrigen Pickel auf ihrer fleischigen Nase, eines jener Pestmale, mit denen die Pubertät, nicht ganz ohne Erfolg, ihr zartes Gesicht zu entstellten suchte. Dann warf sie sich schluchzend und mit tränenschweren Augen auf ihr weiches Bett und umschloss mit viel zu langen Armen das große Kopfkissen, welches sie so gerne hatte, das mit dem Aufdruck einer Boyband, die nur sie mochte und wegen der die Mädchen in ihrer Klasse sie verspotteten. Und wenn sie so dalag, die Brust vor Weinkrämpfen erzitternd, und die Wehen der schwersten Prüfungen ihren Leib durchzuckten, wünschte sie sich einen Freund. Sie hatte sich einen passenden aus einer Mädchenzeitschrift ausgeschnitten und in ihr Tagebuch geklebt. Viele aus ihrer Klasse hatten bereits einen festen Freund. Warum nur sie nicht? Sie wusste die Antwort und sie wusste sie ganz gewiss. Ein Fluch ewig währender Verdammnis musste wie ein Kainsmal auf ihrem Fleisch lasten und sie mit lieblichfalscher Stimme zu fatalen Entscheidungen verleiten. Eine andere Entscheidung gab es nicht. Oder?
So saß unser Mädchen, eines von vielen, das mit ihrem Namen unzufrieden war, einsam vor dem flackernden Bildschirm und grübelte darüber, wie sie zu Beliebtheit gelangen könnte, wenn schon nicht bei ihren Kameradinnen, so doch zumindest bei den virtuellen Leidensgenossinnen. Sie wollte schreiben können wie viele von ihnen, ihrem Kummer Ausdruck verleihen. Doch jedes Mal, wenn ihre geübten Finger über die Tastatur wehten, enttäuschte sie sich selber. Sie haderte mit jedem Wort, das in ihrem Kopf Gestalt annahm, und bevor sie sich versah, hatte es bereits als elektischer Reiz die Synapsen ihres Körpers passiert und war durch eine Muskelkontraktion in ihren Händen über die Tastatur direkt in den Computer eingespeist worden. Meistens löschte sie alles sofort wieder, was sie unbesonnen und mit wachsender Wut über sich selbst getippt hatte. Doch an diesem Tag würde sie sich keine Blöße geben. Sie hatte es kurz überlegt, Pro und Contra gegeneinander abgewogen und das Contra schließlich verworfen. Das Gedicht hatte sie sich bereits mit leidlichem Geschmack ausgesucht. Es war doch keine Schwierigkeit, würd ja eh keiner merken; Drive-In auf dem Internethighway sozusagen. Ihr Puls erhöhte sich geringfügig, als sie gleichgültig dem Klacken der Tasten lauschte. Schuldgefühle? Wieso auch? Schnell stand das Meisterwerk an oberster Stelle der scheinbar in die Ewigkeit hinunter reichenden Liste und es dauerte nicht lange, bis sie die ersten Kommentare erhielt. Es war keineswegs die Schamesröte, die ihre Wangen erglühen ließ, als mitfühlende, wohlwollende Worte sich wie warmes Wachs über ihr ergossen und ihren Schlaf mit lieblichem Trost segneten.
„Der Schöpfer ist Urheber des Werkes“ dröhnten die Hämmer der Gerechtigkeit, die unaufhörlich in ihrem Kopf klirrten, „Der Schöpfer ist Urheber des Werkes“ hörte sie zwischen dem Knirschen der Mühlsteine, die ihren falschen Ruhm zermahlten und mit dem Schweiße des Sünderantlitzes zum Brei der Läuterung verdickten, welcher zäh durch ihre Adern quoll. Natürlich ist sie sodann eines qualvollen Todes gestorben und hat mit knirschenden Kiefern um Gnade gefleht. Was dachtet ihr denn? Nein, so war es natürlich nicht.
Durch diesen Erfolg hatte Hanna, Petra oder Alexandra, oder vielleicht sogar jemand, der, gewiss aus Zufall, euren Namen trägt, im selben Ort wohnt wie ihr und genauso aussieht wie ihr, gefunden, was sie in mageren Jahren der Entbehrungen gesucht hatte: dieses zweifelhafte Gut, das man gemeinhin Selbstvertrauen nennt. Sie blühte auf und wenn man sie auf der Straße sah, begegnete man einem Lichtgeschöpf, das dem Oberflächlichen den Atem raubte und dem Tiefsinnigen Worte der Bewunderung in den vor Staunen halb geöffneten Mund legte. Ihr Freund war fast genauso beliebt wie sie; wenn der gutaussehende Jüngling nicht in ihren Armen lag, die ihr auch überhaupt nicht mehr zu lang vorkamen, träumte er von ihr bei Tag und bei Nacht. Doch das Schicksal wollte es, der heisere ehrwürdige Ruf der Gerechtigkeit, dass ihre Alpträume immer häufiger wurden, ihr junger Körper immer öfter schweißgebadet in seinem weichen Bett aufwachte und ihr Prozess nicht selten auch abgehalten wurde, wenn die Sonne schien und ihre Lider geöffnet waren. Sie sollte sich nicht von den Schlägen erholen, mit denen sie immer und immer wieder gezüchtigt wurde und sie wagte niemandem von den Hämatomen und den Rinnsalen schwarzen Blutes zu berichten, die nur sie allein aus ihren Wunden pulsieren sah. So begann sie irgendwann, in den Nächten zu wachen und sich anstatt mit süßer Poesie mit Absinth zu berauschen, um den Wahnvorstellungen zu entkommen. Unter ihren Augen sah man oft schwarze Flecken und wenn sie in der Schule aufgerufen wurde, kam lediglich Gestammel aus ihrem trockenen Mund. Selbst ihr Freund kam irgendwann zu dem Schluss, dass es mit der Liebe zuende sei und wandte sich von ihr ab. Wir sehen sie über die Straßen taumeln wie eine Betrunkene, obwohl sie nur manchmal betrunken war, und sind Zeuge, wie sie sich an einer Laterne festhält, um nicht umzufallen. Wenn wir den Mut hätten, uns ihr zu nähern und den üblen Gestank zu riechen, der von ihr ausströmt, wenn wir nicht zu feige wären und Angst davor hätten, es könnte etwas Ansteckendes sein, könnten wir ihr Gemurmel vernehmen, wie sie von Gedichten redet und von Gott. Die Seite, in welcher sie ein fremdes Gedicht als ihr eigenes ausgegeben hatte, der virtuelle Ort ihres größten Triumphes und ihrer schwersten Niederlage, ist vor Jahren vom Netz genommen worden, weil der Besitzer zu der Einsicht gekommen war, dass er sein Geld auch gewinnbringender investieren könnte. Wie oft dachte dieses Mädchen, diese Hanna, Petra oder Alexandra, darüber nach, einfach alles wieder zu löschen und ungeschehen zu machen. Doch es war unmöglich. Kein Weg zurück. Manchmal erblickte sie durch die matten Fensterscheiben der geschlossenen Anstalt ihr eigenes Ich, wie es hinter grau gewordenen Haaren mit einem roten Luftballon in der Hand durch grüne Frühlingswiesen floh, bevor sich die unendlichen Mauern des Gerichtes wieder in ihr Blickfeld schoben und die Stimmen der Gerechtigkeit das helle Lachen eines Kindes ausblendeten. Dann versuchte sie, bevor ein neues Urteil gesprochen und ihr enges Pflegebett mit Sagrotan besprüht wurde, vergeblich, sich an den Geschmack von Himbeerkaugummis zu erinnern und an das süße Gift der Leidenschaft.
(c) by Toby