Mitglied
- Beitritt
- 29.12.2018
- Beiträge
- 6
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Freiheit
Meine Haare wehen mir ins Gesicht und ich wische sie beiseite. Der Wind hier oben ist stark. Weiße Gischt spritzt hoch, als die reißende Flut über die rauen Steine spült. Der Fluss ist laut, ein Rauschen, das alles übertönt, Geräusche und Gedanken. Das ist gut. Jetzt noch einmal gut nachzudenken darf ich mir nicht erlauben. Nicht jetzt, wo ich so nah bin. Ich würde es nicht schaffen, den Schritt zu machen. Oder besser die Schritte, die mich noch von der Kante trennen.
Der nasse, scharfkantige Fels bohrt sich in meine nackten Fußsohlen und ich trete auf der Stelle. Gänsehaut zieht sich über meine Arme und Beine, das lange, weiße Kleid ist jetzt schon von der Gischt durchnässt und schützt nicht vor dem Wind und der Kälte. Ich blicke um mich, sauge das Gesehene in mich auf, und atme tief durch. Dichter Nebel verhüllt den oberen Flusslauf, lässt die ganze Umgebung unwirklich erscheinen, wie in Watte verpackt. Der Wald, der den Strom flussaufwärts regelrecht einrahmt, erscheint unberührt, ursprünglich, wild. Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Das hier ist es. Das hier ist mein letzter Ort.
Der Gedanke lässt mein Herz schneller schlagen, und ich kann selbst nicht sagen ob vor Grauen oder Erleichterung. Man könnte meinen, dass ich nervös war, unentschlossen, wehmütig. Aber jetzt, in diesem Moment, in dem ich hier oben auf den Felsen stehe und auf das Wasser starre, das gute 20 Meter in die Tiefe stürzt und dort unten in wirbelnden Kreisen pulsiert, bin ich so ruhig wie lange nicht mehr. Meine Hände zittern nicht, wie sie es sonst in letzter Zeit immer taten, und mein Augenlid zuckt nicht. Alle Gefühle und Bedenken habe ich hinter mir gelassen, sie verschwinden in der Taubheit der Kälte, die meine Füße mittlerweile erfasst. Wenn ich zurückdenke an die Jahre, die hinter mir liegen, an die vielen Tage, die ich in meinem Zimmer verbracht habe, nicht in der Lage, aufzustehen, und sei es nur um etwas zu essen, fühle ich mich erleichtert.
Ich lasse meinen Blick über meine Arme schweifen, sie sind weiß und dürr, und haben seit langem kein Sonnenlicht gesehen. Denn wenn ich doch einmal hinausging, versteckte ich sie in langärmligen Sweatshirts, der Grund dafür sticht einem nun ins Auge wie ein leuchtendes Neonschild in einer pechschwarzen Nacht. Rote und weiße Narben ziehen sich kreuz und quer darüber, lassen meine Haut wie eine Landkarte erscheinen, verunstalten sie, machen mich zu etwas Hässlichem, Befremdlichen. Ich wende den Blick ab. Lasse ihn erneut über die Umgebung schweifen, und dann mache ich drei schnelle Schritte nach vorne. Ich stehe jetzt direkt an der Kante, meine Zehen ertasten den Absprung. Meine Finger verkrampfen sich um die kleine Dose, die ich beinahe vergessen hatte. Ich öffne sie, lasse die beigefarbenen, runden Tabletten in meine Hand fallen und zögere. Einen Moment nur, doch in diesem Moment, dieser halben Sekunde schiebt sich ein Bild meiner Familie in meinen Kopf.
Wie ein Stummfilm läuft eine Szene, in der wir alle, meine Eltern, meine Schwester und ich im Wohnzimmer sitzen und Mensch-ärgere-dich-nicht spielen vor meinem inneren Auge ab. Ich bin jünger in dieser Szene, vielleicht 12 Jahre alt, und wir sind glücklich.
Damals ahnte ich nicht, dass meine Eltern sich trennen würden. Dass meine Mutter, bei der ich und meine Schwester blieben, ein Faible für nach kaltem Rauch und Aftershave riechende Typen entwickeln würde, dass einer davon bleiben, und meine Mutter abhängig machen würde. Dass mein echter Vater sich nicht mehr für uns verantwortlich fühlen würde und nur noch zum Geburtstag eine Karte schicken würde. Dass der Freund meiner Mutter anfangen würde ihr wehzutun. Mir wehzutun. Und mehr als das. Dass ich zur Hülle werden würde, zu einem dürren Schatten meines alten Ichs, dass ich anfangen würde, mich zu zerstören. Ich schiebe die Szene beiseite, verbanne sie aus meinem Kopf. Und es tut mir leid. Nicht für meine Eltern, denn ich bin mir nicht sicher, ob sich in ihrem Leben etwas ändern wird, wenn ich nicht mehr da bin. Aber für meine Schwester. Ich hoffe, dass sie verstehen wird, dass ich sie nicht im Stich lassen wollte, dass auch jetzt mein Pflichtgefühl in irgendeiner Ecke meines zerschundenen Körpers schreit, dass ich nach Hause gehen soll, zu ihr, und sie beschützen. Aber ich kann nicht mehr. Ich bin ausgebrannt. Eine leere Hülle. Ich hoffe auch, dass sie stärker sein wird als ich es war.
Ich habe es doch getan. Nachgedacht. Wie als wäre es eine Bestrafung für mich selbst, führe ich meine Hand zum Mund und schütte mir die Tabletten hinein. Ich schlucke mehrmals schwer, es tut weh, als sich die vielen runden Körper einen Weg durch meine Speiseröhre bahnen und Tränen steigen mir in die Augen. Nun also doch. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Tabletten sind zwar eigentlich nicht elementar für das hier, aber wenn ich es schon durchziehe, dann will ich sichergehen, dass es klappt. Einen weiteren Versuch würde ich nicht schaffen. Ich trete von der Kante zurück, doch nur um Anlauf zu nehmen, laufe, renne die letzten Meter, und dann springe ich, katapultiere mich quer in die Richtung der Steine die rechts des Wasserfalls aus der aufgewühlten Oberfläche herausragen, und in einem Anfall von wilder Freude schreie ich, schreie, als die Gischt mich trifft, schreie alles hinaus, und mein ganzer Körper ist nur noch von einem Gefühl erfüllt, ein Gefühl, dass ich so lange nicht gespürt hatte, dass ich es beinahe vergessen hatte: Freiheit.