Freiheit
Ich hörte Stimmen näher kommen. Sie schienen aufgeregt zu sein und redeten wild durcheinander. Sicherlich bemerkten sie mich nicht einmal.
Immer wieder schnappte ich Wortfetzen ihres Gespräches auf. Wörter wie „Ende“, „Krieg“ und „Freiheit“. Ein Mann namens Hitler wurde öfters erwähnt. Jetzt mussten die beiden Personen direkt neben der Kiste stehen in der ich kauerte. Meine Gedanken rasten, ich war damals noch sehr klein und wusste nicht viel von dieser Welt. Eigentlich war ich mein ganzes Leben lang eingesperrt und ausgenutzt worden. Anscheinend war irgendein Krieg zu Ende. Eventuell war dieser Mann, den sie so oft erwähnten der Retter? War er für das verantwortlich, was die Leute dort draußen Freiheit nannten? Dieses Wort... ich ahnte, was es bedeuten könnte. Damals konnte ich es nicht erklären, ich fühlte die Bedeutung tief in mir selbst. Wie es wohl sein würde, nicht täglich in eine stinkende Kiste gesperrt zu werden? Ich malte mir in meinen Träumen die schönsten Bilder von dieser so genannten Freiheit aus. Grüne Wiesen, sich in hohen Weizenfeldern verstecken und das Leben einfach genießen.
Die Stimmen außerhalb meines Gefängnisses ließen in mir wieder die Hoffung aufsteigen. Oder planten sie nur einen neuen Versuch mit mir? Innerlich begann ich zu zittern, als ich an das zurückdachte, was ich bis dahin durchgemacht hatte. Ich war in dem Labor geboren worden... glaube ich jedenfalls. Ich kann mich nämlich nur an die Zeit hier erinnern. Meinen Vater und meine Mutter habe ich nie kennen gelernt. Hatte ich überhaupt Eltern??? Manchmal, in den stillen und einsamen Momenten in der Kiste, dachte ich mir, dass ich vielleicht ein höheres Wesen sein könnte. Ich habe Leute von einem Mann namens Jesus reden hören. Er muss auch eine Menge durchgemacht haben, aber er war auch so ein höheres Wesen und alle seine Leiden hatten einen Sinn. Das haben die Leute gesagt. War es bei mir ähnlich? Konnte es sein, dass ich, so klein und unerfahren wie ich war, zu etwas Besonderem bestimmt war?
In solchen Momenten dachte ich grundsätzlich an Flucht, aber es war sinnlos. Ich kam nur aus meiner Holzkiste heraus, wenn mich die Männer in den weißen Kitteln heraushoben. Ich war so klein und kümmerlich, dass ich nicht einmal an den oberen Rand meines Gefängnisses kam. Schon wieder hatte jemand „Freiheit“ geflüstert, leise, fast ängstlich. Lag in ihren Stimmen eine gewisse Anspannung? Hatten die dort draußen Angst vor der Freiheit? Hatte ich mich am Ende mit meiner positiven Deutung des Wortes getäuscht, war es etwas Schlimmes? Plötzlich drangen panische Schreie zu mir hinein, ich zuckte zusammen und drückte mich gegen die kalte, kratzige Holzwand. In das Labor kamen jetzt mehrere Leute gerannt, sie schrien wild durcheinander. Jemand rief: „Sie kommen!“ und unmittelbar darauf schlug eine Bombe ein. Zumindest glaube ich, dass es eine war, denn dem lauten Krachen folgte ein ohrenbetäubendes Bersten von Glas. Schmerzensschreie vermischten sich mit Maschinengewehrsalven und trieben mich mit ihrer schrecklichen Lautstärke fast in den Wahnsinn. Auf einmal stieß jemand schwer gegen meine Kiste, so dass sie umfiel und ich gegen das harte Holz geschleudert wurde. Bei dem Aufprall blieb mir kurzzeitig die Luft weg. Doch während ich noch nach Atem rang, sah ich, dass der Deckel meines Verlieses aufgegangen war. Durch die Öffnung konnte ich dicke, schwarze Stiefel sehen, die schnell über den mit blutigen Scherben bedeckten Boden liefen. Immer noch riefen sich draußen mehrere Leute etwas zu. Aber trotzdem hatte sich die Stimmung von Grund auf verändert. Ich war noch zu jung, um das alles zu verstehen, was um mich herum geschah. Ein Mann schrie Befehle in alle Richtungen, die Schüsse waren endlich verstummt. Ob ich einen Blick hinaus riskieren konnte? Die Stimmen entfernten sich langsam. Ich war nur noch von einem einzigen Gedanken beseelt: Freiheit! Ich würde endlich selbst erleben was es bedeutete frei zu sein. Auf niemanden hören zu müssen, gehen zu können wohin man wollte. Vorsichtig lugte ich aus meiner Kiste und starrte entsetzt auf die zwei schwarzen Stiefel, die nicht ganz zwei Meter von mir entfernt standen. Langsam wanderte mein Blick die grünen Hosen hinauf, über eine dicke, tarnfarbene Weste bis zu dem finsteren, kantigen Gesicht mit dem Sturmtruppenhelm. Gerade wollte ich meinen Kopf wieder in mein dunkles, schützendes Versteck ziehen, als sein stechender Blick auf mich fiel. In mir verkrampfte sich alles und ich schloss die Augen um auf die Feuersalve zu warten. Doch... nichts geschah... nur die Füße kamen näher. „Look, John!“ rief die Gestalt über mir in den hinteren Teil des Labors. „There’s a laboratory rat. Poor thing!” Ein anderer Mensch kam hinzu und starrte mich aus großen, braunen Augen an. „Yeah, man. Come on, we’ll bring it outside of this mess. We can let it go into a forest. Perhaps it will survive… without that damn experiments it has a chance.”
Die beiden amerikanischen Soldaten hielten ihr Wort und brachten mich in den Wald, wo ich bis heute überlebt habe. Ich habe dort auch einige andere Mäuse getroffen und mich ihnen angeschlossen. Vielleicht liegt es an den Experimenten, die die Menschen in dem Labor mit mir gemacht haben, dass ich deren Sprache verstehen konnte. Denn alle meine Artgenossen, die im Wald aufgewachsen sind, haben zwar schon Menschen sprechen hören, aber nie die Worte verstanden. Und eine weitere Tatsache unterscheidet mich von ihnen. Ich bin der Einzige, der wirklich weiß, was Freiheit bedeutet... denn ich habe auch die andere Seite erlebt... ...