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Freiheit

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07.10.2003
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Freiheit

Eigentlich sollte es ein schöner Tag sein, dachte Mia, als sie aus dem Wagen stieg. Die Sonne sollte scheinen, die Vögel singen und die Farben leuchten. Stattdessen goß es in Strömen, die Vögel hatten sich alle dort versteckt, wo der Wind sie nicht peitschen konnte, und die Welt zeigte sich in einem ungemütlichen, feuchten Grau.
Ihr Vater hielt ihr einen Regenschirm hin, damit das teure Kleid auf den wenigen Metern zur Tür nicht zu nass wurde. Sie gingen schnell hinein, und dennoch trieb ein Windstoß einen kräftigen Schauer unter den Schirm, dass ihr Kleid von den Schultern abwärts durchnässt war. Als sei eine höhere Macht gegen ihr Vorhaben.
Drinnen führte die Mutter sie geschwind in einen separaten Raum und lamentierte über den nassen Stoff, zog hier eine Falte glatt und strich dort über die Spitze. Dabei fragte sie jede vorbeikommende Verwandte nach einem Fön, den natürlich niemand dabei hatte.
Mia betrachtete sich im Spiegel, während Tanten, Cousinen, Schwägerinnen und natürlich ihre Mutter um sie herum wuselten und sie wieder und wieder beglückwünschten.
Glückwünsche? Sicher sah sie sehr schön aus in dem Kleid aus cremefarbener und weißer Seide, mit Spitzen und Perlen besetzt –echten Perlen, darauf hatte ihre Mutter bestanden! Ihre Rehaugen wirkten unter dem Spitzenschleier, der ihr hochgestecktes, braunes Haar verbarg, noch riesiger aus als sonst. Mia fand, sie blickten ängstlich.
War sie ängstlich? Sie war sich nicht sicher. Seit sie am Morgen aufgestanden war, fühlte sie sich schon… -seltsam. Als würde ihr Körper heute nicht ihr gehören. Wie ein Automat hatte sie sich gewaschen, gefrühstückt und war in diesen Traum von einem Kleid gestiegen. Aber was hatte sie dabei gefühlt?
Ein Blitz zuckte, und Donner rollte über den Himmel. Die Brautjungfern, die Töchter von Mias zwei älteren Schwestern, erschraken und kicherten albern. Ihre Mütter standen am Fenster und diskutierten über die dritte Schwangerschaft der ältesten. Tante Agathe saß auf einem Stuhl und nahm ihr Stärkungsmittel. Tante Cornelia war mit der Mutter auf der Suche nach einem Fön verschwunden. Und Frau Hernebrook musterte sie von der anderen Seite des Raumes aus. Kritisch. Selbstzufrieden.
Zufrieden, dass ihr Sohn mit Mia eine gute Partie abbekam. Genauso befriedigt wie Mias Mutter, die zufrieden war, dass ihre jüngste Tochter mit Michael Hernebrook eine gute Partie abbekam.
Caspar wäre keine gute Partie gewesen. Er war zu arm, zu politisch, zu links und zu unkonventionell.
Warum dachte sie jetzt an Caspar? Mia blinzelte. Sie glaubte, Caspars Gesicht vor sich sehen zu können, im Spiegel, wie bei einem doppelt belichteten Photo. Sie blinzelte nochmals.
Sie dachte an eine Sommerwiese, wo Klee blühte und hohes Gras sich im Wind wiegte. Sie vermeinte fast, ihren Duft zu riechen. Die Wiese am See, wo sie Caspar kennengelernt hatte. Wo sie einen wundervollen Sommer verbracht hatten. Zwei Jahre war das bald her.
Sie ging auf die Toilette. Sie wollte nicht, dass ihre Verwandten sähen, dass sie zitterte und ihr die Beine nachzugeben drohten. Und vor allem nicht ihre Schwiegermutter in spe.
Sie hatte Michael in einer Jura-Vorlesung kennengelernt, in diesem schrecklichen Winter nach dem wundervollen Sommer. Sie hatte in ihm einen Rettungsanker gefunden, nachdem ihr Leben in Scherben gefallen war. Er hatte sie festgehalten, als sie auf dem Brückengeländer stand; hatte sie auch gehalten, als sie ein Meer von Tränen vergoß; hatte sie, mit viel Geduld und Beharrlichkeit, im Frühjahr wieder zum Lachen gebracht. Sie waren zusammen spazieren gegangen und ins Kino; ins Theater und auf Konzerte, und jetzt stand er sicher draußen an der Kirchentür, um die Gäste zu begrüßen, während sie sich in der Toilette eingeschlossen hatte.
Jemand klopfte. Ihre Mutter, die meinte, dass sie zwar keinen Fön gefunden habe, aber Mia trotzdem nur rasch herauskommen solle. Es wäre bald soweit.
War das die übliche Nervosität vor einer Hochzeit, fragte Mia sich. Caspars Bild wollte nicht vor ihren Augen verschwinden. Er wolle nie heiraten, hatte er damals am See zu ihr gesagt. Die Ehe sei nur eine Fessel der Gesellschaft, mit der Kirche und Staat die Menschen davon abhielten, in Freiheit zu leben. Überhaupt war die Freiheit für ihn das Wichtigste gewesen, und er hatte Mia gezeigt, was das bedeutete. Sie waren mit seinem klapprigen VW Bully einmal weggefahren, an die Adria, und niemand hatte gewusst, wo sie waren. Mias Mutter war halb wahnsinnig vor Angst, ihr Vater ein wütender Donnergott, als sie wiederkam, doch da war sie wirklich frei gewesen.
Das Zittern wurde immer stärker. Mia sah Tropfen auf die Seide in ihrem Schoß fallen. Weinte sie?
Nein, nicht daran denken…
Doch die Bilder drängten sich auf. Die Blaulichter, Sirenen, die schreienden Sanitäter am Ende ihrer Straße. Die Feuerwehr mit der Motorsäge, die durch Metall schnitt. Funken in der Nacht. Neugier und Schaulust hatte sie näher gezogen.
Der resignierte Blick des Notarztes, als er den Kreis der Helfer verließ. Caspars Bully, in einer engen Umarmung mit einem braunen Volvo Kombi. Caspar, hinter dem Steuer seines Bully. Das Gesicht blaß, doch so ruhig, als ob er nur schlafe.
Später sagte man Mia, dass sein Genick sofort gebrochen gewesen sei, dass man nichts mehr für Caspar habe tun können. Doch die Bilder hatten ihren Geist gefesselt, hielten sie gefangen in einer Spirale aus Angst und Selbstvorwürfen.
Warum hatte sie ihn gebeten, zu ihr zu kommen? Wäre er nicht auf dem Weg zu ihr gewesen, hätte er nicht mit dem Volvo zusammenstoßen müssen. Wäre sie zu ihm gekommen, wäre das nicht passiert. Hätte sie seine Philosophie der Freiheit nur damals schon verstanden…
Doch das hatte sie nicht. Sie verstand sie erst jetzt.
Daß wahre Freiheit bei der Freiheit des Denkens begann.
Daß man seinem Herzen folgen musste, um frei zu sein.
Daß man auch manchmal einsam und verletzt sein wird, wenn man frei ist.
Daß dieser Schmerz einen aber auch stark machte, um frei zu bleiben.
Daß man für sich alleine stehen können musste, um frei zu sein.
Daß man nicht frei sein kann, wenn man einem anderen Menschen gehört.
Für Michael empfand sie Freundschaft, sicherlich auch Dankbarkeit, dass er sie wieder ins Leben geholt hatte. Es war nicht dieselbe Freundschaft wie damals zu Caspar, und ganz sicher war es keine Liebe.
War Dankbarkeit ein ausreichender Grund zu heiraten?

Als der Schlüsseldienst eine Stunde später die Tür aufbrach, fanden Mias Mutter und die wütende Frau Hernebrook ein traumhaftes Seidenkleid, einen Schleier und ein offenes Fenster, durch das der Wind den Regen hereintrieb –aber keine Mia.

 
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Hello Oile,

Deine beeindruckende Geschichte ist vorhersehbar, aber das schadet ihr nicht. Freiheit kann einen hohen Preis haben. Freiheit beinhaltet aber auch die Möglichkeit, einfach nur NEIN zu sagen - diese Freiheit wird jedoch nicht zugeteilt, sondern muss selbst erworben werden.

Gut fand ich, dass Du nicht vor dem Klischee der 'guten Partie' zurückgeschreckt bist. Solches Denken gilt zwar als vorgestrig, ist aber noch immer hochaktuell. Man nennt das jetzt anders, vielleicht 'gesicherte Zukunft', meint aber das Gleiche.
Möglicherweise wirklich nicht mehr zeitgemäß ist der Kritikpunkt 'politisch links' - das lockt doch niemanden mehr hinter dem Ofen vor.

Viele Grüsse vom gox

 

Ui... hallo gox...

hätte ja nicht gedacht, daß die Geschichte noch irgendwer entdeckt... *freu*
Danke für's Lesen, und den netten Kommentar, hatte schon befürchtet, die Geschihcte würde von jedem Leser unter "egal" abgespeichert. ;) Freut mich, daß sie Gefallen bei dir fand.

Aber "zu links" ist immernoch eine Aussage, die über einige Gruppen gemacht wird -die Autonomen zum Beispiel, die auf Bauwagenplätzen wohnen. Nettes Volk übrigens, nur würden Teile meiner Verwandschaft das nicht finden -für die wäre das "asozial". Ich liebe dieses Schubladendenken konservativ-mittelständischer Kleinbürger. Und die ´gibt's heute noch. ehrlich. ;)

LG Oile

 

hi oile,
ich werd wohl noch etwas brauchen, bis ich, so wie es hier wohl üblich scheint, noch etwas differenzierter auf das gelesene eingehe ... sehr erstaunt war ich, daß ich so viele meiner gedanken und gefühle in deinem text wiederfinden konnte ... für mich ist dein text so wie er ist absolut ok und er enthält einen sehr schönen spannungsbogen ... dein gewähltes ende ist für mich nichts als konsequent und nachvollziehbar.
LG chaosdiva

 

Hallo Oile,
Ich verstehe, dass eine Frau Angst vor der Hochzeit hat, hat wohl jede :D. Was ich nicht verstehe sind ihre Beweggründe.
Ok sie hatte ihre große Liebe verloren, tragischerweise ist er gestorben. Sie gibt sich die Schuld. Und der Mann der sie ins Leben zurückgeholt hat, ist plötzlich nicht mehr der Richtige?
Deine Geschichte lässt mich als Leser unzufrieden zurück. Auf der einen Seite das Kleinbürgertum, auf der anderen Seite eine Philosophie von Freiheit, die als Thesen in den Raum gestellt werden.
Für mich hört sich dass alles nach Ausrede an, dass die Frau unter dem Deckmantel der Freiheit einfach kneift. Warum kann sie nicht deutlich Stellung beziehen und sagen, ich habe mich geirrt, ich liebe dich nicht ? Weil sie Freiheit missversteht?
Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

du stellst berechtigte Fragen. Ich könnte jetzt an dieser Stelle die Gedankengänge der Prot zu ihrem Verschwinden vesuchen zu erklären, daß sie in der Zeit mit Michael den Verstorbenen verdrängt hat, daß sie sich nicht dem Gekeife ihrer Mutter und Schwiedermutter in spe stellen will, das unweigerlich folgen würde, etc. etc. Ich habe das alles aber bewußt so offen gelassen, daß es sich nur aus den Zwischentönen erkennen läßt.
Natürlich könnte man das als "feiges Abhauen" bezeichnen, aber es gibt Situationen, in denen man schlagartig eine Erkenntnis erhält, die man selbst erst einmal verdauen muß, bevor man sich mit anderen darüber auseinandersetzen kann. In der Beziehung ist der Text sogar autobiographisch. :)
Es ging mir dabei aber um eben diese Thesen, die da so im Raum rumstehen und sich interessiert umsehen. Sie entdecken dabei eine Frau, die ihre einstmalige Überzeugung um der "guten Laune" willen verdrängt und fast vergessen hat; die eine Wand vor die Vergangenheit gezogen hat, um in der Gegenwart unbeschwert zu bleiben, und dadurch sich selbst und indirekt ihren Verlobten belogen hat. Das alles wird ihr aber erst im letzten Moment klar, kurz bevor sie den letzten Schritt zum absoluten Selbstbetrug geht. Der für mich entschiedende Satz ist hier die Frage:
"War Dankbarkeit ein ausreichender Grund, um zu heiraten?"
Eine Frage, die -in anderer Dimension- mich zu der Zeit und heute noch beschäftigt. Die Antwort ist "Nein", und doch laufe ich noch heute vor der Konsequenz dieser Antwort davon. Aber das ist eine andere Geschichte. ;)

Hoffe, deine Fragen wurden zumindest teilweise beantwortet.

LG, Oile

 

Hallo Oile,
vor dem Kommentar etwas Fehlerlese:

Du scheinst an dem alten „ß“ zu hängen, da hilft Dir aber eine Rechtschreibkontrolle. Z. B. es goß in Strömen oder vergoß, blaß und jede Menge daß ...

Gleich im ersten Absatz: Stattdessen auseinander schreiben: Statt dessen

Ihre Rehaugen wirkten unter dem Spitzenschleier, der ihr hochgestecktes, braunes Haar verbarg, noch riesiger aus als sonst.
Entweder nur wirkten oder sahen ... aus
Zufrieden, dass ihr Sohn mit Mia eine gute Partie abbekam. Genauso befriedigt wie Mias Mutter, die zufrieden war, dass ihre jüngste Tochter mit Michael Hernebrook eine gute Partie abbekam.
Habe ich stilistisch zu bemängeln:
1. Zufrieden ... befriedigt ... Zufrieden – ist mir zu friedlich ;)
Vielleicht statt Genauso befriedigt wie Mias Mutter, die zufrieden war ... - Genauso froh wie Pias Mutter, die sich freute ...
2. abbekam ... abbekam; das zweite abbekam ersetzen durch machte oder ähnlich

Die Wiese am See, wo sie Caspar kennengelernt hatte. ... kennen gelernt ...
Sie hatte Michael in einer Jura-Vorlesung kennengelernt wie oben

Das reicht erst mal, schließlich ist heute Sonntag, kein Tag zum Arbeiten :D

Insgesamt gefällt mir alles an der Geschichte, der Gegenstand, die Umsetzung und auch der Stil. Streckenweise auch eine schöne bildhafte Sprache :). Dass Mia damit leben muss, von anderen Feigheit oder Undankbarkeit vorgeworfen zu bekommen, weiß sie. Wenn die Entscheidung auch spontan kommt, kann ich sie nachvollziehen, verstehen und auch unterstützen – hat sie gut gemacht. Es gibt auch ohne sie genug Ehen aus Berechnung, Dankbarkeit oder „wegen der Leute“.
Fast alle Menschen mögen Sinnsprüche, besonders solche wie den von Saint-Exupéry (Der kleine Prinz) „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – komischer Weise viel weniger lediglich den Spruch, nicht das Handeln danach :(. Mia hat meine volle Sympathie (nicht wegen der Rehaugen!).
Dein Schluss lässt mich nur mit einer Frage zurück: Ist sie ohne Kleid, ich meine nur so ...?

LG PP :)

 

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