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Freiheit ist auch nur ein Wort
Er konnte es den ganzen Tag sehen. Es war immer da und wartete auf ihn bei Tag und bei Nacht, am Morgen wie am Abend. Sein Sehnsuchtsort war es über die Zeit geworden. Er konnte nicht verstehen, warum so viele einfach achtlos vorbeiliefen - in Gedanken verloren, unachtsam oder sogar gleichgültig gegenüber der unberechenbaren und unbrechbaren Schönheit, die sein Herz berührte.
Die Gleichgültigkeit fand er am schlimmsten, so viele Menschen spazierten einfach ignorant an seinem so heiß geliebten Sehnsuchtsort vorbei. Kein Blick ging nach rechts oder links, vor sich hinstarrend und blind für alles Schöne liefen sie einfach vorbei. Nur weil man etwas von vollkommener Schönheit regelmäßig sieht, verliert es doch nicht seinen Zauber, seine Faszination oder gar seinen Charme - zumindest war es bei ihm so. Stundenlang konnte er auf das Meer schauen - es wurde ihm nie langweilig dabei. Es gab so viel zu sehen: Wolken, Himmel, Schiffe, Wind, der die Gräser in den Dünen hin und her tanzen ließ, und der Geruch nach Salz, aber vor allen Dingen nach Freiheit.
Aber an erster Stelle kam für ihn das Meer an sich, daran konnte er sich nicht sattsehen. Er liebte es zuzusehen, wie die Wellen am Strand brachen, wie die Gischt bei stürmischem Wetter auf dem Wasser tanzte, wie das Meer immer in Bewegung war und nie verharrte. Der Sturm war seine Leidenschaft, stundenlang beobachtete er das wütende Treiben des Meeres. Die kleinen und großen Fischerboote, die durch die Wellen hin und her geworfen wurden, als wären sie Nussschalen. Es sah aus wie ein schlecht choreografiertes Ballett.
Ballett sah er manchmal im Fernsehen. Es gefiel ihm aber nicht so gut, es war gekünstelt und unecht - ganz im Gegensatz zu dem gefährlich-schaurigen Tänzen der Fischerboote.
Besonders mochte er den Geruch des Sturms: Das Salz, die Aufregung und der Gestank nach Fisch, der sich mit dem Geruch der Dünen vermischte, man konnte die Gefahr förmlich riechen. Sobald der Wind auffrischte, wurde er nervös und versuchte, einen möglichst guten Aussichtspunkt auf das heranströmende Theater zu finden. Sturm war Leidenschaft. Sturm war Angst. Sturm war Leben - Leben in allen Extremen und damit alles, was ihm in seinem Leben so fehlte.
Aber auch die stille und ruhige See faszinierte ihn - wenn das Wasser silbern glänzte, sich der Horizont in der Unendlichkeit spiegelte und alles in dem Moment verharrte und doch gleichzeitig im vollkommenen Fluss war. Bei den meisten Menschen schien sich alles um die Sonne zu drehen, das Meer rangierte in ihrer Gunst weit dahinter. Sobald sie da war und ihre Strahlen den Sand berührten, kamen auch die Menschen in Scharen. Sie legten sich in den Sand und ließen sich wärmen. Wenige Augenblicke allerdings nur verschwendeten sie auf die Schönheit, die die Sonne in jede Ecke, die sie erreichte, brachte. Sie rekelten sich in ihrem Licht und starrten dabei auf ihre Handys, in Bücher oder einfach nur vor sich hin. Das war ihm das Unbegreiflichste auf der Welt, wie man freiwillig auf diese unwiederbringlichen Momente absoluter Schönheit verzichten konnte.
Ähnlich verhielt es sich mit den beiden für ihn magischsten Momenten des Tages: dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang. Wenn die Sonne den Horizont berührte, entweder in dem Versprechen, den Tag über die Welt zu wachen, oder am nächsten Morgen wiederzukehren, dann setzte sein Herz jedes Mal eine Sekunde vor Ergriffenheit aus. Auch viele der Passanten hielten dann an, um diesen Augenblick festzuhalten, allerdings nicht wie er in ihren Herzen, sondern in ihren Handys. Schwer hatte ihn die Erkenntnis getroffen, dass es ihnen nicht darum ging, den Moment für sich auszukosten oder gar zu bewahren, sondern ihn mit dem Handy für andere zu konservieren.
Er zehrte von diesen Momenten der Schönheit, die sein Herz erreichten. Nie wäre es ihm eingefallen, sie mit anderen zu teilen oder gar sie nur für andere festzuhalten. Sie waren sein Lebensinhalt. Die Liebe zum Meer und seiner Schönheit waren der einzige Grund, warum er noch nicht versucht hatte, seinem verhassten Leben ein Ende zu setzen. Er lebte in einem furchtbaren Gefängnis aus Gitterstäben, die man Käfig nennt. Er konnte ihm nicht entfliehen, diesem furchtbaren eisernen Käfig. Er hasste ihn so sehr, dass es sein Herz aufzufressen drohte. Seine einzige Möglichkeit, diesem zerstörerischen Hass zu entfliehen, war eine Stelle im Käfig zu finden, von der aus er das Meer ohne die sein Blickfeld einschränkende Käfigstangen betrachten konnte. Von der Freiheit, der Wildheit und der Ungezähmtheit des Meeres zu träumen, das war seine einzige Freude. Alle diejenigen, die die Freiheit hatten, das Meer ohne Gitterstäbe zu sehen, es berühren zu dürfen und sich von ihm einfach bis zum Horizont davontragen zu lassen, verachtete er für ihre Gleichgültigkeit und ihre Ignoranz gegenüber dem für ihn unbezahlbaren Wert der Freiheit. Wäre er frei und wenn auch nur für einen einzigen Tag, er würde das Meer auskosten mit jeder Faser seines Körpers, den Sand spüren, das Salz schmecken, die Weite aufsaugen und die Freiheit genießen. Sich von einem Boot über das Wasser tragen zu lassen, um dem Horizont näher zu kommen oder sich am schier endlos langen Strand entlang zu bewegen, um die Weite zu spüren, davon träumte er in all seinen dunklen Stunden der Einsamkeit und der Enge. Ein kühner, aber dafür umso sehnlicherer Wunsch war es, einmal über das Meer zu fliegen – unter ihm die Tiefe des Meeres, über ihm die Weite des Himmels und vor ihm der Horizont.
Aber man konnte es sich nicht aussuchen, er war nicht frei. Er war vom Leben in einen kleinen Käfig gesetzt worden, aus dem es für ihn, so war er sich sicher, zu Lebzeiten kein Entrinnen gab.
Gerade als dieser Gedanke ihm wieder das Herz schwer werden ließ, flog die Tür auf. Sie waren zurück und damit war seine Zeit des Nachdenkens und der Träumerei von der Freiheit des Meeres beendet.
Sofort standen der Junge und das Mädchen vor seinem Käfig. "Piepsi, Piesi, sei ein lieber Vogel komm her", jaulten sie. Er hatte jedes Mal das Gefühl, sein Kopf würde bersten angesichts der Lautstärke, in der diese Kinder mit ihm kommunizierten. Er blinzelte nur müde mit einem Auge. Das letzte Mal hatten sie versucht, als er sich ihnen etwas genähert hatte, ihn mit einem Stöckchen zu schubsen, um zu schauen, ob er von der Stange fallen würde. Keinen Zentimeter würde er näher an diese kleinen Menschen herankommen. Ihr Geschrei wurde nun noch lauter und unangenehmer. Das pummelige Mädchen drückte sein Gesicht ganz nah an die Gitterstäbe und kreischte wieder: "Piepsi, Piepsi!" Der Junge grinste und sagte: "Wir machen den Käfig einfach auf. Dann kommen wir leichter an den dummen Vogel ran."
Er erstarrte vor Angst. Diesen Kindern war alles zuzutrauen - jede Art von Gemeinheit, Kaltblütigkeit oder Boshaftigkeit. Sie hatten schon häufiger versucht, ihm Schaden zuzufügen. Dem Hund, so hatte er beobachtet, gaben sie regelmäßig in unbeobachteten Momenten kleine Tritte oder zogen ihn an den Ohren. Er wollte sich nicht ausmalen, was sie mit ihm vorhatten. Er hatte keine Hoffnung, dass wenn die großen Menschen der gewalttätigen Art ihrer Brut gewahr würden, sie ihre Kinder zur Ordnung oder zu gutem Benehmen gegenüber Tieren auffordern würden. Auch sie behandelten die Tiere lieblos und gleichgültig.
Schon hatte der blondgelockte Junge mit dem Engelsgesicht, dem niemand auf den ersten Blick seine teuflische Art ansah, den Käfig geöffnet und streckte bereits seine Hand nach ihm aus. Sein kurzes, unerfülltes Leben als Kanarienvogel zog an ihm vorbei und die Erkenntnis, nie wirklich an seinem Sehnsuchtsort gewesen zu sein, machte ihm das Herz unendlich schwer.
Da rief die Mutter ihre Kinder im schimpfenden Tonfall zu sich. Dieser Ton duldete keinen Aufschub, dass wussten die Kinder. Sein Herz schlug vor Angst immer noch so schnell und laut in seiner kleinen Brust, dass er nicht alles verstand. Aber anscheinend hatten die beiden ihre Zimmer nicht aufgeräumt und stattdessen in der Küche ein Unheil angerichtet.
Schnell zog der Junge die Hand aus dem Käfig und warf seiner Schwester einen genervten Blick zu. Dann eilten sie mit Unschuldsmiene aus dem Zimmer zu ihrer Mutter.
Er konnte es kaum glauben, dass er für den Moment gerettet war. Es dauerte noch einige Minuten bis sich seine Aufregung etwas legte und er wieder ruhiger auf seiner Stange sitzen konnte. Auch zur Beruhigung war das Meer das erste Mittel seiner Wahl. Die Wellen und der Schimmer des Wassers beruhigten ihn in der Regel zügig von all den Strapazen, die das Leben für einen Kanarienvogel in Käfighaltung bereithielt. Er richtete die Augen auf das Wasser, atmete tief ein und hoffte, dass die innere Entspannung einsetzte und er sich von der furchtbaren Begegnung mit Kindern vollends erholen konnte.
Gleich darauf schnellte sein Herzschlag aber wieder nach oben und zwar höher als jemals zuvor, denn er sah, dass die Käfigtür immer noch einen Spalt offenstand und damit seine Tür zur Freiheit, nach der er sich seit jeher sehnte. Könnte es wirklich geschehen, dass er, der kleine Kanarienvogel mit Namen Piepsi, über das weite Meer Richtung Horizont fliegen würde?
Er konnte es nicht fassen, dass sich ihm endlich ein Ausweg aus seinem so verhassten Käfig bot, denn auch das Fenster stand an diesem Tag offen. Es war ein wunderschöner Sommertag und das Meer lag still silbrig glänzend vor ihm.
Es schien ihm, als würde es mit offenen Armen auf ihn warten. Er könnte frei sein und für immer nur seinem eigenen Willen folgen - eingeschränkt höchstens durch das Wetter oder die Jahreszeiten. Frei, dorthin zu fliegen, wohin er wollte. Seinen Sehnsuchtsort entdecken. Das Meer, den Sand und die Weite spüren und nicht nur aus der Ferne durch einen Käfig und Fensterscheibe alles betrachten. Er könnte den Sturm leibhaftig erleben, auf der Welle reiten und die Sonne spüren.
Er war so aufgeregt, denn sein Traum war zum Greifen nah. Er sprang von der Stange und setzte sich in die Tür und erlebte zum ersten Mal, dass es keine Gitterstäbe gab, die seinen Blick trübten. Er würde gleich in die Freiheit starten und nie mehr zurückkehren an diesen verhassten Ort.
Es war nur ein kurzer Flug, ein kleiner Flügelschlag und er saß auf dem Fensterbrett und damit nur noch wenige Zentimeter entfernt vom großen Abenteuer. Er schlug mit den Flügeln, um sich warm zu machen und vorzubereiten auf den größten ersten Schritt seines bisherigen Lebens. Seine Seele war erfüllt mit Freude und Glück, ein Gefühl, dass er bisher noch nicht in der Intensität erlebt hatte. Aber es gefiel ihm sehr, wie sich dieses wohlige Gefühl langsam in seinem Körper ausbreitete.
Ein Greifvogel flog dicht am Fenster vorbei und schnellte nach unten, um an etwas Essbares auf dem Boden zu gelangen. Er konnte nicht sehen, was er erbeutet hatte, jedoch hatte er etwas im Schnabel als der große Vogel wieder in seinem Blickfeld erschien. Langsam flog er nun Richtung Strand, um es zu verspeisen.
Für dieses erbeutete Lebewesen war der Traum vom freien und selbstbestimmten Leben auf brutale Art und Weise soeben geplatzt. Sein Herz war plötzlich ganz eng und ihm wurde schwindelig vor Angst als ihn die Gewissheit überfiel, dass auch er künftig als Futter enden konnte. Er hatte bisher immer nur von der Freiheit des Meeres geträumt. Er hatte sich ausgemalt, wie er stundenlang auf einem Ast sitzend das Wasser betrachten würde. An die vielen Gefahren hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Warum auch? Er hatte doch nie geglaubt, dass sich ihm tatsächlich mal die Gelegenheit zur Flucht bieten würde. Er wollte nicht gefressen werden und noch weniger wollte er immer Angst haben müssen, dass sich irgendein anderes Lebewesen auf ihn stürzen könnte. Wie sollte er denn jemals in Freiheit ruhig schlafen? Auch die Gefahren des Sturms wurden ihm plötzlich bewusst. Ein großer Sturm konnte ihn ebenfalls umbringen. Selbst für große Schiffe konnte er gefährlich werden. Er war doch nur ein kleiner Kanarienvogel, ein Sturm würde nicht viel von ihm übriglassen. Und wo würde er Futter finden? Müsste er gar hungern? Der Käfig war grauenhaft genauso wie die Menschen, aber er musste nicht hungern. Jeden Tag bekam er ein Schälchen mit Körnern und Obst sowie frisches Wasser. Er hüpfte einige Millimeter zurück, weg vom geöffneten Fenster und Richtung Käfig. Warum hatte er nur nie an all die tödlichen Gefahren gedacht? Wie hatte er einen so entscheidenden Punkt nur ausblenden können? Das Meer lockte ihn noch immer so sehr, aber die Angst hielt ihn fest. In Ruhe nachdenken, alle Optionen abwägen und dann entscheiden dafür fehlte ihm die Zeit. Eine solche Gelegenheit zur Flucht würde sich ihm nie mehr bieten, das wusste er. Er rutschte noch ein bisschen weiter zurück, als er in der Ferne etwas am Strand entlanglaufen sah, dass er für eine Katze hielt. Der Käfig, der ihn der Freiheit beraubte, beschütze ihn zuverlässig vor diesen furchtbaren, mordlustigen Kreaturen. Dieser Vorteil war nicht zu unterschätzen, wenn man betrachtete, wie viele von diesen Katzen draußen rumliefen. Er gab ihm Sicherheit und Schutz, außerdem bekam er immer frisches und leckeres Futter. Das würde in Freiheit ganz anders aussehen. Er mochte die Menschen nicht und er fürchtete sich sehr vor den Kindern, aber sie hatten ihm bisher nie etwas Ernstes getan und auch den Hund ärgerten sie nur. Sie waren auf jeden Fall harmloser als das, was draußen jenseits seines Käfigs auf ihn lauern würde. In der Obhut der Menschen musste er nicht hungern, nicht frieren und er wurde nicht nass.
Warum hatte er das nur nie gesehen? Vielleicht fühlte sich der Sand gar nicht so gut an, wie er es sich immer erträumt hatte. Vielleicht erfüllte ein Flug über das Meer ihn gar nicht mit Freude und Glückseligkeit, sondern war einfach nur anstrengend. Und wovon sollte er eigentlich träumen, wenn er seinen Traum lebte?
Es gäbe kein Zurück, wenn sein Sehnsuchtsort zum Alptraum aus Angst, Hunger und Kälte würde. Vielleicht hatte er Freiheit immer zu hoch eingeschätzt. Er hatte doch von seinem Käfig einen wunderbaren Blick auf sein geliebtes Meer und er war in Sicherheit. Aus der Ferne lieben war doch nicht unbedingt schlechter, vielleicht war es nicht unbedingt so intensiv wie die tatsächliche Berührung mit seinem Sehnsuchtsort, aber dafür ohne Enttäuschung? Er hüpfte noch einige Zentimeter weiter nach hinten, sog den Blick auf das Meer durch das offene Fenster auf und atmete die salzige Luft tief ein. Dann flog er zurück in seinen Käfig, setze sich auf seine Lieblingsstange und schaute weiter auf das Meer, so wie er es immer tat.