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Freigeist
Herzhaft gähnend zwängte Brandner sich auf die Rückbank des Wagens und zog die Tür zu. Das Auto rollte gemächlich von der Stelle. Der Fahrer verlor kein Wort – gut so. Brandner war nicht nach einer Unterhaltung zumute. Müde lehnte er sich zurück, schloss die Augen.
„Schlafen können Sie, wenn Sie tot sind“, ertönte es vom Beifahrersitz.
Brandner kannte die Stimme, machte sich aber nicht die Mühe, seine Lider zu heben.
„Was gibt es, Karl?“, brummte er missmutig, „Sie haben hoffentlich einen guten Grund dafür, mich aus dem Bett zu holen – schon wieder.“
Er konnte Münkes spitzbübisches Grinsen förmlich spüren. Wie so oft war er besser informiert, was ihm immer eine kindische Art von Freude bereitete. Brandner seufzte innerlich.
„Natürlich habe ich das“, erwiderte Münke. Die Polster knirschten, als er sich bewegte. „Diesmal ist es sogar besonders pikant. Hier.“
Brandner öffnete die brennenden Augen und blickte auf ein kleines Kästchen aus schwarzem Kunststoff, das Münke ihm mit dem erwarteten Ausdruck im Gesicht entgegenstreckte. Er nahm es in die Hände, klappte es auf. Ein silberner Zahnstocher ruhte in grauem Schaumstoff. Brandner zog ein dünnes Plastikplättchen von seiner Schläfe ab, legte eine kleine Buchse frei. Der Zahnstocher glitt problemlos hinein.
„Willkommen, Kommissar Brandner. Möchten Sie auf das eingelegte Modul zugreifen?“, fragte eine warme, angenehme Stimme in seinem Kopf. Es war Priamos, sein persönlicher virtueller Assistent. Der Gedanke an ein Ja genügte, seine Frage zu beantworten. Augenblicklich wich das Interieur des Wagens einem orangefarbenen Nichts. Das Abbild eines Mannes mittleren Alters erschien, gekleidet in einen knallgelben Overall. Riesige Augen stierten aus hageren, von schütterem Haar gekrönten, Zügen. Daneben flammte in grellweißen Lettern ein Text auf:
GKZ-Order 2098-12-11-B/M
Name: Schneider
Vorname: Emanuel
ID-Nummer: 883-4025-A3
Wohnort: D-34, Sektor A9, Block 4, Zimmer 301
Aufseher-Klassifizierung: Freigeist
Einsatzbefehl:
Das Zielsubjekt ist zu ergreifen, zu verhören und zwecks Bearbeitung der nächsten GKZ-Zweigstelle zu überstellen. Bei Widerstand ist der Einsatz nicht-tödlicher Waffen genehmigt.
Brandner kopierte Bild und Daten in seinen eigenen Speicher, dann wanderte der Zahnstocher wieder in das Kästchen. Das Wageninnere kehrte zurück und mit ihm Münkes noch immer grinsendes Gesicht. Brandner legte die Stirn in Falten.
„Ein Freigeist? Wie ist das möglich? Ich dachte, wir hätten die letzten von denen vor fünf Jahren erwischt.“
„Ich sagte doch, dass es pikant ist.“
Brandner schwieg einen Moment, schaute aus dem Fenster. Er tippte dem Fahrer auf die Schulter.
„Halten Sie da drüben an.“
„Stimmt etwas nicht, Herr Kommissar?“
„Allerdings, sogar eine ganze Menge. Es ist mitten in der Nacht. Ich bin wach. Und ich habe kein Koffein im Blut.“
„Der ist ganz schön hinüber“, stellte Münke fest. In Schneiders Apartment einzudringen war kein Problem gewesen. Zivile Wohnungen waren in etwa so sicher wie ein unbeaufsichtigter Kinderwagen. Wozu hätte es auch spezielle Vorkehrungen geben sollen? Dank der GKZ war die Kriminalitätsrate praktisch nicht vorhanden. Jedes Verbrechen wurde bereits mit dem ersten Gedanken daran unterbunden. Der „Aufseher“ dokumentierte alles gewissenhaft und leitete entsprechende Maßnahmen ein. Dem System war seit seiner Inbetriebnahme nicht ein einziger Fehler unterlaufen. Natürlich hatte es, wie bei jeder größeren gesellschaftlichen Veränderung, misstrauische Widerständler gegeben. Sie hatten sich geweigert, den Kontrollchip in ihre Köpfe einpflanzen zu lassen, damit die Künstliche Intelligenz des "Aufsehers" sie überwachen konnte. Man hatte sie als „Freigeister“ bezeichnet und Jagd auf sie gemacht. Seit fünf Jahren waren die Vorfälle mit ihnen ausgeblieben. Man nahm an, alle von ihnen dingfest gemacht zu haben. Brandner selbst hatte ihren letzten Anführer, Christian Lensig, festgenommen und der GKZ ausgeliefert. Einige Tage später hatte man Lensig tot in seiner Zelle aufgefunden.
„Sein Chip scheint was abbekommen zu haben, vielleicht hat er ihm ja das Gehirn gegrillt“, meinte Brandner, „Dann hätten wir gleich eine Sorge weniger.“ Er leerte seinen Pappbecher in einem Zug und warf ihn achtlos auf einen der Müllberge, die jede Ecke das winzigen Zimmers säumten. Der Chemiegeschmack des synthetischen Kaffees blieb ihm unangenehm auf der Zunge haften. Er gehörte scheinbar zu den Wenigen, die den, der massenmarktkonformen Politik der Lebensmittelindustrie geschuldeten, Qualitätsverlust bedauerten. Er steckte sich eine Zigarette an, blies grüne Rauchwölkchen aus. Wenigstens die Kippen schmeckten noch genauso beschissen wie früher.
Schneider war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Er trug den gleichen Overall wie auf der Abbildung, nur war der jetzt mit rostbraunen Flecken überzogen und an einer Schulter aufgerissen. Schneiders Gesicht war eingefallen, von der hängenden Unterlippe troff rötlicher Speichel. Er saß völlig apathisch auf einem Stuhl, die Augen starr auf den Schnee des Fernsehers vor ihm gerichtet. Ein loses Kabel baumelte an seiner Schläfe und endete in einem schmutzig aussehenden Stecker wie von einem Kopfhörer. Um die Buchse herum traten kleine dunkle Äderchen hervor. Brandner ging vor ihm in die Hocke, schnipste vor den glasigen Augen herum. Keine Reaktion, nicht einmal ein Blinzeln.
„Wenn das ein Freigeist sein soll, haben die sich ganz schön verändert. Der ist ja praktisch hirntot“, spöttelte Münke.
Brandner nickte und wandte sich zum rauschenden Fernseher um. „Ich würde sagen, hier wurde mit einem unautorisierten Datenmodul herumgespielt und das hat seinen Chip lahmgelegt. Gehen Sie runter zum Wagen und verständigen Sie die Zentrale, die sollen ihn abtransportieren.“ Er schaltete das Gerät aus. „Ich schaue, ob ich unseren kleinen Übeltäter finde.“
Nachdem Münke aus der Tür geeilt war, nahm Brandner die Abfallberge genauer in Augenschein, entdeckte aber nichts weiter als leere Kartons diverser Fast-Food-Ketten und verdreckte Pornomagazine. Er befahl Priamos, den Scanner zu aktivieren. Sofort legte sich ein blauer Filter über sein Sichtfeld und Anzeigen erschienen auf seiner Netzhaut. Ein Blick auf Schneiders nun durchleuchteten Körper zeigte ihm, dass der Chip in dessen Kopf tatsächlich beschädigt, aber nicht funktionsuntüchtig war. In dem blauen Gehirn flackerte ein roter Funke wie die Flamme einer Kerze, schwache Impulse in das umliegende Gewebe aussendend. So etwas war ungewöhnlich. Brandner hatte schon mehrere Kurzschlüsse gesehen, aber meistens mit einem Totalausfall und ohne Nervenschaden. Große Teile von Schneiders Gehirn waren dunkel, inaktiv. Selbst das schlechteste Datenmodul konnte so etwas nicht bewirken.
Brandner schaute sich weiter nach irgendetwas um, was ihm verdächtig erschien. Schneider hatte es geschafft, sich hier ein kleines Schmutzimperium zu erschaffen, aber ansonsten war nichts bemerkenswert. Entnervt suchte Brandner nach einem Ort, seine fast am Filter angelangte Zigarette zu entsorgen und fand ihn in einer besudelten Tasse auf dem Fernseher. Plötzlich ertönte ein Piepen in seinem Ohr. Der Scanner hatte etwas erfasst, etwas in dem Apparat. Ein Fadenkreuz markierte die Stelle. Ein Röhrenmodell. Die Dinger wurden seit mehr als fünfzig Jahren nicht mehr hergestellt. Brandner sah eine Box in dem Kasten aufleuchten, ähnlich Schneiders Chip. Er ließ Priamos die Signaturen vergleichen. Sie stimmten überein.
Brandner machte Anstalten, das Gerät zu öffnen, als der Annäherungsalarm klingelte und sich der Scanner automatisch deaktivierte. Er wirbelte herum, konnte dem Schlag aber nicht entgehen. Im nächsten Moment lag er auf dem Boden und Schneider kniete auf ihm, das Kabel an seinem Kopf mit schmutzverkrusteten Fingern umklammernd. Brandner versuchte, sich zu wehren, aber sein Gegenüber war trotz der schmächtigen Erscheinung unglaublich stark. Schneider rammte den Stecker in Brandners Schläfe, durch das Schutzplättchen hindurch. Ein heißer Stich fuhr in seinen Schädel, wütete darin wie ein wildes Tier. Der Schmerz war unbeschreiblich, zog sich in die Unendlichkeit. Weißes Licht explodierte vor seinen Augen.
Er kam wieder zu sich. Noch immer hockte Schneider auf seiner Brust, den starren, geistlosen Blick auf ihn geheftet. Brandner spürte Wärme an seiner Schläfe, die sich langsam über seine Gesichtshälfte breitete. Er stieß den sabbernden, reglosen Mann weg, wischte sich über die Wange. Blut. Sein eigenes Blut. Das verdammte Schwein hatte seinen Netport beschädigt, möglicherweise sogar dauerhaft. Er bat Priamos um eine Analyse.
„Es ist alles in Ordnung, Kommissar Brandner.“
„Was war das eben? Was hat er mit mir gemacht?“
„Gemacht?“
„Hat er irgendwelche Daten übertragen, egal in welche Richtung?“
„Ich verzeichne keine Verbindung zu einem externen System seit dem Einlegen des GKZ-Datenmoduls.“
Der Schaden war offenbar größer als angenommen. Das würde ihm ein paar Stunden in der Wartung einbringen … und ein Gespräch mit der Dienstaufsicht, weil das Sicherheitsprotokoll der GKZ verletzt worden war. Er hätte sich nicht allein mit dem Zielsubjekt in einem Raum aufhalten dürfen. Fluchend rappelte er sich hoch, geriet aber gleich ins Wanken.
„Was ist denn hier passiert? Sie bluten!“ Sichtlich bestürzt kam Münke auf ihn zu. Brandner winkte ab, lehnte sich an die Wand.
„Er ist nicht so hirntot, wie Sie dachten. Der Scheißkerl ist noch ganz schön munter.“ Er sah den Selbstvorwurf in Münkes Gesicht und hätte ihn gern zerstreut, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Überhaupt hatte er gerade Schwierigkeiten, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Jetzt ist er's jedenfalls nicht mehr“, meinte Münke mit einem Blick auf den zusammengesunkenen Schneider. Blut lief aus Nase, Mund und Augen. Er war tot.
Brandner hatte seine ganze Überzeugungskraft aufwenden müssen, um von Münke nach Hause gebracht zu werden. Die oberflächlichen Verletzungen konnte er selbst versorgen und die Wartung der GKZ würde frühestens in vier Stunden besetzt sein. Eine Notfallwartung hatte es mal gegeben, aber Notfälle waren so selten gewesen, dass man sich entschieden hatte, sie aus Kostengründen abzuschaffen. Genug Zeit also, sich ein wenig auszuruhen und eine Erklärung für die Dienstaufsicht zurechtzulegen. Dass er nach so einem Vorfall an seinem Küchentisch saß, verstieß ebenfalls gegen das Protokoll, aber er hatte jetzt ohnehin so viel an den Hacken, dass das nicht mehr sonderlich schwer wog.
Nachdenklich betrachtete Brandner die Tischplatte, folgte mit dem Blick der Maserung. Er hatte das gute Stück vom Sperrmüll gerettet. Er war nicht mehr wirklich schön, stark abgenutzt. Überhaupt waren Holzmöbel eine Seltenheit, in der Regel hatte man welche aus Glas und Metall. Die Überlegung, den Tisch restaurieren zu lassen, hatte Brandner ganz schnell beiseite geschoben. Er mochte ihn so, wie er war, mit all den Kratzern und dem angeknacksten Bein, das notdürftig geleimt worden war, und den Tisch leicht wackeln ließ. Manchmal, wenn Brandner so allein dasaß, fühlte er die Wärme der Menschen, die zuvor an diesem Tisch gemeinsam gegessen und gelebt hatten.
Aber in diesem Moment spürte er nichts. In seinem Inneren herrschte ein unergründlicher Tumult. Mit jeder Sekunde wurde es problematischer, die Gedanken zu ordnen. Alles war ineinander verschlungen, so als würde ein fremder Geist in seinem Kopf fuhrwerken.
„Konzentrationsprobleme, Herr Kommissar?“
Brandner fuhr hoch. Die Stimme hatte in seinem Kopf gesprochen … aber sie gehörte nicht Priamos! Wie war das möglich?
„Warum rauchen Sie nicht eine? Das hilft Ihnen doch sonst immer.“
Er kannte sie … das konnte nicht sein, ganz ausgeschlossen.
„Lensig“, flüsterte er.
„Sie erinnern sich an mich! Ich fühle mich geehrt.“
„Aber … Sie sind …“
„… in der Haft verstorben? Das ist zumindest teilweise wahr.“
Lensigs Lachen durchfuhr Brandners Wirbelsäule.
„Aber ein Ende ist häufig auch ein Anfang.“
Die Umstände von Lensigs Tod hatten nicht aufgeklärt werden können, weswegen man sich irgendwann auf Selbstmord geeinigt hatte.
„Wie … wie … “
„Wie ich in Ihren Kopf komme? Zufall, wenn ich ehrlich bin, aber es hätte kein glücklicherer sein können. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich durch Schneider in einen Ihrer Kollegen und dann in Sie einzuschleusen. Leider habe ich den Guten dabei fast umgebracht und war nahezu handlungsunfähig. Ich würde wahrscheinlich immer noch in seinem Schädel stecken, wenn mir eine glückliche Fügung nicht diesen Moment allein mit Ihnen beschert hätte.“
Die Obduktionsberichte waren von jemandem von oben unzugänglich gemacht worden. Es hatte Ungereimtheiten gegeben.
„Die Technologie ist sehr viel weiter fortgeschritten, als Sie wissen. Sie halten sich und die ganzen Spielereien in Ihrem Körper für die Speerspitze des derzeit Machbaren. Sie und Ihre Kollegen überwachen alles, aber haben Sie sich je gefragt …“
Ein Klopfen an der Wohnungstür.
„… wer Sie überwacht?“
Brandners Muskeln verkrampften, wurden steif. Lensig, wie auch immer er es anstellte, blockierte seine Bewegungen.
„Fünf Jahre habe ich darauf gewartet, fünf lange Jahre.“
Wieder klopfte es, diesmal energischer. Brandner stürzte auf den Küchenboden, noch immer in Krämpfe verfallen. Er spürte, wie ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitt und von jemand anderem übernommen wurde. Ohne es zu wollen, richtete er sich auf, wankte in das angrenzende Zimmer, auf das Wandpaneel mit dem Anschluss zum Neuralnetzwerk zu.
Jetzt warf sich etwas Schweres gegen die Tür.
„Ich habe eine Freiheit erlangt, wie Sie sie nie kennenlernen werden, habe Dinge erfahren, die diese Gesellschaft über Nacht in sich zusammenstürzen lassen werden. Aber zuerst …“
Brandners Hände zogen ein Kabel aus dem Paneel, steckten es in den Netport. Auf dem Flur vor der Tür wurden Befehle gebellt.
„… haben Sie eine ganz persönliche Verabredung mit Ihrem Herrn. Ich habe Ihre Verbindung zum Aufseher bereits in Schneiders Wohnung gekappt. Sie sind jetzt ganz offiziell ein Freigeist. Viel Spaß.“
Dann war er verschwunden, ganz plötzlich.
Die Tür flog aus dem Rahmen, Männer in dunklen Uniformen stürmten herein. Münke war bei Ihnen, einen ungewohnt ernsten Ausdruck in den Augen. Er trug die gleiche Uniform. Auf der Brust prangte eine weiße Neun.
„Ich wusste doch, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt. Tut mir leid, Christopher. Nehmt ihn mit!“
Weiß. Wände, Boden, Decke. Der ganze Raum war weiß. Auch das Tischchen mit dem kleinen Aquarium, das bis auf eine klare Flüssigkeit leer war.
Schritte. Eine Person. Sie schien es eilig zu haben. An der gegenüberliegenden Seite des Raums war eine Tür, die jetzt nach außen aufschwang. Ein Mann in einem schwarzen Kittel kam herein. Sein Gesicht war jung, das dunkle Haar streng nach hinten gekämmt. Blaugraue Augen schauten ruhig über eine schmale Brille hinweg. Volle Lippen. Sie lächelten.
„Willkommen in Abteilung 9, Herr Kommissar. Ich bin Doktor Wolff. Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?“
Brandner wollte den Kopf schütteln, konnte ihn aber nicht bewegen.
„Wo bin ich?“
Dr. Wolff rümpfte seine breite Nase.
„Das sagte ich bereits. Sie sind in Abteilung 9. Hierher kommen all jene Bürger, die sich dem System widersetzen, auf welche Art auch immer.“
„Ich habe mich niemandem widersetzt.“
Dr. Wolff zog eine kleine Plastiktafel aus seinem Kittel und schaute einen Moment konzentriert darauf, wobei er sich am Bart zupfte, der deutlich heller als sein Haar war.
„Ich stimme Ihnen zu, Herr Kommissar. Sie sind durch unglückliche Umstände hier gelandet. Höchst bedauerlich, aber auch unabänderlich.“
„L … Lensig … er …“
Dr. Wolff legte die Tafel auf das Tischchen und fing an, in seinen Taschen zu kramen.
„Ach ja, unser kleiner Störenfried. Der macht jetzt keinen Ärger mehr.“
Er holte einen metallenen Kubus hervor, hielt ihn dicht vor Brandners Gesicht.
„Schauen Sie sich das an. Der gesamte Verstand eines Menschen passt in so ein kleines Ding. Das stimmt einen doch nachdenklich, oder? Was ist der Mensch, wenn man ihn so einfach von seiner organischen Hülle lösen und hier hineinpressen kann? Ich weiß immer noch nicht, wie Lensig unsere Technik für sich selbst nutzen konnte, das ist eigentlich alles Verschlusssache. Zum Glück haben wir ihn abfangen können, bevor er sich ins Netzwerk eingespeist hat.“
„Was haben Sie mit ihm vor?“
„Wem? Lensig? Ganz einfach.“
Der Kubus landete im Aquarium. Es zischte. Qualm stieg auf. Der Kubus wurde dunkel, bröckelte auseinander und war schließlich verschwunden.
„Aber …“
„Lensig ist uninteressant geworden. Menschen wie er sind schädlich für das Allgemeinwohl und müssen aus der Gesellschaft entfernt werden. Ist das grausam? Möglich. Aber mit etwas Glück haben wir das schon bald nicht mehr nötig und Sie, mein guter Herr Kommissar, werden mir dabei sehr behilflich sein.“
Dr. Wolff nahm die Brille ab, legte sie fein säuberlich neben die Tafel auf dem Tisch. Er kam näher an Brandner heran.
„Wissen Sie, Lensig hat mir unbeabsichtigt einen großen Dienst erwiesen. Er hat Sie und diesen armen Teufel Schneider über die Chips in Ihren Köpfen kontrollieren können. Dass ich noch nicht auf diese Idee gekommen bin, ist beschämend. Obwohl wir die Gedankenkontrollzentrale sind, beschäftigen wir uns nur mit der Überwachung derselben. Warum sollten wir uns damit begnügen? Um unsere Aufgabe wirklich sorgfältig zu erfüllen, brauchen wir Kontrolle. Heute ist ein großer Tag, Herr Kommissar.“
Ein Spalt tat sich über Dr. Wolffs Nase auf, der sich stetig verbreiterte. Wie der Deckel einer Taschenuhr sprang seine Augenpartie nach oben und gab zwei Objektive frei, die sich surrend hervorschoben. Die Fingerspitzen an Dr. Wolffs linker Hand klappten auseinander. Glänzende Klingen, Haken und Bohrer suchten sich den Weg ins Freie.
„Willkommen in der Zukunft, Kommissar Brandner.“
Christopher nahm noch einen Schluck Kaffee. Er schmeckte heute ganz besonders ausgezeichnet. Vorsichtig stellte er die Tasse auf den Untersetzer, da er keinen Kratzer auf der Glasplatte des Küchentischs hinterlassen wollte. Gleich würde Karl kommen und ihn zur Arbeit abholen. Er beschloss, unten auf ihn zu warten.
An der Ecke vor Christophers Wohnhaus stand ein alter Holztisch. Seltsam. Der Sperrmüll kam doch erst in zwei Tagen. Vielleicht hatte es jemand besonders eilig, das Ding loszuwerden. Es war nicht mehr wirklich schön, stark abgenutzt. Es war zerkratzt und eines der Beine mehr schlecht als recht angeleimt worden. Christopher schaute das Möbelstück eine Weile an, dann richtete er seinen Blick auf den Asphalt zu seinen Füßen.
Karl war heute ganz schön spät dran.