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Freiflug
Sein brutaler Schlag traf sie mitten ins Gesicht und ließ sie rückwärts taumeln. Fast besinnungslos war sie unfähig sich festzuhalten und stürzte rückwärts über die relativ niedrige Brüstung.
Der Stacheldraht bohrte sich tief in die Finger ihrer rechten Hand und es kostete übermenschliche Überwindung, trotzdem den dünnen Draht umkrallt zu halten. Das Blut lief warm an ihrem Arm hinunter, was sie allerdings kaum spürte. Die Schmerzen der Wunde überlagerten alle anderen Empfindungen. Es war Morgengrauen. Der Blick nach unten ließ sie im Licht der ersten Sonnenstrahlen ihren Wagen erkennen, senkrecht unter ihr, in ca. fünfzig Metern Entfernung. Neunzehntes Stockwerk. Sie hing am äußersten Seil des Stacheldrahtzauns, der dazu gedacht war, von unten kommende Einbrecher abzuhalten. Wozu sollte sie sich noch festhalten und sich quälen? Sie würde sich ohnehin nicht mehr lange halten können. Wozu? Rache. Bei Gott, wenn es Gerechtigkeit gab, dann wollte sie sie jetzt haben. So sollte er nicht davon kommen.
Ihre linke Hand begann sich langsam unter Krämpfen gegen ihren Willen zu öffnen. Sie blickte hoch, wobei sie versuchte den dünnen Film von Schweiß und Blut über ihren Augen durch Kopfschütteln zu beseitigen. Wie in Zeitlupe rutschte der Draht näher an die Fingerspitzen heran. Noch einmal nachfassen, ein kurzer Körperschwung, die Hand war frei und griff erneut zu. Nun bohrten sich die Stachel auch in die Linke, drangen tief in die Mittelhand, rissen zentimeterbreite Löcher, erschwerten aber gleichzeitig das Loslassen. Sie musste die Füße hoch bekommen. Ein letzter Versuch! Danach würde sie sich fallen lassen, der Resignation nachgeben. Im freien Fall würde sie sich endlich frei fühlen können, die Qualen hätten ein Ende. Und er würde es schaffen, würde alle davon überzeugen können, dass sie das Opfer eines Unfalls oder gar eines Selbstmordes geworden sei. Hass. Mit diesem Gedanken mobilisierte sie ihre letzten Reserven, brachte den geschundenen Körper zum Schwingen und versuchte, ihre Beine über den Draht zu bringen. Der rechte Fuß gelangte über den Stacheldraht und mit einem Ruck und dem letzten Schwung zog sie sich auf die Oberseite der Abtrennung. Erneut rissen die Metallspitzen Löcher in den Körper, diesmal nicht in die Hände, sondern in die nackten Beine und den Rücken.
Aber sie hatte es geschafft, lag auf vier Reihen Stacheldraht, knapp einen halben Meter unterhalb der Brüstung des Penthouses. Mike wähnte sie ja schon längst mit zerschmettertem Körper unten auf der Straße und er war sicher schon dabei zu packen und das Appartement entsprechend herzurichten, damit es sich mit seiner Aussage deckte. Es war typisch für dieses egozentrische, arrogante Arschloch, dass er es nicht mal für nötig befunden hatte ihr hinterher zu schauen, als sie von seinem Schlag getrieben über die Brüstung fiel. Das war ihr Glück. Ein Geräusch ließ sie erstarren. Die Terrassentür hatte sich geöffnet. Mike´s Stimme.
„Die ist hinüber. Hab ihr einen Freiflug verpasst. Irgendwo da unten muss sie liegen.“ Sie hörte Schritte, die langsam näher kamen. Aus dem Knirschen der Schuhe auf dem groben Kiesbelag der Terrasse ließen sich sowohl leichte, als auch schwere Schritte heraushören. Es war vorbei! Gleich würde er sie sehen und sein Werk beenden.
Dann, Zentimeter nur von ihr entfernt, schob sich sein Gesicht über die Brüstung. Ohne zu überlegen griff sie zu und erwischte ihn am Kragen. Sie blickte in seine schreckgeweiteten Augen und zog ihn mit einem kräftigen Ruck triumphierend zu sich herab. Der plötzliche Zug ließ ihn das Gleichgewicht verlieren und er stürzte über die Brüstung zu ihr auf den Stacheldraht. Ein Knirschen, die Halterung des Stacheldrahtes war mit dem Gewicht zweier Personen überlastet und löste sich langsam aus der Verankerung. Durch die Schräglage begann Mike von ihr herunter zu rutschten, versuchte, sich an ihr fest zu halten und kippte dann doch über sie hinweg. Aber er fiel nicht. Seine Hand umkrallte schmerzhaft ihr rechtes Bein, den Knöchel, drohte sie mit in die Tiefe zu ziehen. Ein Ruck, die Verankerung hatte sich gelöst, der Stacheldraht sackte durch. Sie fiel. Erneut krallten sich ihre Hände um den Draht, der nun nur von der nächsten Verankerung gehalten wurde. Wieder hing sie nur mit beiden Händen am zerfleischenden Draht, diesmal mit Mike und seinem gesamten Gewicht. Sie blickte nach unten und sah seinen flehenden Blick.
„Moni, halt fest, um Gottes Willen, halt fest.“ Seine Hand griff an ihr Knie, zog seinen Körper Stück für Stück an ihr hoch.
Der Stacheldraht hatte sich tief in alte und neue Wunden ihrer Hände eingegraben. Doch sie empfand nichts mehr. Sie schaute runter, sah auf ihren Mike herab. Sie versuchte gar nicht erst ihn abzuschütteln. Sie spürte seine Panik und lachte, ja, unglaublich, sie lachte.
„Mike, jetzt kriegst DU deinen Freiflug!“ Mit diesen Worten öffnete sie ihre Hände. Sie sog sein Erschrecken in sich auf, genoss die Todesangst in seinen Augen. Sie fühlte sich leicht, schwerelos im Fall, endlich sorgenfrei. Sie stieß sich nochmals von ihm ab, nach oben. Nicht um dem Fall zu entgehen, nein, nur um erst Sekundenbruchteile nach ihm aufzuschlagen. Nur um in dieser kurzen Zeit den Anblick seines zerschmetterten Körpers zu genießen, bevor sie sein Schicksal teilte.