Frei
Leise stand Thea auf. Es war erst kurz nach vier Uhr morgens, aber sie war wach. Sie wusste nicht was, aber irgend etwas sagte ihr, dass es heute soweit war.
Vorsichtig öffnete sie ihre Zimmertür. In der Wohnung war es still, ihre beiden Brüder und ihre Mutter schliefen noch. Nur ab und zu hörte sie das tiefe Atmen ihres älteren Bruders Dustin. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Bad.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, machte sie das Licht an. Thea kniff die Augen zusammen, es war noch zu hell für ihre müden Augen. Nachdem sich ihre Augen einigermaßen an die hellen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, ging sie zum Waschbecken und starrte in den Spiegel, der darüber hing.
War sie das wirklich? Was war nur aus ihr geworden? Ihre einstmals, vor Lebensfreude strahlenden, grünen Augen wirkten matt. Es schien, als sei jegliches Interesse, jegliches Leben aus ihnen gewichen.
Thea seufzte. Und ihre Haare. Dunkelblond, strähnig, ohne Glanz. Als kleines Kind hatte sie strohblondes Haar gehabt, im Sommer war es stets heller, beinahe schon weiß.
Ein leichtes Lächeln umtanzte ihre Mundwinkel, verschwand aber gleich darauf wieder. Ihre Kindheit. Sie erinnerte sich gern zurück. Damals war sie frei, unbeschwert. Und nun? Was war nur geschehen? Müde setzte sich auf den Rand der Badewanne und dachte nach.
Wozu war das alles denn noch gut? Worauf konnte sie eigentlich stolz sein? Sie hatte alles verloren, was sie einst geliebt hatte. Als Kind hatte sie Fußball gespielt, sie war gut, eine der besten ihrer Mannschaft, auch wenn sie stets das einzige Mädchen war. Doch der Erfolg, und damit auch der Spaß am Sport, schwanden, als sie die Mannschaft wechseln musste. Dann hatte sie Gitarre gelernt. Sie lernte schnell, aber mit der Zeit war ihr auch daran der Spaß vergangen.
In Gedanken verloren nahm Thea eines der Legomännchen ihres kleinen Bruders in die Hand. Noel hatte sich angewöhnt in der Badewanne damit zu spielen und es nicht wieder aufgegeben, auch wenn er bereits 13 Jahre alt war. Er wusste noch nichts vom wahren Leben. Er ahnte noch nicht welche Grausamkeiten noch auf ihn warteten.
Thea stand auf und ging wieder zum Spiegel. Sie hasste sich. Und auch wenn sie keinen plausiblen Grund dafür hatte, sie hasste sich abgrundtief.
Langsam hob sie ihre Hand und öffnete die untere Schublade des Hängeschrankes. Es lagen ein paar Seifenstücke, neue Zahnbürsten und weitere kleine Dinge darin. Vorsichtig hob sie ein paar Dinge hoch, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Sie umschloss die Packung Rasierklingen mit ihrer Hand und schob die Schublade zu.
Wieder in ihrem Zimmer setzte sie sich aufs Bett und atmete tief durch. Es gab kein zurück mehr, heute war der Tag aller Tage. Sie nahm ihre Armbanduhr vom Tisch und legte sie sich um. Es waren erst 15 Minuten vergangen.
Thea nahm ihre Klamotten vom Stuhl und zog sich um. Schnell zog sie die Kordel aus ihrem Kapuzenpulli und steckte sie ein.
Ihr Blick fiel auf den Zettel mit seiner Adresse. Das einzige was sie von ihm hatte, die wenigen Emails nicht mitgezählt. Sie schluckte.
Wieder stiegen die Erinnerungen in ihr hoch. Sie hatte ihn auf einem Konzert kennengelernt. Er war Ire, arbeitete für die Band. Kevin, so hieß er, hatte sie eingeladen, die Nacht bei ihm im Hotel zu verbringen, falls sie zu müde zum heimfahren wäre. Da Thea sofort von ihm und seiner Art begeistert gewesen war, hatte sie natürlich zugesagt. Sie hatte sich den ganzen Abend mit ihm unterhalten und bevor sie müde, aber doch ein wenig glücklich, ins Bett gefallen war, war sie sich sicher, dass sie sich in Kevin verliebt hatte. Sie verbrachten noch den nächsten Morgen zusammen. Es war eine schöne Zeit, in der Thea wieder zu lachen begann. Doch viel zu schnell waren die Stunden vergangen, die Band, und damit auch Kevin, musste weiter. Er gab ihr noch seine Adresse, umarmte und küsste sie auf die Wange und dann verschwand er mit der Band im Tourbus. Anfangs hatte Kevin noch regelmäßig geschrieben. Doch dann hatte er Deutschland wieder verlassen, war wieder heimgekehrt, nach Irland und hatte sich kaum noch gemeldet. Thea, die seit der Trennung von ihrem letzten Freund Mark, nicht mehr so intensiv gefühlt hatte, litt sehr unter diesen Umständen. Jeden Tag sah sie mehrmals nach, ob er ihr nicht doch endlich mal wieder eine Email geschickt hatte.
Jetzt, wo sie bereit war, steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche. ‚Er‘ sollte bei ihr sein, wenn es soweit war. Sie sah sich noch einmal um.
Auf ihrem Wäschekorb lag Kevins Weihnachtsgeschenk, sie wollte es nach den Feiertagen abschicken.
Mit feuchten Augen sah sie sich die Bilder an, die an ihren Schränken klebten. Einige wenige Momente, in denen sie unbeschwert lachen konnte, auf Bild festgehalten.
Vorsichtig löste sie ein Bild vom Schrank. Es zeigte sie und ihre beste Freundin Drea. Arm in Arm, auf dem Schulhof.
Die Schule...Thea nickte stumm. Wie hasste sie das Gebäude. Als sie noch kleiner war, war sie gerne hingegangen, sie war Klassenbeste gewesen. Doch dann wurde der Druck stärker, man verlangte stets von ihr weiter oben mitzuspielen. Thea sackte immer mehr ab, war eine Zeitlang nur noch Mittelmaß, bis sie irgendwann nur noch gerade eben über die Runden kam. Das Abitur stand kurz bevor. Es waren nur noch fünf Monate, bis im Mai Prüfungen sein sollten.
Thea nahm ein weiteres Bild ab. Julia und sie waren, nachdem Thea eine Klasse wiederholen musste, gute Freundinnen geworden. Sie liebte Julia auf eine ganz spezielle Art und Weise. Und sie wusste, dass Julia genauso empfand.
Schnell steckte sie die Fotos zu der Adresse in ihre Hosentasche.
„Ein wenig Musik wäre jetzt nicht schlecht.“ sagte sie sich und ging zur Stereoanlage. Sie entschied sich für das Unplugged-Album ihrer Lieblingsband. Schnell programmierte sie die Trackreihenfolge – 2, 5, 7, 9, 11, 12, 14. Sie stellte eine niedrige Lautstärke ein und genoss die Klänge.
Alles schien an diesem Tag so anders. Sie entdeckte Passagen in den Songs, die ihr sonst stets entgangen waren.
Bei Lied 9 musste sie plötzlich an jemand anderes als Kevin denken. Sie hatte ihn sehr gerne, mehr als man einen normalen Freund nun mal gern hatte. Er bedeutete ihr sehr viel und sie dachte oft an ihn. Und obwohl sie nicht an Schicksal glaubte, war sie sich sicher, dass sie ihn kennenlernen sollte. Sie war dazu bestimmt gewesen. Nie zuvor hatte sie jemanden wie ihn getroffen.
Sie hatte ihn über das Internet kennengelernt. Er war ein Jahr jünger als sie und hätte sie sein Alter nicht gewusst, sie hätte schwören können, dass er älter war.
Tom hatte sie schon so oft über ihre Sorgen hinweg getröstet, hatte immer das richtige Wort parat, brachte sie willkürlich zum Lachen. Er war einfach jemand ganz besonderes.
Als sie ihn das erste Mal getroffen hatte, war sie so unsicher wie selten zuvor. Was sagen? Wie sich verhalten? Was er wohl von ihr dachte? Sie trafen sich noch zwei weitere Male, langsam tauten beide auf. Doch er blieb ihr gegenüber immer hochgeschlossen. Wusste er ihre tiefsten Ängste, konnte sie nur erahnen was hinter seiner Fassade wohnte. Irgendwann hatte sie ihm gesagt, dass sie sich nicht mehr sicher war, ob sie Kevin überhaupt noch wollte. Es gäbe jemand anderen, der sich in ihre Gedanken geschlichen hätte. Und es stellte sich heraus, dass auch sie Tom nicht ganz egal war. Alles hätte so einfach sein können, doch das war es ganz und gar nicht. Thea dachte Tag und Nacht über ihre Gefühle für Tom nach. Doch sie fand keine Antwort. Kevin saß zu fest in ihrem Herzen. Nachdem Tom sie noch einmal besucht hatte, wusste Thea was sie wollte. Sie wollte Kevin, und sie wollte Tom nicht verlieren. Er war ihr sehr wichtig, vielleicht war sie wirklich ein wenig in ihn verliebt, doch es reichte noch nicht aus. Sie wollte Tom nicht weh tun, es wäre ihm gegenüber einfach nicht fair gewesen, denn tief in ihrem Innern wusste Thea, dass Kevin ihr Herz nicht freigeben würde.
Es tat ihr alles so leid, sie wollte niemanden weh tun oder enttäuschen, doch was sie auch machte, es nahm nur äußerst selten ein gutes Ende.
Thea setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm sich ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber. Ohne genau zu überlegen was sie eigentlich schreiben wollte, flog ihre Hand über das Blatt. Die Worte flossen einfach so.
Nachdem sie fertig war, steckte sie den Brief in einen Umschlag und schrieb noch etwas darauf.
Seufzend lehnte sie den Umschlag an den Bilderrahmen auf ihren Schreibtisch. Sie betrachtete kurz das Bild darin, schüttelte dann aber den Kopf. Die Zeit war vorbei. Über 9 Jahre hatte sie an dieser Person gehangen, obwohl sie ihn nie gekannt hatte. Er war ein Star, sie war der Fan. Dann kam eine neue Band in ihr Leben, doch er blieb.
Thea stand auf. Sie sah sich um. Der kleine Tigger grinste sie frech an, die Gitarre an der Wand hatte früher einmal ihrer Mutter gehört. Thea liebte ihre Mutter, doch nur selten konnte sie dies auch zeigen. Meist stritten sie nur. Es schien, als hätte ihr Vater vor sechs Jahren bei seinem Auszug nicht nur einige persönliche Dinge sondern auch die Harmonie mitgenommen.
Thea hatte es ihren Eltern nie verziehen, dass sie ihr und besonders Noel jahrelang die heile Welt vorgespielt hatten. Sie war zutiefst enttäuscht, hatte aber nie darüber gesprochen. Man hätte ihr sowieso nicht zugehört. Wie oft hatte ihre Seele um Hilfe geschrien. Unzählige Gedichte hatte Thea verfasst und sie ihrer Mutter immer wieder vorgelesen. Wie oft hatte sie gedroht abzuhauen. Doch nichts geschah. Mittlerweile hatte sich Thea damit abgefunden, dass sie alleine mit ihren Problemen umgehen musste. ‚Traue niemanden‘ war dabei ihr Motto. Sie hatte zu große Angst vor weiteren Enttäuschungen.
Thea ging noch einmal zu ihrem Bett, nahm ihr Stofftier, welches sie, trotz ihres Alters, Nacht für Nacht im Arm hielt, und strich ihm zärtlich übers Fell.
Ein letzter Blick auf ihr Zimmer, dann schloss sie die Tür hinter sich. Sie sah kurz ins Wohnzimmer. Die Geschenke lagen bereits unter dem Baum. Sie bedauerte, dass es ausgerechnet an Heiligabend soweit war. Sie hätte gerne noch einmal in die freudestrahlenden Augen von Noel geblickt. Oder das Lachen Dustins gehört. Dustin...sie liebte ihren älteren Bruder sehr. Eigentlich war er nur ihr Halbbruder, doch das hatte niemals gezählt. Sie dachte kaum daran. Er saß im Rollstuhl, ein Ärztekunstfehler. Thea wusste, dass auch er sie abgöttisch liebte. Wann immer sie ihn um einen Gefallen gebeten hatte, Dustin hatte nie abgelehnt. Er lebte mittlerweile sein eigenes Leben. Arbeitete in einer Werkstatt für Behinderte und lebte in einer betreuten WG. An Wochenenden und Feiertagen war er jedoch Zuhause. Und dann war Thea nicht mehr vor ihm sicher. Wo sie war, Dustin wollte auch dort sein. Und wenn sie nur in ihrem Zimmer saß und Musik hörte, es war ihm egal, Hauptsache er konnte in ihrer Nähe sein.
Thea ging in den Korridor, nahm ihr Jacke vom Haken und zog sie sich über. Leise betrat sie Noels Zimmer, welches er sich mit Dustin teilte, wenn dieser Zuhause war. Die beiden schliefen tief und fest. Thea nickte zufrieden und ging zur Wohnungstür.
Kaum hatte sie diese geöffnet, kam Sammy, ihr Collie, angelaufen. Thea lehnte die Tür an und beugte sich zu ihrem Hund hinunter. Jahrelang hatte er ihr Trost gespendet.
Liebevoll tätschelte sie Sammys Kopf. „Ich hab dich lieb, Dicker.“ flüsterte sie und knuddelte ihn noch einmal.
Mit Tränen in den Augen verließ sie die Wohnung.
Zu Fuß machte sie sich auf den Weg. Sie wusste nicht warum, aber sie wollte zum Kanal gehen.
Die eisige Luft schmerzte in ihren Lungen, doch sie musste weiter. Nach einer knappen Viertelstunde erreichte sie den alten Bunker am Kanal. Erschöpft, und vor Kälte zitternd, setzte sie sich auf den gefrorenen Boden. Sie griff in ihre Hosentasche und nahm die Bilder, den Zettel, die Kordel und die Rasierklingen heraus.
Noch einmal betrachtete sie die Fotos, ehe sie diese in ihre Jackentasche steckte. Den Zettel mit Kevins Adresse wollte sie ganz nah bei sich haben. Thea öffnete ihre Jacke einen Spalt und legte sich den Zettel auf die Stelle, wo ihr Herz war. Dann zog sie den Reißverschluss wieder hoch.
Sie nahm eine Rasierklinge aus dem Tütchen und schob den linken Jackenärmel hoch. Mit der Kordel band sie sich den Arm ab. Die Ader trat leicht hervor. „Jetzt bloß nicht daneben zielen.“ sagte sie zu sich selbst und atmete noch einmal tief durch, bevor sie die Klinge in Ellbogenhöhe ansetzte.
Mit leichtem Druck drang die Klinge in ihre Haut ein. Vorsichtig, aber doch bestimmend zog Thea sie weiter nach unten, bis zum Handgelenk. Das Blut quoll heraus, so als sei es nach jahrelanger Gefangenschaft befreit worden. Es floss und floss.
Thea wurde kraftloser, starrte fasziniert auf ihren Arm und die rote Pfütze. Ihre letzten Gedanken galten ihrer Familie, die sie trotz allem von ganzen Herzen geliebt hatte.
‚Verzeiht mir!‘ stand auf dem Briefumschlag.
Wenn ihr diesen Brief in Händen haltet, werde ich schon nicht mehr sein. Ich wünschte, ich hätte einen anderen Tag dafür gewählt, doch dies war der einzig wahre.
Glaubt mir, ich liebe euch über alles, ich habe euch immer geliebt und ich werde euch auch weiterhin lieben. Wann immer ihr traurig seid, werde ich auf euch herabsehen und euch Trost zusprechen. Wann immer ihr lacht, werde ich mit euch lachen.
Macht euch keine Gedanken um mich, denn nun geht es mir endlich gut. Jetzt bin ich frei, erst jetzt lebe ich wirklich.
Macht euch keine Vorwürfe, niemanden trifft Schuld. Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Dies Leben war nicht das meinige.
Bitte, trauert nicht. Freut euch für mich, dass ich diesen Schritt habe gehen können, dass ich einmal egoistisch genug war, um nur mich allein glücklich zu machen.
Vielleicht denkt ihr ab und zu an mich, erinnert euch an die Zeit mit mir. Und wenn, so bitte ich euch, erinnert euch nicht nur an die schönen Zeiten. Gedenkt auch der schlechten, denn nur beides zusammen ergibt das Leben.
Mum, ich liebe dich. Ich hoffe, das weißt du. Ich war nie wirklich in der Lage es dir zu sagen, doch es ist so. Du warst mir eine gute Mutter und bitte sei dies weiterhin auch für Noel und Dustin.
Noel, trotz aller Schwierigkeiten, die wir täglich hatten, möchte ich, dass du weißt, dass ich sehr stolz auf dich bin. Hör auf dein Herz und lebe! Ich liebe dich, Kleiner!
Dustin, was soll ich dir sagen? Du weißt, dass ich dich sehr liebe. Du bist mir immer Vorbild gewesen. Ich wünschte, ich hätte deine Stärke gehabt.
Dad, die Zeit heilt alle Wunden. Gib nicht auf. Sei du selbst und halte nicht weiter an vergangenen fest.
Bitte sagt Julia und Drea, dass ich sie beide liebe. Ich darf mich wohl recht glücklich schätzen, sie als Freundinnen zu haben.
Eines Tages werden wir uns alle wiedersehen und ich hoffe, dass ihr mich dann verstehen könnt.
In ewiger Liebe,
eure Thea
© 24/12/2000 by Rottie