Frau Kaminski lebt!
Ich habe vor fünf Tagen, Mittwochs, gegen 18.36 Uhr, mit dem Luftgewehr alle Weihnachtsbaumlampen meines Nachbarn zerschossen. Das ist nicht üblich bei uns in der Gegend. Eine gute Gegend. Villen und gepflegte Stadthäuser. Die Villen sind kurz vor dem Krieg erbaut, die Stadthäuser kurz nach der Jahrtausendwende. Mein Nachbar von schräg rechts gegenüber ist Rechtsanwalt Dr. Hennig Kraboff. Wohnt länger hier als ich und deshalb denkt er, der Straßenzug, wahrscheinlich das ganze Viertel, gehöre ihm. Seit seine Frau gestorben ist, ist er ein Arschloch geworden - war er vorher aber auch schon. Monika, seine Frau, war ein herzensguter Mensch. Und wir verstanden uns gut. Sehr gut. Sehr, sehr gut. Das hat Kraboff nicht gefallen. Er war stets misstrauisch. Hat ihm nichts genutzt. Monika hätte niemals solche fürchterlichen Lampen in die Eibe gehängt. Aber sie ist unter der Erde und Kraboff schändet ihren guten Namen mit diesem Lichtmüll. Deshalb habe ich von der Waffe Gebrauch machen müssen.
Das alles wäre es nicht wert zu erzählen, wenn mir nicht ein Missgeschick passiert wäre: als ich die letzten Lampen aus meinem Bodenfenster zwischen Kimme und Korn hatte und abdrückte, schrie plötzlich eine Frauenstimme. Ich sah nach draußen und musste mit ansehen, wie Frau Kaminski auf der Straße zusammenbrach. Mitten unter der Laterne, kurz vor Sieben! Offenbar hatte ich sie erwischt. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ein Querschläger vermutlich. Was kraucht die alte Ziege auch ausgerechnet jetzt und um diese Zeit am Zaun entlang! Das hat sie nun davon.
Helfen konnte ich ihr nicht, ich war viel zu weit weg. Ich hätte vom Dachboden runter laufen müssen. Drei Etagen. Ich bin 82 und Witwer. Schnelle Bewegungen sind in meinem Alter ein Mühsal und zudem gefährlich, die Treppe kann ich nicht mehr gehen, habe aber einen dieser modernen Lifte, die einen ganz langsam nach oben oder unten schweben lassen, jedenfalls wäre ich nicht schnell genug gewesen.
War auch nicht notwendig, denn wie ich so am Fenster stehe und noch über die alte Kaminski fluche, hält doch ein Wagen an und ein junger Mann steigt aus. Er geht mitten durch das Dämmerlicht zur Kaminski, dreht sie behände um, hebt sie mit Schwung ins Auto und braust davon.
Na, das nenne ich schnelle Hilfe! Da kann man nur hoffen, dass man selber so viel Glück hat, wenn man einmal in Not gerät!
Als die Kaminski gerettet war, habe ich die restlichen Lampen zerschossen und bin mit dem Lift in die 2. Etage gefahren. Vor lauter Panik habe ich die Tagesschau angemacht, weil ich dachte, der Schuss auf die Kaminski würde schon gesendet. War nicht so. Es kamen nur die üblichen Nachrichten. Habe noch auf dem Dritten nachgesehen. Auch nichts. Die ermitteln wohl noch, dachte ich. Dann bin ich in den Keller gehetzt, um das Luftgewehr verschwinden zu lassen. Ich habe fast eine halbe Stunde gebraucht, um nach unten zu kommen. Und noch einmal fast zwei Stunden, um das Gewehr in zehn Zentimeter lange Stücke zu teilen. Ich war früher Ingenieur, so dass ich mit Werkzeug und technischem Gerät umgehen kann. Es war im Grunde einfach, den Lauf des Luftgewehrs mit einer Eisensäge, einer Flex und meinem Schweißgerät in kleine Stücke zu portionieren. Freilich habe ich mir eine schlimme Brandverletzung am linken Daumen, am rechten Oberschenkel und, da mir das Scheißgerät kurzzeitig entglitt, am Bauch zugefügt. Die Wunde am Bauch schmerzt am meisten, denn da ist die Haut gespannt.
Alles wegen dieser Ziege, die ihre neugierige Nase in Dinge stecken musste, die sie nichts angehen.
Die kleinen Metallteile lagen noch immer im Keller und ich musste sie loswerden. Habe alles in die Mülltonne geworfen. Nicht in meine eigene, in die von Herrn Rechtsanwalt Dr. Kraboff! Am frühen Morgen danach kam der Müllwagen. Es müsste mit dem Teufel zugehen wenn man mich drankriegen würde!
Die Kaminski hatte mal etwas mit dem Kraboff, da war sich Monika Zeit ihres Lebens sicher. Aber man konnte nie etwas nachweisen. Es geschieht der Ziege nur recht, dass es sie erwischt hat. Die liebe Monika. Immer, wenn ich sie an den Haaren gezogen habe, hat sie gejauchzt: ich bin doch keine Ziehhaarmonika! Was haben wir gelacht, wenn das Arschloch im Büro war. Die gute Monika. Mein Gott, was fehlt sie mir. Fast mehr als Marianne. Die gute Marianne.
Der Kraboff hat die kaputten Lampen zusammengerecht und dabei immer auf mein Haus gestarrt. Ich habe ihn vom Wohnzimmer aus, hinter dem Vorhang, beobachtet. Er hat mit seinen spitzen Augen versucht, den Übeltäter zu finden. Dabei hätte er nur in den Spiegel schauen müssen. Wenn er diese scheußlichen Dinger nicht aufgehängt hätte, könnte die Kaminski in Ruhe ihren Kamillentee aufbrühen.
Die Kaminski jedenfalls hat der Krankentransport zurück gebracht. Ausgestiegen ist sie und hat umhergeäugt und ihren Briefkasten geleert. Sie hat regelrecht interessiert ihre Post geprüft, fast dran geschnüffelt, demonstrativ auf dem Bürgersteig, als hätte sie nicht Zeit genug, die Post in ihrer verfallenen Kate zu lesen. Sie sah munter aus und hat dem jungen Fahrer sogar zugewunken! Diese, diese, alte Ziege! Fällt um wie erschossen und ein paar Tage später macht sie eines auf blühendes Leben. Unfassbar. Aber so war sie immer.
Ich bereue sehr, dass ich mein gutes, altes Luftgewehr zerschnitten habe. Ich könnte von hier aus auch die Kaminski piesacken, gegen die Fensterscheiben oder die ab 18.00 Uhr herunter gelassenen Rollos schießen oder ihre fette Katze abknallen. Noch besser: die Kaminski selbst! Niemand kann für die selbe Tat zweimal bestraft werden und ich habe ja schon auf sie geschossen. Ein Freibrief ist das!
Heute bin ich also zur Kaminski gegangen und habe ihr ein frohes Fest wünschen wollen. Ich hatte einen Stollen vom Lidl gekauft. Sonst ist ja niemand da, mit dem man ein Stück Stollen essen kann. Es wäre fast romantisch gewesen. Sie hätte Kaffee aufgebrüht, die Pyramidenkerzen angezündet, die Pyramide hätte sich nicht gedreht, ich hätte sie repariert, sie hätte bewundert feststellen können, dass ich es noch immer in technischen Dingen drauf habe und danach hätte ich den Butterstollen vom Lidl serviert.
Statt dessen erschien Kraboff an der Tür der Kaminskischen Kate, als ich läutete. Er hat wie ein Generaldirektor gefragt, was ich will und ich habe gesagt: ich will meine Ruhe haben! Dann bin ich wieder gegangen. Aber da sein Haus offenkundig leer stand, habe ich mit einem Stein, der aussah wie ein verkrüppelter Tannenzapfen, seine Speisezimmerscheibe eingeschmissen. Ich hatte Handschuhe an.