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Frau K.
Und wieder habe ich Schicht mit Frau K.
Einerseits freue ich mich darüber. Frau K. ist eine liebenswerte Kollegin, zurückhaltend, fast schüchtern, sehr hilfsbereit und an guten Tagen kann sie sogar witzig sein.
Ihr Äußeres lässt das zunächst nicht vermuten. An ihr ist alles spitz, ihre Nase, die Ellenbogen, die Knie, das Kinn. Sie ist spindeldürr und die aschgrauen, kurzen Haare sehen stumpf und borstig aus.
Andererseits mache ich mir Sorgen. Frau K. knabbert den ganzen nur an einer Schnitte Schwarzbrot, manchmal ist auch ein halber Apfel dabei. Ständig habe ich sie im Auge, sie könnte ja umfallen vor Entkräftung.
Wenn wir Kollegen zum Mittagessen schon mal ein Eisbein verputzen, dann ist sie fast nie dabei oder sie trinkt derweil ein stilles Wasser.
Ihr Mann will keine dicke Frau, hat sie mal erzählt. Darum tut sie alles, damit sie nicht zunimmt. Nur keinen Sport, das will ihr Mann auch nicht.
Frau K. wohnt außerhalb der Stadt. Jeden Tag fährt sie mit dem Zug ca. 1 ½ Stunden zur Arbeit. Ihr Mann braucht das Auto, sagt sie. Obwohl die Arbeitsstelle ihres Mannes nur um die Ecke von ihrem Haus ist.
In letzter Zeit ist Frau K. noch spitzer als sonst. Ihre Töchter, Zwillinge, sind ausgezogen. Sie wären froh endlich weg zu sein, sollen sie ihr gesagt haben. Und Herr K. hat ihr jede Kontaktaufnahme zu den Töchtern strengstens untersagt.
Frau K. fügt sich. „Was soll ich denn machen“, meint sie. Und deshalb mache ich mir auch Sorgen um Frau K. Ich könnte sie direkt fragen, warum sie sich das Diktat ihres Mannes gefallen lässt. Warum sie nicht das tut, was sie möchte. Essen zum Beispiel oder ihre Töchter besuchen.
Aber ich tue es nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob man sich in eine Ehe einmischen sollte. Ich kenne ja auch nur die knappen Details, die sie bereit ist zu erzählen oder die ihr so rausrutschen.
…
Frau K. hat gekündigt. Ganz heimlich und still, wie es ihre Art ist. Wir sind alle total überrascht. Kein Wort hat sie darüber verloren. Gestern war ihr letzter Arbeitstag und keiner wusste was. Traurigkeit macht sich breit, teilweise wird Unverständnis über die Art und Weise ihres Abgangs laut. Ich mache mir wieder Sorgen. Wird sie etwa zu Hause bleiben, bei diesem Mann und ab sofort gar nichts mehr essen und nur noch funktionieren, so wie der Herr es haben will?
…
Zufällig treffe ich beim Einkaufen Frau K. auf der Straße. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Sie sieht toll aus. Wie weichgezeichnet. Sie hat zugenommen, die Haare sind etwas länger, die spitzen Ecken und Kanten sind nicht mehr da und irgendwie strahlt sie von innen heraus.
„Schön dich zu sehen. Du siehst toll aus. Und du warst so schnell weg, wie ist es dir ergangen?“
Frau K. erzählt, dass sie jetzt bei ihren Töchtern wohnt, in einem kleinen Dorf, irgendwo in Mecklenburg. Sie arbeitet halbtags in einem Büro und hat endlich einen Yoga-Kurs belegt, was sie schon immer wollte. Ich freue mich ehrlich für sie.
„Wie ist es dann dazu gekommen?“: frage ich sie.
Ihr Mann ist gestorben, ganz plötzlich.
Und ich höre mich selber irgendwelche Floskeln runterbeten, so etwas wie: es tut mir leid. Mein Beileid. Obwohl ich mir denke, dass ihr das Ableben dieses Mannes offensichtlich gut getan hat.
Es ist nachts passiert. Ihr Mann wacht auf und geht ins Bad. Auch Frau K. wird dadurch wach. Sie sieht, wie ihr Mann ins Bad stolpert und denkt, dass seine Prostata ihm wieder zu schaffen macht, will ihn mit Nachfragen nicht unbedingt reizen und beschließt weiter zu schlafen.
Hat sie mir gerade zugezwinkert?
Einige Stunden später wacht sie wieder auf, erzählt sie. Ihr Mann ist noch immer im Bad. Sie sieht nach ihm und da liegt er. Herzinfarkt, sagte man ihr später.
Wir tauschen noch ein paar Höflichkeiten aus und verabschieden uns.
Und ich werde ein Bild in meinem Kopf nicht los, Frau K. beugt sich im Bad über ihren um Luft ringenden, röchelnden Mann, lächelt ihn an, ganz verhalten, wie es ihre Art ist, geht und telefoniert mit ihren Töchtern.