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Franzl und Stoffel - Das verwunschene Märchenbuch (1)
Das verwunschene Märchenbuch
Franzl war dieses Jahr mit seinen Eltern zu Onkel Ferdinand gefahren. Er lebte seit längerer Zeit als Verwalter auf Burg Steinberg. Er bewohnte hier eine geräumige Wohnung und konnte deshalb Urlaubsgäste unterbringen.
Die ganze Familie hatte sich schon seit Wochen auf diese Ferien gefreut. Dackel Stoffel durfte natürlich auch mit.
Nun saßen alle beisammen vor dem riesigen Kamin, dessen Feuer die große Wohnstube heimelig erwärmte. Das Abendessen hatte vorzüglich geschmeckt. Es gab gebratenes Hühnchen, natürlich mit Pommes, denn Onkel Ferdinand wusste, was Kindern gerne aßen.
„So, Franzl“, unterbrach die Mutter die Erzählungen des Onkels. „Das nächste Märchen hören wir uns dann morgen Abend an. Jetzt geht es erstmal ins Bett.“
„Och, noch nicht“, maulte Franzl, konnte aber ein Gähnen kaum noch verbergen.
„Doch, doch, Morgen ist auch noch ein Tag“, stimmte der Vater der Mutter zu.
Etwas widerstrebend ließ der Junge sich auf sein Zimmer bringen.
Er bewohnte es ganz alleine. Oder fast alleine, denn Dackel Stoffel war den Beiden gefolgt und hatte es sich bereits am Fußende des Bettes gemütlich gemacht.
„Ausnahmsweise darfst du heute bei Franzl schlafen“, sagte die Mutter Augen zwinkernd zu dem Hund. „So, schlaft gut ihr zwei.“ Schnell drückte sie ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Gleich darauf war Franzl eingeschlafen.
Mitten in der Nach wachte Franzl auf. Irgendein Geräusch musste ihn geweckt haben. Lauschend saß er in seinem Bett. Auch Stoffel hatte seinen Kopf gehoben und stellte die Ohren auf. Doch nichts war zu hören.
Franzl wollte sich schon wieder in seine Bettdecke wickeln, als er im Schein des Mondes, der zum Fenster hereinschaute, etwas auf dem Teppich liegen sah.
Schnell schlüpfte der Junge aus dem Bett und schlich vorsichtig zu dem unbekannten Etwas. Sein Herz klopfte laut. Was konnte das sein?
Als er näher kam sah er, dass es ein dickes Buch war, das da auf dem Fußboden unter dem Regal lag. „Das muss heraus gefallen sein, denn es lag doch vorher noch nicht da“, flüsterte er.
Stoffel hatte sich an die Bettkante gewagt und schaute zu seinem Herrchen hinüber.
Dieser bückte sich und hob das Buch auf.
„Seltsame Märchen“ konnte er im Mondlicht entziffern. Nur gut, dass er schon in die dritte Klasse ging, denn so konnte er bereits recht gut lesen.
Inzwischen waren seine Füße eiskalt geworden und Franzl schlüpfte schnell ins Bett zurück.
Dort legte er das Buch auf seine Knie. Stoffel robbte auf der Decke nach oben und schnüffelte an dem rechteckigen Gegenstand. Gleich darauf knurrte der Hund und fletschte die Zähne.
„Stoffel, was hast du denn?“, fragte ihn Franzl etwas beunruhigt. „Das ist doch nur ein altes Märchenbuch. Das tut dir nichts.“
Aber der Dackel knurrte den dunklen Einband weiterhin an und ließ sich nicht beruhigen.
Der Junge zögerte etwas, bevor er den ledernen Buchdeckel aufklappte.
Doch was war das? Vor ihm lag ein ganz normales Märchenbuch. Mit verzierten Buchstaben, die im hellen Mondlicht geheimnisvoll glitzerten, stand geschrieben: „Seltsame Märchen. Eine Geschichtensammlung der Gebrüder Grimmig.“
„Na, siehst du, Stoffel. Es ist wirklich nur ein altes Märchenbuch“, versuchte Franzl seinen Hund erneut zu beruhigen. Doch dieser knurrte immer noch.
Franzl war neugierig und auch mutiger geworden. Daher schlug er die nächste Seite auf. Hier blickten ihm zwei Kinder entgegen, die Hand in Hand durch den Wald liefen.
„Schau Stoffel, das sind Hänsel und Gretel, die von ihren Eltern in den Wald geschickt wurden und dann zum Hexenhaus gekommen sind. Papa hat mir diese Geschichte schon oft erzählt.“
Kaum hatte Franzl den Satz beendet, hatte er das Gefühl, als ob sich die beiden Kinder auf dem Bild bewegten. Auch Stoffel stellten sich die Haare auf und er knurrte noch lauter.
„Ah, endlich werden wir erlöst, Gretel“, ertönte eine Kinderstimme aus dem Buch.
Und schon hüpften die beiden Figuren aus den Buchseiten auf die Bettdecke.
„Ah, tut das gut, wieder frei atmen zu können“, entgegnete der kleine Hänsel. „Schnell, blättere die anderen Seiten auf, damit all die anderen Märchenfiguren auch heraus können.“
Franzl, der das alles nicht begreifen konnte, folgte automatisch der Aufforderung. Innerhalb weniger Minuten war sein ganzes Bett übersät mit Märchenfiguren.
Da saßen Schneewittchen und die sieben Zwerge, Rotkäppchen mit ihrer Großmutter und dem Wolf, der die Zähne zeigte, als er Stoffel sah. Flink schlüpfte Däumeling aus den Buchseiten. Der war so klein, dass man ihn kaum von einer Fliege unterscheiden konnte. Die sieben Raben flatterten im Zimmer umher und Schneeweißchen und Rosenrot hielten sich bei den Händen und genossen ihre Freiheit.
Immer neue Figuren hüpften auf die Bettdecke und alle redeten durcheinander.
Franzl schaute nur mit erstaunten Augen zu. Wie war das alles möglich? Als die Figuren etwas ruhiger wurden und nicht mehr kreuz und quer über das Bett sprangen, wagte Franzl eben diese Frage zu stellen: „Kann mir einer erklären, wie das kommt, dass ihr lebendig geworden seid?“
Sofort verstummte das Stimmengewirr und König Drosselbart, der an seinem roten langen Rauschebart zu erkennen war, beantwortete die Frage. „Ja weißt du, mein Junge, in einer Burg gibt es viele Geheimnisse. Es braucht manchmal nur ein wenig Mondlicht und schon geschehen hier die seltsamsten Dinge.“
Von einem auf den anderen Moment erstarrten die Figuren. Auch Stoffel, der aus Platzmangel neben dem Bett stand, spitzte die Ohren. Aus dem Zimmer nebenan drangen Geräusche. Das laute Durcheinanderreden hatte die Eltern geweckt und einer von ihnen näherte sich der Zwischentür, die die beiden Räume miteinander verband.
„Schnell, das Buch her. Wir müssen sofort verschwinden“, befahl Drosselbart mit gedämpfter Stimme. „Erwachsene dürfen uns nicht sehen, sonst ist der Weg in unsere Geschichten versperrt. So lautet ein ungeschriebenes Gesetz. Obwohl es uns hier draußen sehr gut gefällt, müssen wir wieder zurück, denn ohne uns Figuren gäbe es für die Kinder keine Märchen mehr.“
Franzl hielt ihnen kurzer Hand das Buch entgegen. Blitzschnell verschwanden die Figuren zwischen den Seiten, ohne dass es zu einem Gedrängel kam.
Als sich langsam die Tür öffnete und die Mutter ins Zimmer schaute lag Franzl bereits unter der Decke, Stoffel auf dem Bettvorleger und das dicke Buch sicher verwahrt unter dem Kopfkissen. Beide, Hund und Junge, schienen fest zu schlafen. Etwas erstaunt zog sich die Mutter wieder in ihr Schlafzimmer zurück.
Franzl lag noch eine Weile still und dachte über sein Erlebnis nach.
Plötzlich tauchte in seinen Gedanken die Frage auf: „Waren alle Figuren auch wieder in ihrem eigenen Märchen angekommen? Hatte er nicht beobachtet, wie der Wolf zusammen mit Schneewittchen in derselben Geschichte verschwunden war und der Frosch bei den Sieben Geißlein?
Aber Franzl konnte es heute Nacht nicht mehr überprüfen, da sich der Mond hinter einer dicken Wolke versteckt hatte.
Ob es allen Figuren gelungen war, wieder in die richtige Geschichte zu gelangen, erfahrt ihr daher in der nächsten Geschichte von Franzl, Stoffel und dem seltsamen Märchenbuch.