Franzl und Stoffel -Abenteuer im Märchenland (3)
Abenteuer im Märchenland
Franzls Geduld wurde sehr auf die Probe gestellt. Die nächsten drei Tage regnete es in Strömen. Und das bedeutete, dass abends der Himmel bedeckt war und kein Mondlicht durch die dicke Wolkenschicht drang.
Und Mondlicht brauchte Franzl, denn sonst ließ sich das geheimnisvolle Märchenbuch nicht öffnen, das immer noch im Regal in seinem Schlafzimmer auf der Burg Steinberg stand. Hier verbrachte er seit einigen Tagen mit seinen Eltern die Ferien. Sein Onkel Ferdinand, der Verwalter auf der Burg war, hatte sie eingeladen.
Gleich in der ersten Nacht war ein altes verstaubtes Märchenbuch auf den Boden gefallen und hatte Franzl aus dem Schlaf geschreckt, der sich mit seinem Hund Stoffel ein Zimmer teilte.
Danach war nichts mehr so, wie es sein sollte. Durch das Mondlicht angestrahlt, wurden die Figuren aus den Märchen lebendig und sprangen auf Franzls Bett herum. Doch sobald der Mond hinter einer Wolke zu verschwinden drohte, mussten sie rasch wieder ins Buch zurück.
König Drosselbart wollte es Franzl und Stoffel beim nächsten Mondschein ermöglichen, einmal das Märchenland von innen zu erleben. Der Junge hatte sich schon für eine Geschichte entschieden, die er miterleben wollte.
Aber der verflixte Mond wollte einfach nicht scheinen. Jeden Abend legte der Junge das alte Buch auf sein Bett und stand dann lange Zeit am Fenster und schaute mit seinem Hund zusammen in den Wolkenhimmel. Aber durch Blicke ließ sich das Mondlicht nicht herauszaubern.
Da hieß es nur Geduld und nochmals Geduld haben.
Am vierten Abend wurde seine Ausdauer belohnt. Den ganzen Tag lachte die Sonne vom Himmel und kein noch so kleines Wölkchen war zu sehen. Die Laune des Jungen wurde von Stunde zu Stunde besser.
„Heute wird es klappen“, flüsterte er Stoffel zu, nachdem sie einen langen Spaziergang unternommen hatten.
Und der Wetterbericht hielt, was er versprach. Als es dunkel wurde stand der Mond schon am Himmel und schaute etwas schief nach unten. Er war bereits in seine abnehmende Phase gelangt und zeigte nur noch dreiviertel seinen Volumens. Aber das sollte nicht weiter stören, wie sich zeigte.
Noch wenige Minuten und ein Lichtstrahl drang durch das Fenster und fiel auf das alte Märchenbuch, das Franzl schon bereitgelegt hatte.
Schnell öffnete er es und suchte die Geschichte von Drosselbart. Dieser war ausnahmsweise in seinem eigenen Märchen zu finden.
Als er Franzl sah hüpfte er aus der Buchseite und landete auf der Bettdecke.
„Hallo Franzl“, begrüßte er den Jungen. „Was willst du heute unternehmen?“
„Du hast mir doch versprochen, mich in eines der Märchen mitzunehmen. Gilt das noch?“, fragte Franzl.
„Natürlich“, gab Drosselbart zur Antwort. „In welche Geschichte möchtest du denn gerne?“
„Ich dachte mir, vielleicht kann ich die Rosenhecke um Dornröschens Schloss eher bezwingen als die sieben Zwerge es bei unserem letzten Abenteuer taten“, schlug Franzl vor. „Sie haben sich ja nur an den Dornen gestochen und wurden von ihnen zerkratzt.“
„Gut. Einverstanden“, sagte der König und schlug die Seiten des besagten Märchens auf. „Dann komm mit.“
Franzl überlegte kurz, und eilte dann zu einem Schrank, wo er die zweite Schublade aufzog.
„Beeil dich, Junge“, drängelte Drosselbart. „Der Mond scheint nicht ewig ins Zimmer. Und ist er um die Ecke verschwunden, dann musst du so lange im Buch bleiben, bis dich im nächsten Jahr ein anderes Kind daraus erlöst.“
„Wieso im nächsten Jahr“, fragte Franzl erstaunt, während er eine kleine Heckenschere und feste Gartenhandschuhe aus der Schublade zog.
„Ganz einfach. Der Zauber in diesem Buch wirkt nur eine Woche lang in der Zeit um die Sonnwende, also um den 22./23.Juni. Danach erlischt er wieder und erhält erst im nächsten Jahr um dieselbe Zeit seine Wirkung zurück. Allerdings nur bei Mondlicht. Ist der Himmel bedeckt, fällt der Zauber ein Jahr lang aus. Also spute dich, denn heute ist die letzte Gelegenheit für einen Besuch im Märchenland. Morgen endet die Kraft des Mondzaubers.“
Schnell lief Franzl mit Handschuhen und Schere bewaffnet zum Bett zurück.
„Gib mir deine Hand“, forderte der König ihn auf. „Ich führe dich nun ins Märchenland.“
„Stoffel muss auch mit“, rief Franzl und packte den Hund am Halsband. Genau im richtigen Augenblick, denn beim nächsten Atemzug standen alle Drei bereits vor dem Dornröschenschloss.
„Wie ist das jetzt so schnell gegangen? Wie hast du das gemacht?“, fragte der Junge Drosselbart.
Dieser schmunzelte und sagte: „Das ist das Geheimnis der Zauberwelt und es darf kein Erdenmensch davon erfahren, denn sonst verliert sich die Zauberkraft.“
Franzl fragte nicht weiter, sondern schaute sich verzückt um. Das vor ihm liegende Schloss war riesig und über und über mit rosa blühenden Rosenhecken überzogen. Als die Drei sich dem Gebäude näherten, konnten sie die großen spitzen Dornen schon von weitem sehen. Kein Wunder, dass die kleinen Zwerge keine Chance hatten zu Dornröschen vorzudringen.
„Aber ich habe vorgesorgt“, sagte Franzl laut. Stoffel und der König sahen ihn von der Seite an. „Was meint ihr, warum ich mir Handschuhe und Rosenschere aus dem Gartenhäuschen meines Onkels geklaut habe?“ Der Junge machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Damit ich die Dornenhecke abschneiden kann.“
Schon trat er an das dichte Dornengestrüpp heran und setzte die Schere an. Mit den behandschuhten Händen griff er nach den abgeschnittenen Stielen und zog sie heraus. Stolz auf sein Werk legte er den stacheligen Abfall ins Gras.
Doch was war das?
Gerade noch war ein kleines Loch in der Hecke gewesen. Aber als sich Franzl wieder ans Werk machen wollte, um den nächsten Ast herauszuschneiden, war es schon wieder zugewachsen.
„Das gibt es doch nicht“, schimpfte der Junge und schnitt nochmals eine Lücke in das Rosengeflecht. Doch kaum hatte er die Äste auf die Seite gelegt, hatte sich die Hecke bereits wieder geschlossen und zwar noch dichter als zuvor.
„Da kommen wir nie in das Schloss“, jammerte Franzl und war den Tränen nahe.
„Potzblitz, das kann nicht sein!“, brummte Drosselbart, schnappte sich die Schere und schnitt ebenfalls in den Dornenstrauch. Franzl, der ja Handschuhe besaß, zog die Ästchen heraus und beobachtete, was geschah. Doch dieses Mal schloss sich die Hecke nicht wieder. Die Drei hatten sogar den Eindruck, als wichen die Dornenzweige von selbst zurück. Mit einer Leichtigkeit konnten sie sie nun auf die Seite biegen und erreichten in kurzer Zeit das Tor des Schlosses.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Franzl, als sie ungehindert in den Schlosshof traten. „Zuerst wächst die Hecke so schnell, dass ich Angst bekam, sie wolle uns auch noch überwuchern, und dann können wir sie einfach wegdrücken.“
Drosselbart zwirbelte nachdenklich seinen roten Bart. Plötzlich leuchteten seine Augen auf und er rief: „Natürlich, dass ich nicht schon längst darauf gekommen bin. In dem Moment, als ich die Schere angesetzt habe, in diesem Augenblick waren die hundert Jahre des Schlafes zu Ende.“
Franzl schaute den König fragend an, bis dieser erklärte: „Du weißt doch, wie das Märchen verläuft. Die dreizehnte weise Frau, die aus Platzmangel bei der Taufe von Dornröschen nicht eingeladen wurde, wünschte ihr, dass sie mit fünfzehn Jahren tot umfallen solle, wenn sie sich an einer Spindel sticht. Dies konnte aber die zwölfte weise Frau, die ihre Segenswünsche noch nicht ausgesprochen hatte, mildern, indem sie den Tod in einen hundertjährigen Schlaf abänderte. Und diese Zeit ist mit dem heutigen Tag abgelaufen.“
„Jetzt müssen wir nur noch Dornröschen finden“, rief Franzl dazwischen und rannte in das Schloss hinein.
Hier erwachten die Menschen langsam aus ihrem Schlaf. Doch wo war Dornröschen? Auch da konnte Drosselbart wieder helfen.
„Franzl, du musst in den Turm hinaufsteigen. Dort ist die Spinnstube untergebracht.“
Kaum hatte es der König ausgesprochen, lief Franzl los. Stoffel, der ihm durch das ganze Schloss gefolgt war, blieb müde im Hof zurück, wo er sich zu drei anderen Hunden gesellte, die gerade aus tiefem Schlaf erwachten.
Als Franzl vor der Tür des Turmzimmers angekommen war, hörte er Stimmen aus dem Raum. Außer Atem öffnete er die Holztür und sah gerade noch, wie sich ein junger Mann in fescher Kleidung über ein junges Mädchen beugte, das gerade aufzuwachen schien.
Verdutzt blieb Franzl stehen. Während er mit Drosselbart und Stoffel durch die Räume im Schloss gelaufen war, kam der junge Prinz nach ihnen auf dem Schlossgelände an und ging schnurstracks zu dem Turmzimmer.
„Pech gehabt“, flüsterte Drosselbart hinter dem Jungen. „Da war einer schneller als du.“ Dabei grinste er in seinen Bart hinein.
„Macht nichts. Ich bin für so etwas wohl eh noch zu jung“, stellte Franzl fest und schluckte seine Enttäuschung hinunter. Leise, ohne dass die Beiden im Turmzimmer sie bemerkten, schloss der Junge die Tür und kehrt mit Drosselbart in den Schlosshof zurück.
Dort wurden er von Stoffel und den drei anderen Hunden freudig begrüßt. Die Wachhunde waren übrigens die einzigen, die die Eindringlinge in die Dornröschengeschichte überhaupt bemerkten.
Bevor die anderen Schlossbewohner richtig wach wurden, drängte König Drosselbart zur Eile.
„Los, beeil dich, Franzl“, rief er, „wir müssen schnellstens aus dem Märchenbuch. Der Mond wird bald nicht mehr ins Zimmer schienen.“ Mit diesen Worten packte er den Jungen am Arm und ….ruck zuck waren sie wieder in Franzls Schlafzimmer angelangt.
Suchend schaute sich Franzl um. „Wo ist Stoffel? Hast du ihn nicht mitgenommen?“, rief er Drosselbart zu.
Dieser sah ängstlich zum Fenster. „Der Mond ist gleich weg. Ich will trotzdem versuchen, ihn zu finden.“
Und mit einem Satz war der König wieder im Buch verschwunden.
Es dauerte nur zwei drei Sekunden, als der Schwanz des Hundes aus dem Buch schaute. Franzl griff zu.
Doch in diesem Moment legte sich eine kleine Wolke über den Mond und verdeckte ihn. Der Junge zog und zog, aber der restliche Körper des Tieres blieb zwischen den Seiten stecken.
„Bitte, bitte lieber Mond, scheine noch mal“, flehte Franzl. Als hätte es der Mond gehört, fiel zwischen der Wolke ein kleiner Lichtstrahl hindurch, direkt auf das Märchenbuch.
Schnell ergriff Franzl den Schwanz des Hundes und mit einem „Schwupp“ war Stoffel aus dem Buch befreit.
Kaum saßen die Beiden erschöpft auf dem Bett, als der Mond hinter dem Fensterrahmen verschwand und das Zimmer ins Dämmerlicht eintauchte.
Dieses war wohl das letzte Abenteuer, das Franzl und Stoffel mit dem Märchenbuch erlebten, denn Onkel Ferdinand musste aus gesundheitlichen Gründen den Verwalterposten auf der Burg aufgeben.
Ob das Märchenbuch von anderen Kindern im Regal entdeckt wurde, hat Franzl nie erfahren.