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Franzi und Franz
Frierend schlüpft sie aus dem warmen, weichen Bett und wickelt sich in ihren Bademantel.
Der Wind rüttelt an den Fenstern und dichtes Schneetreiben verhindert die Sicht. Bei dem Wetter jagt man nicht einmal einen Hund vor die Tür, Andrea schüttelt den Kopf und verflucht die Idee, an ihrem freien Sonntag ehrenamtlich tätig zu sein.
„Aus Liebe zum Menschen“ Christian grinst über den Küchentisch hinweg und stellt eine heiße Tasse Kaffee auf Andreas Platz.
Seit mittlerweile fünfzehn Jahren ist er nun schon als freiwilliger Rettungssanitäter beim Roten Kreuz. Vor zirka zehn Jahren kam Andrea dazu und es hat sofort gefunkt zwischen den Beiden. Wenn man sie heute fragt, wie sie sich kennengelernt haben, antwortet Andrea schlagfertig: „ ich hab mir den Christian beim Roten Kreuz eingetreten“, was angesichts seiner Größe von einem Meter neunzig zu allgemeiner Belustigung führt.
„Mal sehen, was der heutige Tag bringt“, murmelt Christian, mehr zu sich selbst.
Vor Dienstbeginn muss das Rettungsauto kontrolliert werden. Die Geräte werden überprüft und das Material wird bei Bedarf nachgefüllt. Für die beiden erfahrenen Sanitäter Routine, nach all den Jahren.
„Wir sind einsatzbereit“, sagt Christian.
„Heute ist es selbst den Patienten zu kalt“, scherzt ein Kollege im Aufenthaltsraum „ich glaube, heute haben wir nicht viel zu tun.“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, antwortet Christian und macht es sich auf der Couch bequem. Der Vormittag zieht sich dahin und Müdigkeit macht sich bemerkbar. Gerade als Andrea die Augen zuzufallen drohen, schlägt der Pager an. „Sturz im Altenheim, Kopfverletzung.“
Na dann los!
Die alte Dame sitzt im Badezimmer am Boden, den Kopf in ein fliederfarbenes Handtuch gewickelt. Sie trägt ein geblümtes Nachthemd, durch das man den gekrümmten Rücken erkennen kann. Die kleinen Pantoffel sind von den nackten Füßen gerutscht.
„Was genau ist passiert?“, fragt Andrea, während sie die Platzwunde versorgt. „Ich wollte zur Toilette, dabei bin ich gestolpert und hab mir die Stirn an den Fliesen angeschlagen“, erzählt die geschockte Frau.
Nach einer kurzen Untersuchung steht fest, keine weiteren Verletzungen. „Glück im Unglück, so ein Sturz mit knapp 93 Jahren kann übel ausgehen“, geht es Andrea durch den Kopf.
„Die Wunde muss genäht werden, wir bringen sie ins Krankenhaus“, informiert sie die rüstige Rentnerin.
„ Wie ich aussehe, so kann ich doch nicht wegfahren“, schimpft sie „ ich bin nicht angezogen und meine Zähne brauch ich auch noch!“ Christian und Andrea werfen sich lächelnd einen Blick zu. „Die Prothese bring ich Ihnen gleich noch“, beruhigt die Pflegerin die fast mädchenhaft wirkende, zarte Frau. Der viel zu große Schlafmantel, den sie ihr um die Schultern legt, lässt sie noch zerbrechlicher erscheinen. Das Leben hat tiefe Falten in ihr blasses Gesicht gezeichnet.
Sie fährt mit der Hand durch die frisch gefärbten Locken, die sich durch den Kopfverband drängen. „Meine Frisur ist auch kaputt“, beschwert sie sich, wobei ihre leuchtend blauen Augen schelmisch blitzen.
„ Was ist denn da los?“, neugierig steckt eine andere Heimbewohnerin den Kopf zur Badezimmertür herein.
„Kommen sie Frau Greti, lassen wir die Sanitäter ihre Arbeit machen“, sanft nimmt die junge Pflegerin den Arm der aufgeregten Bewohnerin und manövriert sie geschickt aus dem Zimmer.
Warm eingepackt in eine Decke, schiebt Christian die Patientin zum Krankenwagen. Im Gang riecht es bereits verlockend gut, das Mittagessen wird den alten Menschen serviert, die in kleinen Gruppen an den Tischen sitzen. Ein festlich geschmückter Christbaum glänzt im Speiseraum und niedliche Renntiere aus Holz schmücken die Fenster. Es ist kurz nach Weihnachten „zwischen den Jahren“ wie man hier sagt.
„Jetzt verpassen sie auch noch das Mittagessen“, beginnt Andrea das Gespräch, nachdem der Rettungswagen losrollt.
„Ach, das macht mir gar nichts“, die alte Frau wird plötzlich wehmütig. „Wissen sie, ich brauche nur wenig zu Essen“, erzählt sie Andrea. Das Schneetreiben ist mittlerweile so stark, das man kaum die Straße erkennen kann.
Die alte Dame scheint unter der blauen Decke zu verschwinden, sie zupft am Gürtel von ihrem Schlafmantel. Wie verletzlich sie plötzlich wirkt.
„Früher, da hatten wir nicht viel. Die Nachkriegszeit war schwierig, es herrschte große Armut. Lebensmittel waren rationiert, trotzdem ist es ist mir immer gelungen ein Mittagessen auf den Tisch zu bringen. Leider war selten genug für uns alle da, aber ich habe es geschafft, meinen Mann und die Kinder sattzubekommen. Ich habe mich nie zu ihnen an den Tisch gesetzt“, berichtet sie weiter.
„Und du…. Isst du nichts, hat Franz mich jedes Mal gefragt. Ich hab schon gegessen, lasst es euch schmecken! Oft hat er mich dann aus seinen warmen, braunen Augen fragend angeschaut, kurz innegehalten und weiter seine Suppe gelöffelt.“
Sie hebt den Kopf und schaut Andrea in die Augen. „Franz hat so schwer gearbeitet, der brauchte eine ordentliche Mahlzeit und die Kinder sollten auch genug bekommen. Ich habe gehungert ….“
Die alte Frau richtet sich auf und Andrea spürt eine Stärke, die sie diesem zarten Wesen nicht zugetraut hätte.
Eine Gänsehaut kriecht Andrea über den Rücken. Gestern Abend, fällt ihr ein, sind die Reste vom Abendessen gedankenlos im Mülleimer verschwunden. Mit dem Handrücken wischt sie sich über die Augen.
„Ich heiße Franziska“, ein Lächeln umspielt die Lippen der alten Dame „sagen sie doch einfach Franzi zu mir. Ja, ja früher….!“ Ihr Blick schweift in die Ferne. „Franz und Franzi! Wir hatten eine gute Ehe, der Franz war ein liebevoller Vater. Er war so stolz auf unsere beiden Mädchen.“
Christian fährt im Schritttempo, vor ihm rutscht ein Auto beim Versuch zu bremsen. „Wir sind kurz vorm Krankenhaus“, unterbricht er das Gespräch der beiden Damen. Verwundert blickt die Frau auf. „Schade, jetzt haben wir uns grad so gut unterhalten.“ Die Verletzung war vergessen, Franzi genoss die Fahrt.
Nach der Anmeldung am Aufnahme Schalter, begleitet Andrea die Patientin noch in den Untersuchungsraum. Ein großgewachsener Arzt mit kurzen, dunklen Haaren und braunen Augen nimmt Franziska in Empfang. Ein Strahlen erhellt das runzelige Gesicht der alten Frau, sie beugt sich vor und flüstert Andrea ins Ohr: „ so ein fescher Kerl, fast wie mein Franz in jungen Jahren!“
Mit einem warmen Gefühl verlässt Andrea die Notaufnahme.
Gedankenversunken schwingt sie sich auf den Beifahrersitz. „Es geht weiter, wir haben einen neuen Einsatz!“ hört sie Christian sagen. „Verdacht auf Herzinfarkt.“ Die dicken Schneeflocken schlucken das blinkende Blaulicht. Andrea atmet tief durch „ ich bin soweit.“