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Franka und Freya
Ich kam von der Unibibliothek, es war so gegen ein Uhr am Nachmittag. Es war ein heißer, schwüler Tag, das weiß ich noch. Ich öffnete die Tür zu meinem bescheidenen Studentenzimmer, und ich sah es sofort. Das Blinken. Das Blinken der roten Digitalanzeige meines frisch erworbenen Anrufbeantworters. Die Maschine lag auf dem Boden, weißes Plastik auf grauem Linoleum. Jemand hatte mich angerufen. Eine Nachricht hinterlassen. Für mich. Ich bückte mich und drückte auf den Knopf zum Abspielen.
„Hallo Julian, hier ist Franka. Ich will gleich ins Freibad und wollte wissen, ob du vielleicht Lust hast, mitzukommen. Ruf mich doch an, ich bin noch bis ein Uhr hier. Vielleicht bis später, ciao.“
Ich verspürte ein wohliges Kribbeln unter der Haut. Franka. Zweiundzwanzig Jahre alt, dunkelbraunes Haar, ein Gesicht wie Romy Schneider und ein zierlicher, fester Körper. Franka. Ich stellte sie mir im Bikini vor. Dreiecke aus weißem Stoff, zusammengehalten von dünnen, weißen Schnüren. Franka. Ich stellte mir vor, wie sie auf der Wiese lag. Die Hände aufgestützt, ein Bein angewinkelt, mit Sonnenbrille. Ich stellte mir ihren Jadebusen unter dem Stoff vor, die zarten Knospen darunter. Franka. Ich dachte an ihre feine, samtene Haut, die ich einmal wie zufällig berührt und die mich sofort elektrisiert hatte.
Franka.
Als ich versuchte, zurück zu rufen, ging niemand dran. Es war zu spät. Ich war zu spät.
„Das heutige Schönheitsideal ist, vereinfacht formuliert, ein gerader, weißer Strich“, begann Frau Weber. „Dagegen gibt es erst einmal nichts einzuwenden. Die Klarheit, die Strenge, die Ordnung eines weißen Striches...“
Sie machte eine rhetorische Pause und warf einen vielsagenden Blick in die Runde.
„Nun,...wem’s gefällt. Aber sie sind nicht hier, um Striche auf Papier zu bringen. Was mich und sie hoffentlich auch interessiert, das sind die Kurven, die Formen, die Farben, und ja, auch die Brüche. Das Glatte, das Rauhe, das Schroffe, das Runde und das Zusammenspiel, die Komposition dieser unterschiedlichen Texturen. Die Kunst im Allgemeinen und die Aktmalerei im Besonderen finden das Schöne im vermeintlich Hässlichen, das Spannende im vermeintlich Langweiligen. Man sagt, es gäbe nichts Unerotischeres als einen FKK-Strand und meint damit den unverhüllten Körper. Ich aber sage: Jeder Mensch ist schön und wir können diese Schönheit akzentuieren. Wenn wir nur wollen.“
Ich, Johannes und ein anderer, männlicher Kursteilnehmer warfen uns verstohlen ein paar Blicke zu. Nach dieser Einleitung erwarteten wir, überspitzt formuliert, wohl alle einen unförmigen, wenig ansehnlichen Körper, den es abzumalen galt. Stattdessen kam aber eine attraktive Mittvierzigerin in den Raum, mit wallenden, schwarzen Locken, einem sinnlich-fülligen Mund und grün-braunen Augen. Sie hatte ein leicht maskulines Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem ausgeprägten Kinn. Sie trug einen weißen Bademantel aus Seide und ging erhobenen Hauptes mit eleganten Schritten auf das Podest zu. Als sie dort stand, ging Frau Weber auf sie zu und hob die Hände. Das Modell nahm ihren Bademantel ab und reichte ihn Frau Weber. Als unsere Lehrerin zur Seite trat, war es, als ginge ein Raunen durch den Raum. In Wirklichkeit aber sagte keiner einen Ton. Es war ein stilles Raunen.
Das Modell stand vor uns, groß und erhaben. Sie blickte zur Seite und nach oben, ihre Arme hingen herunter. Sie hatte leicht muskulöse, lange Beine, ein relativ breites und sehr rundes Becken, eine schmaler werdende, aber nicht unbedingt schmale Taille. Sie hatte eine gerade Schulter und ihre ganze Haut war hell und pigmentfrei. Eine natürliche Schönheit, wie ich fand. Insgesamt wirkte sie wie eine griechische Göttin, geschaffen dafür, in Stein oder Marmor gemeißelt zu werden. Darüber hinaus hatte sie einen großen, runden Busen, der in der Mitte zwei perfekt geformte, kleine konzentrische Kreise aufwies. Ein formvollendeter, üppiger Busen. Aber, und das war der Grund des stillen Raunens: Es war ein einzelner Busen. Ihr fehlte eine Brust.
Franka war das Ziel meiner Begierde. Wenn ich in die Übersetzungskurse für Spanisch ging, versuchte ich immer, möglichst nah oder direkt neben ihr zu sitzen. Gefühlt trug sie jedes Mal ein neues Outfit und jedes davon beflügelte meine Phantasie. Franka zeigte immer Haut, nie so viel, dass es billig wirkte, doch immer genug, dass es sexy war. Die Farbtöne ihrer Kleidung waren meist gedeckt. Ein beiger oder schwarzer Rock, der etwas über ihren Knien endete, dazu meist ein weißes Top aus gestärktem Leinen, dünne Träger. Gelegentlich blitzte ihre weiße Unterwäsche hervor.
In der ersten Seminarsitzung hatte ich all meinen Mut zusammen genommen und sie gefragt, ob der Platz neben ihr noch frei wäre. Sie hatte lächelnd bejaht und dann waren wir zwanglos ins Gespräch gekommen. Sie roch sehr gut, und ich glaubte, es sei ihr eigener Geruch, kein Parfüm.
Während der Seminarsitzung merkte ich, dass mein Spanisch weit besser war als Ihres. Und sie merkte es ebenso.
„Hey, du kannst ja schon alles“, sagte sie und schaute mich dabei herausfordernd an. Ich errötete leicht, sagte aber nichts.
Am Ende der Seminarsitzung stand sie auf und legte ein weißes Blatt Papier mit einer Nummer auf meinen Platz.
„Ich bin Franka“, sagte sie lässig. „Kannst mich gerne mal anrufen.“
Als ich das Seminar verließ, waren meine Beine wie Pudding. Dass ein so hübsches Mädchen mir von sich aus ihre Nummer gab, das war mir noch nie passiert. Ich fühlte mich wie Casanova, und für den Rest des Tages lief ich über den Campus mit der Überzeugung, jede Frau haben zu können.
Nach der Sitzung ging ich noch mit Johannes etwas trinken. In der Bar bestellten wir uns beide ein Guinness und rauchten Zigarillos. Zunächst sagten wir beide nichts und genossen den Alkohol, den Tabak und die Atmosphäre.
„Eine schöne Frau“, sagte Johannes schließlich.
Ich nickte.
„Wunderschön!“
„Eine glatte 10“, fuhr er fort und sah mich verschmitzt an. „Minus 1, natürlich!“
Schweigen.
„Es gibt doch bestimmt Prothesen aus Silikon, oder so“, bemerkte Johannes schließlich.
Ich erwiderte nichts darauf. Ich fühlte mich seltsam angegriffen durch diesen unbedachten Kommentar. Da war diese wunderschöne Frau und trotzdem dachte Johannes daran, wie man mit dem vermeintlichen Makel umgehen könne. Ich war, im Großen und Ganzen, schlicht irritiert. Ich hatte den Anblick dieser Frau sehr genossen, in ihrem Gesicht, in ihren Augen, hatte ich eine solche weibliche Kraft und Bestimmtheit gesehen, die mir Respekt abnötigten. Sich uns so schutzlos auszuliefern, sich so unseren Blicken auszusetzen und dabei Gefahr zu laufen, auf ein Merkmal reduziert zu werden, das fand ich ungeheuer mutig. Ich war interessiert an dieser Frau, nicht als Hobbymaler, sondern als Mensch und als Mann. Ich erahnte eine spannende, komplizierte Biographie, ein gelebtes Leben, Kämpfe, Siege und ja, auch Niederlagen und Brüche. Aber ich war erfasst vom Anblick dieser Frau, von ihrem schönen, entschlossenen Gesicht, von dieser Energie in ihrem Körper. Und ich träumte davon, sie zu berühren.
„Wie viele Sitzungen haben wir pro Modell?“, fragte ich Johannes.
„Ich glaube drei“, meinte er. „Es war von vier Modellen die Rede und von zwölf Sitzungen, macht drei pro Modell“.
„Hmm“, raunte ich selbstvergessen.
Johannes grinste. Es war, als könne er meine Gedanken lesen.
„Sprich sie doch einfach an, wer weiß. Vielleicht freut sie sich. Sie ist vielleicht schon länger nicht mehr angesprochen worden.“
Wieder missfiel mir der Ton. Wie Johannes insinuierte, dass sie an ‚Wert’ verloren habe, empfand ich als geschmacklos. Aber insgeheim konnte ich mich ähnlicher Gedanken nicht erwehren. Ich war in die Jahre gekommen, ich hatte eine Scheidung hinter mir und zwei erwachsene Kinder, mein Bauch war nicht mehr flach und stramm. Ich sehnte mich nach einer neuen Beziehung, nach einer Frau, doch immer, so schien es mir, sehnte ich mich nach Tauben auf dem Dach. Den Spatz in der Hand verschmähte ich.
Aber diese Frau. Dieser Blick. Dieser Stolz. Ich schwor mir am gleichen Abend, sie beim nächsten Mal anzusprechen.
Franka und ich gingen ins Kino. Memento. Ein genialer Film. Genial, weil er die Geschichte eines Mannes ohne Erinnerung vom Ende her erzählt. Franka saß neben mir und stellte mit fortschreitender Zeit mehr und mehr Fragen. Sie verstand den Film nicht. Ich saß da, gebannt von Geschehnissen auf Zelluloid und war zunehmend genervt von ihren Fragen. Irgendwann gab sie auf und langweilte sich sichtlich. Ich war hin- und hergerissen. Film oder Frau?
„Sollen wir gehen?“, fragte ich schließlich, dreißig Minuten vor Ende des Films.
„Ich dachte schon, du fragst nie“, säuselte sie mir leise ins Ohr.
Wir gingen in eine Bar unweit des Kinos. Es war schon fast Mitternacht, ich bestellte ein Bier, sie einen Aperol Spritz. Wir unterhielten uns oberflächlich. Sie erzählte von ihrem letzten Urlaub, ich von meinem letzten Buch. Fuerteventura und Ars magica von Nereo Riesco. Es kam keine richtige Stimmung auf. Aber Franka machte mir trotzdem schöne Augen. Sie flirtete. Ich ahnte: Es war ihre Standardeinstellung. Aber ich gestand mir die Wahrheit nicht ein. Ich sah ihre vollen Lippen, ihr kastanienbraunes, glänzendes Haar, ihre großen Augen, ihre glatte, schöne und straffe Haut, und das Verlangen nach Berührung brannte in mir.
„Sag mal“, meinte sie schließlich, „wollen wir noch zu mir gehen? Wir könnten noch ein Glas Wein trinken.“
Ich schaute sie an und hatte Mühe, meine Begeisterung zu unterdrücken. In meiner Wahrnehmung war diese Einladung eine klare Offerte. Ich war mir sicher, es würde zumindest auf einen Kuss, vielleicht sogar mehr hinauslaufen.
„Können wir machen“, sagte ich so betont beiläufig wie möglich. „Ich müsste aber vorher nochmal auf Klo.“
„Ich warte draußen auf dich“, sagte sie knapp, zahlte unsere Getränke und hüpfte vom Hocker. Während sie nach draußen ging, verschanzte ich mich auf der kleinen Toilette. Ich prüfte meinen Atem, inspizierte meine Unterwäsche und zog Kondome aus dem Automaten. Dann fühlte ich mich bereit und ging hinaus.
Eine halbe Stunde später kamen wir in ihrer Wohnung an. Sie war geschmackvoll eingerichtet, die Möbel ließen ein finanzkräftiges Elternhaus vermuten. Franka zog im Flur ihre flachen schwarzen Pumps aus und warf ihren Burberry Trenchcoat über einen Stuhl. Erst jetzt, im hellen Licht der Wohnung, sah ich, dass Franka unter dem weißen Spaghetti Top, das sie zum schwarzen Minirock trug, nichts drunter hatte. Ihre kleinen festen Brüste und ihre Nippel zeichneten sich deutlich ab. Ich spürte, wie mein Körper und Geist auf diese Reize reagierten.
Franka schenkte zwei Gläser Wein ein und kam dann zu mir aufs Sofa. Sie setzte sich dicht neben mich und reichte mir das Glas. Bei der Übergabe strich sie mir kurz über den Handrücken. Härchen stellten sich auf, so empfindlich war ich bereits.
Wir tranken schweigend den Wein und ich glaubte, dass sie auf mich wartete. Auf eine Initiative. Aber ich war wie gelähmt. In mir wüteten Restzweifel, die mir weismachen wollten, dass ich die Signale falsch las. Ich genoss die Stimmung und gleichzeitig fand ich nicht den Mut, das Offensichtliche zu tun.
„Boah, ich bin hundemüde“, sagte Franka nach einer gefühlten Ewigkeit.
Ich hatte es verpatzt. Fünfzehn Minuten später stand ich auf der Straße. Ich spürte meinen Atem und dachte an die ungenutzten Kondome.
Bei der zweiten Sitzung war ich sehr nervös. Meine Hände zitterten, ich konnte den Zeichenstift kaum halten. Als Frau Weber hereinkam und uns begrüßte, dachte ich nur: „Jetzt kommt sie gleich, jetzt kommt sie gleich!“. Frau Weber machte keine großen Worte diesmal, sie wollte wohl lediglich herumgehen, die bisherigen Entwürfe begutachten und individuell Tipps geben.
„Sind alle soweit?“, fragte sie schließlich. Ein paar Kursteilnehmer nickten, die meisten schwiegen. Die Tür ging auf, und wie in einem Film wurde das Modell vom Sonnenlicht, welches durch die bodentiefen Fenster des Ateliers hereinfiel, angestrahlt. Leuchtend wie ein Engel ohne Flügel stieg das Modell auf das Podest. Frau Weber ging auf die Frau zu, und das Modell entledigte sich ihres seidenen Bademantels. Die Art, wie die Frau das Textilgewebe von ihren Schultern gleiten ließ, wirkte wie einstudiert. Jede ihrer minimalen Bewegungen war so grazil wie die einer Balletttänzerin. Die Sehnen ihrer Muskeln strafften die Haut darüber. Sie hatte die perfekte Kontrolle über ihren Körper.
Wir begannen zu zeichnen. Die Stille im Atelier war wundervoll. Jeder versuchte so gut es ging, sich aufs Zeichnen zu konzentrieren. Man vernahm vornehmlich das Geräusch von Graphit auf rauem Zeichenpaper. Ab und zu räusperte sich jemand, oder man hörte das Klacken von Frau Webers Stilettos auf dem Stäbchenparkett. Angestrengt hielt ich den Schaft meines Bleistiftes und bemerkte, wie ich bei jedem Blick zu dem Modell verkrampfte. Ich versuchte, mich zu entspannen, aber es gelang mir nicht. Ich wollte, dass unsere Blicke sich begegnen, dass wir uns über die Augen austauschten, ich wollte eine minimale, aber spannende Form der Kommunikation etablieren. Als das Modell mich endlich verhalten anschaute, glaubte ich ein Flackern in ihren Augen zu erkennen. Sie hatte mich wahrgenommen, registriert. Ich zwang mich, den Blick nicht abzuwenden, ich versuchte, ihr etwas mitzuteilen. Aber was genau? Bewunderung? Respekt? Interesse? Liebe? Ich ahnte, dass es mit Blicken nicht getan wäre. Ich musste mutiger werden, wenn ich etwas erreichen wollte.
Eine gute Stunde später hatte ich kaum Fortschritte gemacht. Mit meiner Zeichnung und dem Modell war ich nicht weitergekommen.
Es blieb mir nur noch eine Sitzung.
Franka und ich telefonierten viel und trafen uns auch gelegentlich. Meistens ging es in ihren Anrufen um Unterrichtsinhalte oder Materialien, die sie nicht verstanden hatte. Ich erklärte ihr alles, meine Geduld war grenzenlos. Einmal, an einem Abend vor einer Übersetzungsklausur, rief sie mich ganz verzweifelt an.
„Du musst sofort kommen“, hauchte sie am Telefon. „Ich versteh das mit den Konditionalsätzen überhaupt nicht.“
„No problema“, antwortete ich. „Si tienes tiempo esta tarde, te ayudo.“
„Das wäre super“, antwortete sie. „Ich koch uns auch was.“
Ich fuhr an diesem lauen Spätsommerabend so unbeschwert durch die Straßen der Universitätsstadt, dass man den Frühling in meinen Augen sofort erkannte. Mit meinem Rad fuhr ich Schlangenlinien und pfiff dabei ein Lied. Ich fühlte mich kräftig, männlich und für die Liebe bereit. Ich war gut trainiert, gesund, trug weiße Sneakers, eine kurze, blaue Stoffhose und ein körperbetontes, rotes T-Shirt.
Als sie die Tür aufmachte, war ich mir sogleich sicher, dass der Anruf nur ein Vorwand gewesen war. Sie trug ein enganliegendes, weißes Kleid, dazu rote Pumps. Sie hatte nur ein weißes Höschen drunter, ihr nackter Busen zeichnete sich deutlich unter dem weißen Leinen ab. An beiden Ohren steckten cremefarbene Kunstharzperlen.
„Sorry“, sagte sie, „ich bin grad erst von einer Vernissage zurück gekommen. Komm rein, ich hab uns Nudeln gemacht.“
Ich lief hinter ihr in die Wohnung und sah mir ihre kleinen, runden Pobacken an. Sie trug keinen String, das hätte billig ausgesehen, aber es war trotzdem ein knappes Höschen. Etwas unterhalb ihres knackigen Pos hörte das weiße Kleid auf und gab den Blick auf ihre strammen Oberschenkel und Waden frei. Makellose, junge Beine. Die Muskulatur ihres Rückens war durch das weiße Leinen ihres Kleides gut erkennbar. Man sah, dass sie Sport trieb und auf ihre Ernährung achtete. Wir beide, so dachte ich an jenem Abend, stehen in voller Blüte. So schön und stark wie jetzt werden wir nie wieder sein.
Ich setzte mich an den Tisch und schaute ihr beim Hantieren in der Küche zu. Sie entledigte sich grazil ihrer roten Pumps, nahm barfuß den Kochtopf mit den Nudeln vom Herd und stellte ihn auf den Tisch. Sie schmeckte die Tomatensoße in der Pfanne mit Oregano und Basilikum ab und stellte die Pfanne ebenfalls auf den Tisch. Sie schüttete uns zwei Gläser Rotwein ein und stieß dann mit mir an.
„Auf dich, mein Retter“, sagte sie und ich lachte verlegen.
Wir aßen schweigend und schauten uns schweigend in die Augen. Nach zwanzig Minuten hatten wir aufgegessen. Aber wir waren immer noch hungrig.
„Komm, wir gehen ins Arbeitszimmer“, sagte sie und ich gab nickend mein Einverständnis. Sie ging voran, ich hinterher. Ich merkte den Rotwein und fühlte den Mut in mir aufkeimen. Als sie sich im Arbeitszimmer vor mir mit den Händen an ihrem Schreibtisch abstützte, umfasste mein linke Hand wie selbstverständlich ihre schmale Taille. Ich schmiegte mich an sie, an ihren Rücken, schob mit meiner rechten Hand ihr langes Haar zur Seite und legte meinen Kopf auf ihre Schulter. Ich spürte meinen und ihren feuchtwarmen Atem und knabberte sacht an ihrem Ohrläppchen. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich zu mir um und schaute mich an. In ihren Augen sah ich einen Kampf widerstreitender Emotionen: Lust und Angst, Bereitschaft und Aufgabe, Freude und Sorge.
Ich bewegte mein Gesicht auf ihres zu. Ich schloss die Augen und öffnete sacht meinen Mund. Ich spürte, wie der süße Saft ihrer Lippen meine eigenen berührte. Ich dachte an Morgentau, der von einer Lotusblüte perlt. Mir war wohlig warm und ich drückte meinen Körper noch näher an ihren. Es würde passieren, dessen war ich mir nun sicher.
Doch dann, recht abrupt, drückte sie mich von sich weg. Sie schob ihr Kleid, das hochgerutscht war, wieder nach unten. Sie sah mich fast flehend an.
„Es tut mir leid“, sagte sie. „Aber ich muss das morgen packen, sonst kann ich das Staatsexamen knicken.“
Noch heute empfinde ich meine Reaktion als wahre Heldentat. Ich ließ von ihr ab und übte mit ihr tatsächlich noch die Konditionalsätze. Oder besser gesagt: Ich brachte sie ihr bei. Aber als ich um Mitternacht nach Hause fuhr, wusste ich auch, was ich vor dem Zubettgehen noch tun musste.
„Ich bin übrigens Freya“, sagte sie im Flur.
Ich fühlte mich überrumpelt, stand verdattert da und brachte keinen Ton heraus.
„Mir sind Ihre persönlichen Blicke bei den letzten Sitzungen nicht entgangen. Ist es echtes Interesse oder nur Schaulust wegen, na, sie wissen schon?“
Johannes, der eben noch neben mir gestanden hatte, war einfach weiter gegangen. Das Modell, Freya, und ich standen allein im Flur vor dem Atelier.
Ich gab mir einen Ruck. Ich war schließlich fünfzig Jahre alt, sagte ich mir. Ich hatte auch gelebt, Erfahrungen gesammelt und war kein Schuljunge mehr.
„Ich bin Julian. Und mein Interesse ist genuin“, sagte ich bestimmt. „Echt.“
„Danke, ich weiß, was genuin bedeutet. Gehen wir also was trinken?“
„Sehr gerne.“
Wie selbstverständlich half ich ihr in den Mantel und machte ihr die Tür auf. Wir gingen schweigend hinaus und sie lief zielstrebig voran. Die Atmosphäre war befremdlich, aber nicht unangenehm. Da war eine Spannung, von der ich glaubte, dass ein unachtsames Wort sie zerstören könnte und so sagte ich lieber nichts. Auch Freya schwieg und lief, lächelte und spazierte. Ab und zu warfen wir uns einen Blick zu, wie ein verschworenes Team, das sich schon ewig kannte. Es war, als wüssten wir alles voneinander, dabei wussten wir nur den Vornamen des jeweils anderen. Aber die Tatsache, dass wir ungefähr zur selben Generation gehörten, erzeugte, so glaubte ich, eine innige Verbundenheit. Zu wissen, dass Freya die Wiedervereinigung, Kurt Cobain, den elften September oder die Finanzkrise aus einem ähnlichen Blickwinkel erlebt hatte wie ich, genügte mir um zu denken: Ich bin du und du bist ich.
„Wir sind da“, sagte Freya schließlich und öffnete die Tür zu einer urigen Bar in der Altstadt.
Wir setzten uns in eine schwach beleuchtete Ecke und bestellten zwei Gläser Rotwein. Als die Kellnerin uns zwei Burgunder aus der Côte de Nuits brachte, lächelten wir uns wieder an und prosteten uns zu. Wir nahmen jeder einen Schluck, setzten die Gläser ab und hielten uns daran fest.
„Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn wir uns nicht mir unseren Biographien belasten“, sagte Freya. „Sagen Sie mir lieber, was Sie an mir finden.“
Ich war ein weiteres Mal verblüfft von ihrer Souveränität. Es wirkte so gelassen und doch so bestimmt und sicher, dass ich gar nicht anders konnte, als mich darauf einzulassen.
„Ich war vom ersten Moment fasziniert“, begann ich zögerlich. „Sie schweben. Sie haben einen Gang, der eine ungeheure Leichtigkeit besitzt. Sie haben Beine, die Weiblichkeit ausstrahlen, ein Becken und eine Taille, die so weich ineinander greifen, dass es schmerzt. Ich mag Ihren formschönen Busen und ich bin wie betäubt von Ihrem Gesicht. Diese schwarzen Locken, diese grünbraunen Augen, die mich hypnotisieren und mich meiner Kraft und Konzentration berauben. Ich könnte Sie den ganzen Tag angucken und ich bin froh, dass ich genau das drei Mal tun durfte. Ich schaue Sie an und ich weiß: Ich liebe die Frauen. Ich liebe sie alle.“
Sie lächelte mich an.
„Und ich habe Sie gerne gezeichnet“, fügte ich hinzu.
Sie schwieg. Aber sie strahlte.
Ich hätte Fragen gehabt. Ich hätte darüber sprechen können. Fragen, ob es ein Krebs war. Fragen, ob sie ihre Arbeit als Aktmodell als Mutprobe verstand. Fragen, ob sie Kinder, einen Ehemann oder gar eine Freundin hatte. Aber ich verstand wohl, dass Freya genau das nicht wollte. Ich war eine Zufallsbekanntschaft und ich war an ihr interessiert, dessen war sie sich sicher. Und jedes Gespräch hätte diesen Zauber, der in dieser Bar zwischen uns entstand, zerstören können. Und ich war schlau und auch alt genug, um mich darauf einzulassen.
„Wir gehen zu mir“, sagte sie keine zwanzig Minuten später. Ich nickte, bezahlte die Getränke bei der Kellnerin und half Freya in den Mantel. Als wir vor die Tür traten, war es recht kühl. Instinktiv hob ich meinen Arm und Freya hakte sich bei mir unter. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu ihr. Durch die körperliche Nähe spürte ich ihre weiblichen Rundungen und passte mich ihrem Bewegungsrhythmus an. Irgendwann jedoch blieb ich einfach stehen, drehte mich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Sie ließ es geschehen. Mehr noch, es schien, als freue sie sich über meine Initiative und über unser unausgesprochenes Verständnis. Ein schweigsamer, inniger Kuss. Ihre Lippen waren weich und saftig, ihre Augen wach und durchdringend. Als unser Kuss endete, sahen wir uns an. Sahen zueinander durch.
Wir spazierten weiter, zunächst ohne Berührung. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, dass sie ihre Hand nach mir ausstreckte. Ich ergriff sie und fühlte, wie sich ihre warmen Finger um meinen Handballen schlossen. Diese Berührung elektrisierte mich und ich war verwundert darüber, welche Kraft doch in so einem eigentlich alltäglichen Kontakt steckte. Welche erotisierende Macht die Berührung einer Frau noch über mich hatte.
Irgendwann standen wir vor einem Haus.
„Wollen wir?“, fragte Freya.
„Ja“, sagte ich entschlossen.
Sie holte ihren Schlüssel heraus und öffnete mir die Tür.
Ich ging hinein. Sie folgte mir.
Zwei Wochen nach unserem letzten Treffen und eine Woche nach der Sache mit dem Anrufbeantworter sah ich Franka wieder. Aber sie sah mich nicht.
Ich war in der Uni-Bibliothek und recherchierte etwas zu Cervantes’ La gitanilla. Ich hatte gerade zwei, drei Bücher Sekundärliteratur zum Thema gefunden und mich an einen Tisch in der Nähe der bodentiefen Fenster gesetzt. Von meinem Platz aus konnte man direkt auf die Donau hinunter schauen. Viele Paare gingen dort gerne entlang des Ufers spazieren. Ich weiß nicht, wieso, aber als ich zufällig aus dem Fenster schaute, fielen mir ein junger Mann und eine junge Frau auf, die sich offenbar stritten. Der junge Mann versuchte, die sich von ihm entfernende Frau mit ein paar schnellen Schritten einzuholen. Als er sie erreicht und zum Umdrehen gezwungen hatte, erkannte ich sie trotz der Entfernung sofort: Franka. Sie schaute den jungen Mann wütend an und versuchte, ihm ins Gesicht zu schlagen. Er aber hielt ihre Arme fest und drückte sie an sich. Ein paar umstehende Passanten blieben stehen, offensichtlich in der Annahme, das hier ein Akt der Gewalt bevor stünde. Aber ein paar Sekunden später war die Aggression aus beiden Akteuren entwichen und sie küssten sich plötzlich leidenschaftlich. Die umstehenden Passanten gingen beruhigt weiter und ich lachte kurz und heftig auf. So sehr, dass ich für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit aller sich in der Bibliothek befindlichen Leute auf mich zog. Ich machte eine Geste der Entschuldigung und wandte mich wieder den Büchern zu.
Ich merkte sehr bald, dass ich mich nicht auf die Lektüre würde konzentrieren können. Zu viele Gedanken und Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Wer war der junge Mann? War ich nur benutzt worden? Stritten sie sich wegen mir? Warum hatte sie mir nie von dieser Liaison berichtet?
Als ich mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, machten sich in mir die verschiedensten Empfindungen breit: Wut auf Franka, die mich zum Spielball ihre Liebeleien degradiert hatte, Scham aufgrund meiner Naivität, Hass auf alle Frauen und Neid auf Frankas Freund, der sie berühren, küssen und womöglich mit ihr schlafen durfte. Ich kam zuhause an und spürte einen Knoten in meiner Brust, hervorgerufen durch den Cocktail aus giftigen Gefühlen. In meinem Zimmer schmiss ich mich aufs Bett wie ein pubertierender Jugendlicher und weinte und schrie in mein Kissen. Mein Schmerz hielt eine gute Stunde an. Doch dann folgte, völlig unerwartet, eine Katharsis. Ich saß in meinem kleinen Studentenzimmer auf dem Rand des Bettes und verstand, dass Frauen Gefäße waren. Schlichte, schlechte, schöne, schreckliche Gefäße, mit und ohne Verzierungen, heil oder kaputt, löchrig oder lädiert und dicht oder durchlässig. Das Entscheidende aber war nicht die Hülle, nicht das Gefäß an sich, sondern der Inhalt. Und Franka, so verstand ich nun, war eine der schönsten Vasen, die ich je gesehen hatte. Allein, es war keine Blume darin, nicht einmal Wasser. Franka war eine schöne, leere Vase.
Von da an reagierte ich nicht mehr auf ihre Anrufe. Wenn ich sie im Seminar sah, grüßte ich höflich und setzte mich an einen anderen Platz. Ihre Blicke erwiderte ich nicht und ich glaube, sie verstand. Und ich verstand, dass ich etwas Entscheidendes über Frauen gelernt hatte. Ich hasste Franka nicht, aber ich liebte Franka auch nicht. Ich akzeptierte lediglich ihre und meine Menschlichkeit. Ich wurde angenehm gleichmütig, was meinen Umgang mit Frauen anging. Ich war weniger verbissen und die Frauen, so glaube ich, spürten das.
Ich hatte noch immer meinen Mantel an, als sie aus dem Bad kam. Wir hatten im Flur begonnen, uns zu küssen und waren dann küssend in die Wohnung gegangen. Schritt für Schritt, Kuss um Kuss.
„Zieh dich noch einmal aus für mich“, sagte ich. „Ich möchte dich noch einmal als Modell sehen.“
Wir waren dann in ihr Schlafzimmer gegangen und sie hatte den seidenen Bademantel aus ihrer Tasche geholt und war in ihrem Bad verschwunden. Ich blieb zurück und zwang mich dazu, nicht herum zu stöbern oder mich umzuschauen. Meine Neugier galt ihr und ihrem Körper, nicht ihrer Geschichte oder ihrem Hintergrund.
Als sie aus dem Bad kam, reduzierte das Licht aus dem Badezimmer sie zu einer schwarzen Silhouette. Ich erkannte ihren Körper durch den seidenen Bademantel. Nach und nach gewöhnten meine Augen sich an das Licht, und wo eben nur Schemen erkennbar waren, sah ich jetzt klare Formen und Farben. Freya näherte sich mir langsam, fast zögerlich. Als sie ganz nah bei mir war, nahm ich zuerst ihren Geruch wahr. Ein sanftes Parfum weiblicher Wärme. Ich hob meine Hände hoch, umfasste mit beiden Handflächen ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Dann öffnete ich ihren seidenen Bademantel und ließ ihn von ihren Schultern gleiten. Ihr üppiger, formschöner Busen verlangte nach meiner Hand. Ich hielt diese schöne Rundung mit meiner linken Hand und küsste und sog an ihrem Busen. Dann schaute ich ihr wieder in die Augen, ertastete mit der rechten Hand die flache, leicht vernarbte Stelle daneben, beugte mich hinunter und küsste Freya auch hier. Es tat meiner Erregung keinen Abbruch. Ich hatte Lust auf Freya und diese Lust schien unbezähmbar.
Freya begann daraufhin, meinem Mantel auszuziehen und mich nach und nach meiner Sachen zu entledigen. Im Halbdunkel legte sie Schicht um Schicht frei, bis wir nur noch zwei nackte Körper waren, die sich nach Verbindung sehnten. Freyas feuchter Atem, meine fiebrige Stirn, die Wärme unserer sich berührenden Fingerspitzen regten unsere Geister an. Die Energie unserer Gedanken, die Hitze unserer Körper, nahmen unserer Begegnung ihre Gewöhnlichkeit und machten sie zu einem spirituellen Erlebnis. Dieses Gefühl, durch das Ertasten der Haut des anderen zu einer neuen Erkenntnis zu gelangen, hatte etwas Mystisches. Mit jeder Berührung bekam ich das Gefühl, zu einer neuen Wahrheit zu gelangen. Wir waren Gefäße, randvoll mit Leben, wir schwappten über, und unsere beiden Ströme wuchsen zu einem reißenden Fluss der Leidenschaft heran, der alles mit sich riss, auch und zuallererst den Verstand. Ich dachte nicht mehr nach, ich fühlte nur noch. Ich fühlte eine unmenschliche Begierde und vergrub mich in Freyas Körper wie in einer Höhle. Und Frey bot und gab mir alles: Schutz, Liebe, Lust und Leiden. Und ich nahm es alles in mich auf. Gedankenlos.
Als es zu Ende war, lagen wir völlig erschöpft und glücklich nebeneinander. Gefühlt lagen wir, beseelt vom Sex, über eine Stunde nur so da. Draußen wurde es dunkel und die Tagewerker machten den Nachtschwärmern Platz. Ich vernahm die Geräusche der Stadt wie durch Watte.
„Es wird Zeit, dass du gehst“, sagte Freya schließlich.
„Werden wir uns wiedersehen“, fragte ich, hoffnungsvoll.
Aber eigentlich kannte ich die Antwort.