Was ist neu

Francine Brightons letzter Tag

Mitglied
Beitritt
03.01.2002
Beiträge
45

Francine Brightons letzter Tag

Francine Brightons letzter Tag

Francine Brighton war eine clevere und erfolgreiche Managerin im Versicherungswesen. Ich wiederhole – war – denn für den Fall, dass Francine Brighton einen anderen Lebensweg gewählt hätte, dann wäre ihr Leben nicht auf diese tragische und katastrophale Weise beendet worden. Aber Gottes Schicksal hatte sich für sie nun einmal so entschieden.

Wie an jedem Montag, Dienstag oder Freitag verließ Francine Brighton pünktlich um 7.40 Uhr ihre kleine Stadtwohnung am Fluss. Mittwochs und donnerstags tat sie dies nicht, da ihr Berufsleben ihr eine teilzeitige Heimtätigkeit erlaubte. Die U-Bahn, die an ihrem Block hielt, fuhr direkt in den Geschäftsbezirk. Von dort aus blieben Francine Brighton wenige Fußminuten durch das Foyer und zu den Aufzügen. Ihr zur Südseite gelegenes Büro lag im 72. Stockwerk, die Firma selbst residierte in ganzen drei Etagen, die 72. war die oberste. Francine Brighton nahm einen der Express-Aufzüge, die auf jeder 10. Etage hielten, und nahm die Treppe für den Restweg. Manchmal, bei großem Andrang oder auch häufig auf dem Rückweg, nahm sie notgedrungen einen der Besucherlifts, der in einem der Restaurants über ihrem Büro endete, und fuhr mit einem der kürzeren Aufzüge für die Zwischenebenen wieder herab. Kurz nach acht erreichte Francine Brighton pünktlich wie an jedem Morgen ihr Büro in diesem Haus. Dass dies ihr letzter Arbeitstag gewesen sein sollte, davon ahnte bislang niemand etwas.

Rituell schritt sie auf die Fensterfront zu. Auf dem Weg dorthin legte sie ihr Notebook auf ihren Schreibtisch und betrachtete das selbst für diese Tageszeit emsige Leben auf der Strasse unter ihr. Mit einem prächtigen Blick auf den jungen Morgen knöpfte sie ihren Blazer auf und setzte sich daraufhin an ihren Schreibtisch. Dort nahm sie ihr Notebook aus ihrer Tragetasche und schob es in die Docking-Station, um sich an den Informationsfluss der Versicherungsgesellschaft anzubinden. Erst dann schaltete sie es ein und verließ kurzzeitig ihr Büro, um ihre Assistentin Sheryll um eine Tasse Kaffee schwarz zu bitten. Sheryll, die nichts anderes gewohnt war, außer dem Fall, dass Francine Brighton Besucher hatte, die nicht-schwarzen Kaffee tranken, hatte ihn gewohnterweise bereits aufgesetzt. Sie selbst trank ihn mittlerweile auch schwarz, somit ersparte sie sich Arbeit bei der Zubereitung. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass frischer Kaffeeduft diese Räume durchströmte.

Francine Brighton ging zurück in ihr helles, morgenlichtdurchflutetes Südseitenbüro. Ihr Notebook war in der Zwischenzeit hochgelaufen und synchronisierte ihre E-Mails, Termine und Notizen mit der Firma. Ein von Francine Brighton hoch geschätzter automatischer Ablauf. Sheryll klopfte an und betrat das Zimmer nach einem kurzen Moment ohne auf Francine Brightons Reaktion zu warten. Wortlos stellte sie den Kaffee auf den Arbeitstisch und verließ das Zimmer. Bevor sie die Eichentür hinter sich zuzog steckte sie allerdings noch einmal ihren etwas zu runden Kopf durch und erinnerte Francine Brighton an ihr Essen um zwölf mit Mr. Furbes. Francine Brighton widersprach und erwähnte etwas von einer Diät. Sie sollte ihm gegenüber jedoch Terminprobleme angeben. Sheryll nickte kurz und zog sich in ihr Vorzimmer zurück. Die eingegangenen E-Mails waren nach Dringlichkeit und Absender sortiert worden. Nicht selten kam Francine Brighton erst in den späten Nachmittagsstunden dazu, die unwichtigeren abzuarbeiten, Viele Anfragen, Besprechungstermine und dazugehörige Protokolle, Mitarbeiterinformationen und sonstiger Kleinkram auf den sie zumeist gar nicht mehr reagierte. Auch diesmal nicht wirklich viel Besonderes. Einer der Senior Partner hatte ein paar vorwurfsvolle Fragen aufgrund eines abgesprungenen Großkunden. Ein persönliches Gespräch sei hier wohl besser angebracht, dachte Francine Brighton. Sie erwägte jedoch die Nachmittagsstunden, allzu früh am Morgen konnte sie selbst keinerlei Kritik vertragen. Dieses Gespräch sollte jedoch nie stattfinden.

Es war keine große Firma, verglichen mit den Summen, die sie aufspielten. Wenige gute und äußerst qualifizierte Mitarbeiter erledigten den riskanten Teil der Arbeit, die anderen, Sheryll zum Beispiel, hatten nur behilfliche Tätigkeiten. Sie waren in einem Teil der Versicherungswelt tätig, die nicht direkt als Rückversicherer auftraten, andererseits handelten sie mit vergleichbaren Summen. Durch Francine Brightons eigene Hände sind im Laufe ihrer Karriere sicher unvergleichbar hohe Beträge geflossen, nicht selten kam es vor, dass sie das Haushaltsvermögen eines kleineren Staates aufwiegen könnten. Für sie waren es nur Zahlen, abstrakte Dinge die sie durch eine Unterschrift, einen Mausklick oder einzig durch ein OK am Telefon bewegen konnte. In ihrem Ermessen lag es, ob eine Krise beendet werden konnte, oder ob doch weiterhin Not bestehen musste. Und es war sicher. Krisensicher würde man sagen, denn Krisen gab es in dieser Welt zu jeder Zeit und an jedem Ort. Francine Brighton saugte sich daran fest. Ein kontrolliertes Spiel mit dem berechenbaren Elend.

Ihr Telefon klingelte. Einer ihrer unterstellten Agenten rief sie aus Hongkong an. Francine Brighton überlegte, wie spät es wohl gerade dort sein mochte, aber letztlich riss ihr Gedankenfaden ab. Er vertraute ihr einige Ungereimtheiten aus ihrer dortigen Dependance an. Francine Brighton war nicht wirklich wohl bei der Sache. Ihr schmales und fast unmerklich geliftetes Gesicht zeigte in solchen Situationen kaum Wirkung, aber Ärger am frühen Morgen konnte sie niemals leiden. Sie sprang aus ihrem Sessel auf und schnitt ihrem Gesprächspartner das Wort ab. Er sollte doch auflegen, nachdenken und in sechs Stunden erneut anrufen. Dann drückte sie grußlos die Trenn-Taste ihrer Freisprechanlage. Es waren die letzten Worte, die Francine Brighton in ihrem Leben sprach. Vielleicht wäre ihr Leben anders verlaufen, hätte sie sich nicht nach diesem Job gesehnt. Wenn sie ihre persönlichen Interessen zurückgestellt und nicht den Entschluss gefasst hätte, die kleinere Niederlassung in Chicago zu verlassen. Francine Brightons volljähriger Sohn wollte seine Heimatstadt nicht verlassen, auch die Aussicht an der dortigen University studieren zu dürfen verbesserte nicht seinen Entschluss. Aber Francine Brightons Lebensweg sah vor, dass sie sich an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit in ihrem Büro aufhalten sollte. Und so sah der letzte Moment im Leben der Francine Brighton vor, dass ihr solches hier und jetzt enden sollte.

Francine Brighton saß mit dem Rücken zur Fensterfront. So ging es recht schnell vonstatten, als das Flugzeug mit seinen fast noch voll getankten Tragflächen den Turm durchschlug und die hochtourig laufende Turbine Francine Brightons Körper innerhalb eines Wimpernschlags ansog und in ein Werk aus Knochenmehl und verbrannten Hautpartikeln verwandelte. Und dies bedeutete das Ende des Lebens der Francine Brighton. Für den Fall, dass Francine Brighton nicht augenblicklich dieses Todes gestorben wäre, die das gesamte Bauwerk durchspritzenden Kerosinstrahlen hätten ihre Haut mit Sicherheit qualvoll verätzt und sie langsamer und spürbarer in den Tod getrieben. Und als letzte Gewissheit wäre Francine Brighton durch die erlösende Kerosinhölle in der schachtförmigen Trägermasse des Turms in mehr oder weniger langer Zeit und Qual in das Ewige Reich geholt worden. Und dann wäre das Leben der Francine Brighton auf jeden Fall beendet worden. Hier und jetzt.

© Crashterpiece

---

Ich glaube, das nennt sich dann zynisch, aber mich kotzt das ganze Betroffensein an...

 

Hi crashterpiece.

Mit Deinem letzten Satz hast Du nicht ganz unrecht; auch mich kotzt das bescheuerte Betroffensein echt an. Vor allem; Amerika gegenüber. Ich halte Bush für einen Terroristen und wäre jetzt gerade am liebsten in Berlin, mit demonstrieren... ;)

Deine Geschichte ist sehr gut geschrieben, aber so ab der Hälfte weiß man sicher, auf was Du anspielst und auf was Du hinaus willst. Das ist etwas schade, aber wahrscheinlich nicht zu ändern. Es hat bei mir leider ein bißchen den Lesespaß gemindert.

Interessant wäre doch mal eine Geschichte über die gegenüberliegende Seite... ;)

Gruß,
stephy

[ 22.05.2002, 23:07: Beitrag editiert von: stephy ]

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom